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Pi. Algorithmen, Computer, Arithmetik.

Springer, Heidelberg 1998. 200 Seiten mit CD-ROM, DM 78,–.

Seit dem Standardwerk von Petr Beckmann „The History of Pi“ (St. Martin’s Press, New York 1971) liegt nun erstmalig ein Buch vor, das diese Geschichte fortführt und über die neuen und rasanten Entwicklungen im Computerzeitalter zusammenfassend und verständlich berichtet. Mit der beigefügten CD-ROM kann jeder PC-Benutzer erstaunliche Algorithmen nachspielen. Macht es überhaupt Sinn, die Kreiszahl Pi (þ) immer genauer zu berechnen und die Rekordmarke über die (derzeit) 50 Milliarden Dezimalen hinter dem Komma hinauszutreiben? Das halten zum Beispiel meine Frau und auch viele Mathematiker für ausgemachten Blödsinn. Um den mutmaßlichen Durchmesser unseres Weltalls auf die Distanz eines Atomes genau anzugeben, genügen 38 Stellen hinter dem Komma. So genau kannte man Pi schon im 17. Jahrhundert. Warum also schreiben heute zwei Menschen ein ganzes Buch zu diesem ausgefallenen Thema? Es hat ihnen Spaß gemacht – und wohl auch mehr Arbeit beschert, als sie vorher ahnten. Jörg Arndt hat Physik und Mathematik studiert und ist ein exzellenter Programmierer, Christoph Haenel ist ein pensionierter Software-Spezialist mit exzellenten mathematischen Kenntnissen und großer Sprachgewandtheit. Vom Alter her könnten die Autoren Vater und Sohn sein. Das erste furiose Kapitel „Der Stand der Dinge“ sagt eigentlich schon alles, was wir (Mitte 1997) über Pi wissen, zählt auf, was wir immer noch nicht wissen – und das ist mehr. Es soll heute Verfahren geben, mit denen man beliebige Stellen der berühmten Zahl, zum Beispiel die 250milliardste hinter dem Komma, berechnen kann, ohne die vorhergehenden ermittelt zu haben (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1997, S. 10). Der Appetit auf die Algorithmen zur Berechnung von Pi wird mit einigen ausgewählt schönen Formeln geweckt. Der Untertitel des Buches klärt sich; denn für den heutigen Wissensstand sind drei Punkte wesentlich: Es wurden Hochleistungsalgorithmen für Pi (und andere Zahlen wie e) gefunden, mit denen man bisher unzugängliche Formeln packen konnte. Die Leistung der Computer ist über Jahre angewachsen. Schließlich brachte die Verbesserung der Multiplikation langer Zahlen einen entscheidenden arithmetischen Beitrag. Kapitel 2 lautet „Wie zufällig ist Pi?“ Die Frage, ob Pi „normal“ sei, ist in der Tat mathematisch hochaktuell und gibt den Autoren Anlaß für amüsante Anmerkungen. (Eine Zahl heißt normal, wenn in ihr alle gleich langen Ziffernblöcke mit gleicher Häufigkeit vorkommen.) Im Kapitel 3 „Leichte Wege zu Pi“ werden einfache, aber auch vertrackte Berechnungen der Kreiszahl gezeigt. Endlich folgt das erste kurze Programm für ungeduldige Leser mit PC-Erfahrung. Es ist leider sehr raffiniert. Das ist die einzige Schwäche des Werkes: Welcher Leser ist schon so gut in der Programmiersprache C++ wie die Autoren? Im Kapitel findet der Spektrum-Leser auch die Konstruktion mit pythagoräischen Dreiecken wieder, die Franz Gnädinger aus Zürich den alten Ägyptern zuordnet (vgl. den zitierten Spektrum-Artikel). Kapitel 4 gibt einen Nachhilfekursus über „Näherungen für Pi und Kettenbrüche“. Letztere werden in der Schul- und Hochschulmathematik häufig unterschlagen, sind aber zum Verständnis von großem Vorteil. Kapitel 5 behandelt die Arcustangens-Reihen, die bis Mitte dieses Jahrhunderts für die erfolgreichsten Berechnungen verwendet wurden. Auf der CD-ROM gibt es ein Programm, um solche Reihen zu erzeugen und deren Eignung zu messen. Kapitel 6 beschreibt die sogenannten Tröpfel-Algorithmen (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1995, S. 10). Hier findet man ein rundum schönes Programm: kurz und ohne überflüssigen Aufwand, der Algorithmus ist noch erkennbar – und ungeheuer effektiv. Weitere Programme stehen im Buch wie auf der CD-ROM. Nebenbei sind alle Fehler zu einigen Sonderfällen aus dem Spektrum-Artikel vom Dezember 1995 erschöpfend aufgeklärt – diesmal richtig. Pi-Pioniere Die Kapitel 7 und 8 sind zwei bedeutenden Mathematikern, die sich mit Pi befaßten, gewidmet: Carl Friedrich Gauß (1777 – 1855) und Srinivasa Ramanujan (1887 – 1920). Man kann es kaum glauben, was sie – und manche andere – ohne Computer vollbracht haben. Kapitel 9 berichtet über die neuere Zeit und erzählt von Familie Borwein (Vater und zwei Söhne), die erstaunliche Formeln für die Computerberechnung von Pi gefunden und sich des Vermächtnisses von Ramanujan angenommen haben (es sei an ihren geradezu liebevollen Artikel „Srinivasa Ramanujan und die Zahl Pi“ in Spektrum der Wissenschaft, April 1988, erinnert). Ihr BBP-Verfahren (nach den Autoren Borwein, Bailey und Plouffe) wird im Kapitel 10 verständlich gemacht; und das ist keine Kleinigkeit. Kapitel 11 „Arithmetik“ behandelt neuere und schnellere Methoden der Multiplikation und Division, ohne welche diese und andere Rechenrekorde nicht möglich wären. Hier wird erstmalig etwas mehr an Mathematikverständnis gefordert. Man kann jedoch zum Beispiel die Behandlung der Multiplikation mittels schneller Fourier-Transformation (Fast Fourier Transform, FFT) schadlos überspringen. Die Kapitel 12 „Vermischtes“ und 13 „Historie“ bieten eine leichte Erholung von der Mathematik. Letzteres geht nur kurz auf das Altertum und die Neuzeit ein und greift auf, wie verblendet in der Hitlerzeit die Mathematik mißbraucht wurde. Christoph Haenel erzählt, wie er bereits 1961 auf dem Digitalrechner Siemens 2002, einem Dinosaurier des Computerzeitalters, immerhin 13000 Stellen von Pi berechnete. Man verzeiht ihm gern die Überlänge dieses Unterkapitels. Das Schlußkapitel 14 „Die Zukunft: Internet-Berechnung“ bringt eine erregende Idee. Ähnlich wie beim Projekt „Distributed.Net“, bei dem es um das Code-Knacken geht, sollen PCs über das Internet zusammenarbeiten. Ich bin gespannt, ob sich der Vorschlag der Autoren verwirklichen lassen wird. Das Literaturverzeichnis ist mit 100 Titeln auf sieben Seiten knapp gehalten; die Autoren haben sehr viel mehr gelesen. Der fünfseitige Index hingegen befriedigt nicht ganz. Hinter manchen Formulierungen versteckt sich ein trockener Humor, den wohl nur ein Computerfan bemerkt. Für ihn ist zudem die CD-ROM, in die weitere Erläuterungen, auch eine Einführung zur Mathematik der schnellen Algorithmen, und alle längeren Programme verbannt sind, eine wahre Fundgrube. Das Buch ist sowohl für Leser geeignet, die sich lediglich über Pi im Computerzeitalter informieren wollen, als auch für Computerfreaks; sogar praktizierende Mathematiker und C-Programmierer, die tiefer schürfen wollen, werden sehr viel Interessantes und auch Neues finden. Das gewagte Kunststück, diese breite Spanne an Interessen in einem Buch mit CD-ROM zu bedienen, halte ich hier für gelungen. Eine vergleichbare Darstellung habe ich bisher noch nie gefunden. Die Formelsammlung im Anhang, offenbar ein Nebenproduckt der Recherchen, kann nur ehrfürchtiges Staunen erregen. Als Fußnoten, im Text und im Literaturverzeichnis findet man immer wieder Adressen im World Wide Web, über die man eigene Interessen weiter vertiefen kann. Die Frage nach dem Sinn der Berechnung von vielen Pi-Stellen ist nebensächlich geworden über so vielen aufregenden geschichtlichen und kulturellen Entdeckungen und so unerwarteten und mitunter zauberhaften Zusammenhängen. Petr Beckmann bemerkte zu einer guten Näherungslösung für Pi, die Nicolaus Cusanus im mathematisch finsteren Mittelalter herausgefunden hatte, lakonisch: „Well done, Cardinal“. Ich wüßte es gegenüber den Autoren nicht besser auszudrücken. Natürlich gibt es auch etwas zu kritisieren – doch das ist belanglos angesichts der Vorzüge dieses spannend zu lesenden Werkes.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1999, Seite 117
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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