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Plädoyer für die Entkoppelung von Jugend und Schule

Auf die Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels, die Wissensexplosion und die Anforderungen des Beschäftigungssystems haben die Bildungseinrichtungen mit einer beispiellosen Konzentration von Lernen auf Kindheit und Jugend reagiert. Die exzessive Verschulung schiebt den Eintritt in das Erwachsenenleben immer weiter hinaus. Eine grundlegende Reform tut not.

Es scheint, als habe sich die moderne Gesellschaft eine anthropologische Besonderheit zunutze gemacht, um zu ihrer Gestalt zu finden, nämlich die Neotenie des Menschen: Anders als seine nächsten Verwandten ist er nicht darauf an-gelegt, seine juvenilen Merkmale abzulegen, wenn er erwachsen wird. Typisch kindliche Verhaltenseigenschaften wie Neugierde, Phantasie, Spielfreude, Humor, Lernfähigkeit und Erfindungsreichtum sind auch bei tierischen Primaten zu beobachten; sie überdauern aber allein beim Menschen die Jugendzeit.

Biologische Anlagen bedürfen allerdings der kulturellen Formung, um gesellschaftlich wirksam zu werden. Genau diese Formung scheint die Kultur der Moderne der Neotenie des Menschen zu geben.

Moderne Gesellschaften sind durch ein lineares Zeitverständnis und ein dynamisches Weltbild charakterisiert. Der Erwartungshorizont löst sich vom Erfahrungsraum und erschließt eine offene Zukunft. Die jeweils junge Generation orientiert sich nicht mehr länger an Bildern einer primordialen Vergangenheit. Sie wird nicht durch bloße Nachahmung des Verhaltens der älteren Generation lebenstüchtig. In modernen Gesellschaften übernimmt vielmehr die Schule zu einem großen Teil die Aufgabe, die nachkommende Generation für das Leben als Erwachsene vorzubereiten.

Radikalisierung der Moderne

Die Lebensphase Jugend ist sozusagen eine Erfindung moderner Gesellschaften. Sie ist das hervorstechende Beispiel für die kulturelle Stützung der menschlichen Neotonie unter den Bedingungen gesellschaftlicher Modernität. Als Zwischenraum zwischen einem Nicht-mehr (Kindsein) und einem Noch-nicht (Erwachsensein) ist Jugend wesentlich Möglichkeitsraum und damit eine kreative Lebensphase. Das Experimentieren in Gedanken und Taten bedingt eine Relativierung von Traditionen und überkommenen Werten. Die Freisetzung von Phantasie ist von existentieller Notwendigkeit in einer Gesellschaft, die auf Dynamik und Innovation angelegt ist.

Jugend hat somit eine doppelte Funktion. Sie ist Zeit der Einführung in eine sich rasch wandelnde Gesellschaft, und sie ist Zeit der Kultivierung von gesellschaftlichem Innovationspotential und von Kreativität. Die Jugendzeit wird zur kulturerneuernden, schöpferischen Lebensphase, was die verschiedenen Jugendbewegungen unseres Jahrhunderts deutlich belegen.

Die Entwicklung der Schule im 20. Jahrhundert zeigt, daß der Eintritt in das Erwachsenenleben immer weiter hinausgeschoben wird. Jugend ist zu einer Zeit geworden, in der man (noch) zur Schule geht oder sonstwie in Ausbildung begriffen ist, und zwar in zunehmendem Maße auch für Angehörige der unteren Sozialschichten und für beide Geschlechter. Die bald lückenlose Verschulung des Jugendalters ist Zeichen einer Radikalisierung der Modernität unserer Gesellschaft.

Das eigentliche Kennzeichen der Moderne liegt in der Zeitdimension. In der Zeit wird die Gegenwart auf eine Zukunft bezogen, die uns nur im Modus des Wahrscheinlichen gegeben ist. Von der Zukunft können wir allenfalls wissen, daß sie anders sein wird als die Vergangenheit – was man auch so sehen muß, daß die Unprognostizierbarkeit der Zukunft immer näher an die Gegenwart heranrückt. Wo die Zukunft real wird, da wird das menschliche Handeln immer stärker von Möglichkeiten bestimmt.

Die Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels hat Auswirkungen auf das Generationenverhältnis und die Schule. Befürchtungen werden laut, die immer schneller vor sich gehenden Veränderungen in Kultur und Gesellschaft könnten die Beziehungen zwischen Jung und Alt gänzlich auseinanderbrechen lassen. Wenn einmal erworbene Kenntnisse schon im Alter von 30 Jahren veralten, dann sind Eltern als Lehrmeister für die Jungen kaum mehr von Bedeutung. Zu schnell verändert sich die Welt, als daß eine Generation von der anderen noch lernen könnte.

Zudem sind die eindeutigen Merkmale des Übergangs in den Erwachsenenstatus im Verschwinden begriffen. Sexualität, Heirat und politische Mündigkeit sowie individuelle Errungenschaften wie eigene Wohnung, eigenes Auto und finanzielle Unabhängigkeit markieren nicht mehr zwingend den Übergang in die Erwachsenenwelt. Umgekehrt hat das Erwachsenenleben einige seiner identitätsverbürgenden Kennzeichen ver-loren; Wechsel des Berufs, des Wohnsitzes, des Beziehungs- oder Ehepartners wie auch der Gesinnung machen es zu einem Experimentierfeld, das sich vom Moratorium des Jugendalters nur mehr wenig unterscheidet. Die Neotenie des Menschen wird immer mehr auch im Erwachsenenalter kulturell gestützt.

Die Diagnose verweist auf ein Problem, das unser Bildungswesen zunehmend belastet. Schule und Bildung sind immer in gewissem Maße konservativ, das heißt auf Bewahrung von Tradition und kulturellem Erbe bedacht. Bildung ist Tradieren, setzt also voraus, daß die Zukunft nicht völlig anders ist als die Vergangenheit. Eine maximal beschleunigte, gleichsam überhitzte Gesellschaft macht es deshalb schwer, wenn nicht gar unmöglich, Kinder und Jugendliche auf das Leben als Erwachsene vorzubereiten.

Paradoxie der Verschulung

Was läßt sich pädagogisch noch tun, wenn alles dermaßen im Fluß ist, daß nur die Gewißheit bleibt, das Morgen werde anders sein als das Heute? Wie reagiert das Bildungssystem auf die Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels?

Es scheint, als sei die weitere Verlängerung von Jugendalter und Schulzeit die einzig mögliche Antwort. Mittlerweile wird die jetzige Jugend zu einem Zeitpunkt aus Schule und Universität entlassen, bei dem das erste Drittel eines durchschnittlichen Lebens bereits überschritten ist.

Eine Gesellschaft, die das Jugendalter immer weiter ausdehnt, entzieht freilich der nachkommenden Generation die Möglichkeit, ihre Ideen praktisch umzusetzen. Sie läßt nicht nur ein wirtschaftlich wertvolles Innovationspotential ungenutzt, sie hindert die Jugendlichen auch daran, ihre Ideen dem Test der Realität auszusetzen.

Eine Verlängerung der Schulzeit ist des weiteren deshalb kritisch zu beurteilen, weil sie offensichtlich nicht aus gesellschaftlicher Notwendigkeit, sondern aufgrund einer ungesteuerten Interferenz von Bildungs- und Beschäftigungssystem erfolgt. Paradoxerweise hat die Verschulung des Jugendalters eine Entwertung von Schule zur Folge. Mit der zunehmenden Zeit, die im Bildungssystem verbracht wird, schwindet der individuelle Nutzen von Bildung und steigt der Druck auf den Erwerb von noch mehr Bildung. Dieser Mechanismus ist das Resultat der engen gesellschaftlichen Anbindung des Beschäftigungssystems an das Bildungssystem. Wo im Extremfall alle denselben Schulabschluß erreichen, da wird das Beschäftigungssystem unfähig, Personen entsprechend ihrem Bildungsstatus aufzunehmen.

Solange schulische Zertifikate als Eintrittsberechtigungen für die Berufswelt gelten, wird die Verschulung des Jugendalters weiteres Wachstum des Bildungssystems bewirken, das von diesem nicht als solches beabsichtigt ist, sondern durch den Selektionsdruck des Beschäftigungssystems zustande kommt. Die öffentliche Hand muß in zunehmendem Maße ein Bildungssystem finanzieren, das aus weitgehend externen Gründen expandiert und nicht, weil die exzessive Verschulung des Jugendalters pädagogisch sinnvoll oder auch nur politisch gewollt wäre.

Maßgaben einer radikalen Reform

Gibt es eine bessere Antwort auf die Radikalisierung unserer Modernität? Ich schlage vor, Lernen und Bildung von der Ankoppelung an das Jugendalter zu befreien und auf Permanenz zu schalten. Schule sollte nicht länger ein altersbestimmendes Merkmal sein, sondern zum anthropologischen, unserer Neotenie korrespondierenden Charakteristikum schlechthin und auf die individuelle Lebensspanne verteilt werden.

Was lernen Schülerinnen und Schüler in einem Bildungssystem, in dem sie immer länger verbleiben (müssen), unter der Bedingung einer fortlaufenden Entwertung des Wissens? Gemessen am Ziel der Wissensvermittlung schwindet der Sinn einer langen Aufenthaltsdauer in schulischen Institutionen, und trotzdem ist unsere Bildungspolitik so orientiert, daß wir die Aufenthaltsdauer weiter verlängern. Die Motivationsprobleme heutiger Schülerinnen und Schüler könnten durchaus mit dieser Paradoxie in Verbindung stehen. Wenn der Sinn der Schule nur mehr darin liegt, Zertifikate zu erwerben, dann verkommt sie zum Warteraum auf ein besseres Leben.

In einer Wirtschaft, die hartem Konkurrenzdruck ausgesetzt ist, sind Phantasie, Kreativität und Innovationsfreudigkeit gefragt und nicht Anpassung an einen starren Kanon fertigen Wissens. Dieser Nachfrage könnte begegnet werden durch die permanente Erneuerung des rasch veraltenden Wissens, also durch lebenslanges Lernen. Rekurrente Bildung wäre im übrigen eine wirksame Medizin gegen die drohende geistige Verkrustung bei Überalterung unserer Gesellschaft und gegen die Überalterung selbst.

Auch mit Blick auf die anhaltende Diskussion um eine Vorverlegung des Rentenalters und ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben kann die Option, das Jugendalter noch mehr zu beschulen, nicht sinnvoll sein. Denn die Arbeit würde dadurch auf ein immer enger werdendes Segment der beruflich aktiven Bevölkerung konzentriert – ein ökonomisch wenig effektives Verfahren.

Die Entkoppelung von Schule und Jugendalter würde es auch ermöglichen, den Druck auf die Selektionsfunktion der Schule etwas zu lockern. Die Schule ist in den letzten Jahren – unter Mißachtung der Eigenständigkeit von Bildung – zu sehr zum Ort der Verteilung von Lebenschancen geworden. Die enge Ankoppelung des Beschäftigungs- an das Bildungssystem hat die Selektionsfunktion der Schule strapaziert und deren pädagogische Notwendigkeit überdehnt. Die Ausgrenzung von lernschwachen Schülerinnen und Schülern bedeutet, daß ihnen bereits im Bildungssystem die Hoffnung auf eine befriedigende Position im Beschäftigungssystem genommen wird. Je länger sie im Schulsystem verbleiben, desto aussichtsloser wird ihre Lage. Das zur Zeit vieldiskutierte Gewaltproblem an unseren Schulen sollte auch in diesem Zusammenhang gesehen werden.

Ich bin mir bewußt, daß mein Vorschlag auf Entkoppelung von Schule und Jugendalter eine radikale Reform unseres Bildungssystems nach sich zieht. Schule ist für uns fast unwidersprochen zum Attribut einer bestimmten Lebensphase, nämlich des Jugendalters, geworden. Doch in dem Maße, wie Jugend in der radikalisierten Moderne zu einem Attribut von Menschsein schlechthin wird, müßte Schule ihre Assoziation mit einer bestimmten menschlichen Lebensphase lockern und zur lebenslangen Stütze unserer Neotenie werden.

Wenn ich vorschlage, Schule zu einer wiederkehrenden Erfahrung zu machen, dann dürfte dies aufs erste Widerstand auslösen. Doch bin ich der Meinung, daß wir sinnvoll nicht anders auf die Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels reagieren können. Es gälte auch nur, die bereits vielfach geforderte permanente Fort- und Weiterbildung der Bevölkerung in institutionelle Formen zu gießen und konsequenterweise das Jugendalter von schulischen Ansprüchen zu entlasten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1993, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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