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Stammzellen: Potente Zellen

Die Forschung mit menschlichen embryonalen ­Stammzellen ist ethisch umstritten und Thema vieler Diskussionen - aber sie birgt auch ein großes Potenzial zur Heilung schwerer Krankheiten.


Es begann alles 1998, als James A. Thomson und seinen Mitarbeitern von der Universität von Wisconsin in Madison ein großer Coup gelang: die kontinuierliche Vermehrung humaner embryonaler Stammzellen. Sein Erfolg bedeutete nicht nur einen großen wissenschaftlichen Fortschritt; er setzte auch eine heftige Diskussion über das Selbstverständnis des Menschen in Gang. Sie zieht nicht bloß Wissenschaftler und Ärzte in ihren Bann, sondern große Teile der Gesellschaft insgesamt – nicht zuletzt, weil weit reichende politische Grundsatzentscheidungen abverlangt werden. Noch bis vor wenigen Jahren in der Öffentlichkeit nahezu unbeachtet, wurde die jahrzehntelange Stammzellforschung somit plötzlich zum medienwirksamen Schauplatz von Politikern, Ethikern, Theologen und selbst zahlreichen Wissenschaftlern. Schreckensvisionen von "Embryonentötung" und geklonten Menschen wechseln sich seither ab mit manch unseriösen Heilungsversprechen und vermeintlichen Einzelfallsensationen diverser Forschergruppen.

So umstritten sie auch sein mag – die Forschung an menschlichen embryonalen wie auch adulten Stammzellen bleibt einer der vielversprechendsten Wege in der Medizin des 21. Jahrhunderts. Denn wenn es gelingt, regenerative Zellen zur Reparatur von Geweben und Organen zu züchten, könnte dies für Millionen schwer kranker Menschen zu einer echten Heilungschance werden. Weltweit befassen sich inzwischen etliche Forscherteams mit der Stammzelltechnologie und versuchen dabei fieberhaft, der Natur ein Geheimnis des Lebens abzuringen: die Gesetze der Zellentwicklung von der einfachen befruchteten Eizelle zu den vielfältigen Gewebetypen eines Organismus. Denn genau das ist Voraussetzung, um gezielt neue Therapien entwickeln zu können. Eben solchen Forschungszwecken dient der Import humaner Stammzellen, den das Robert Koch-Institut bis Anfang April 2003 drei deutschen Arbeitsgruppen erlaubt hat – darunter uns am Neurophysiologischen Institut der Universität zu Köln.

Doch was genau versteht man unter diesen embryonalen Stammzellen, die zur Züchtung von Geweben gedacht sind? Werden hierfür tatsächlich Embryonen aus einer künstlichen Befruchtung abgetötet, aus denen eigentlich ein neuer Mensch entstanden wäre? In unseren Augen ist diese oftmals kritisierte Embryonentötung eine recht fragwürdige Formulierung, denn allein die Definition des Begriffes Embryo führt zu großen Missverständnissen, welche die Gefühle immer wieder hochkochen lassen.

Mediziner bezeichnen nämlich den gesamten Zeitraum von der Befruchtung einer menschlichen Eizelle bis zum Ende der achten Entwicklungswoche als Embryonalstadium. Während nun aber ein Embryo am Ende dieses Zeitraums bereits deutliche Körperformen hat, geht es bei der Stammzellforschung um ein viel früheres Stadium: die so genannte Blastocyste. Der "Bläschenkeim", so der deutsche Begriff dafür, ist ein Aggregat aus rund hundert Zellen, das etwa am 3. bis 4. Tag nach der Befruchtung vorliegt – also noch vor dem Einnisten in die Gebärmutter, das erst am 5. bis 6. Tag stattfindet. Einzig und allein danach liefe die Entwicklung überhaupt weiter. Nistet sich der winzige Zellball nicht ein, so geht er mit dem normalen Menstruationsblut ab – was nicht etwa die Ausnahme, sondern die Regel ist. Denn immerhin geschieht das bei ungefähr siebzig Prozent aller befruchteten Eizellen. (Hinzu kommen in Deutschland pro Jahr noch etwa eine Million Blastocysten, die durch Verhütungsmittel wie die "Spirale" und die "Pille danach" zu Grunde gehen.)

Die für die Forschung so bedeutsamen "embryonalen" Stammzellen werden also aus winzigen "Zellklümpchen" gewonnen, die noch keinen Kontakt zum mütterlichen Gewebe hatten und sich von alleine nie weiterentwickeln könnten, und nicht, wie man irrtümlich annehmen könnte, einem Embryo mit beginnenden menschlichen Zügen. Es erscheint uns sehr wichtig, diesen Unterschied klar herauszustellen.

Nicht alle Zellen des Bläschenkeims sind Quelle embryonaler Stammzellen. Wird eine Eizelle befruchtet, was in der Regel im oberen Abschnitt eines Eileiters geschieht, teilt sie sich auf ihrem weiteren Weg zur Gebärmutter mehrmals, ohne dabei an Größe zu gewinnen. Bei einem Umfang von 16 Zellen sieht der Keim dann wie eine kleine Maulbeere aus. Bis dahin besitzen nach heutigen Erkenntnissen – und in Analogie zu anderen Säugetieren – wahrscheinlich manche dieser 16 Zellen noch so genannte Totipotenz, also die theoretische Fähigkeit, einen ganzen Organismus neu zu bilden. Ab der nächsten Teilung, dem 32-Zell-Stadium, beginnt Flüssigkeit einzuwandern und eine Höhle im Keim aufzuweiten. Diese Zellen am äußeren Rand bilden später Teile der Plazenta; nur die innere Zellmasse, der Embryonalknoten, enthält nunmehr die embryonalen Stammzellen. In diesem Stadium haben alle vorhandenen Zellen definitiv ihre ehemalige Allmacht eingebüßt und sind nun nur noch "pluripotent". Damit wird die prinzipielle Fähigkeit von Stammzellen bezeichnet, sich in praktisch jedes der etwa 200 unterschiedlichen Gewebe des Körpers entwickeln zu können: also in Muskeln, Nerven, Schleimhaut, Knorpel oder Blutzellen, vor allem aber auch in Geschlechtszellen, durch die sich der Lebenskreis wieder schließen kann.

Tumoren als Quelle Weit früher als die Forschung an menschlichen pluripotenten Stammzellen begann die Arbeit mit solchen aus Tieren – nämlich bereits in den 1970er Jahren. Damals isolierten Wissenschaftler erstmals geeignete Zellen, allerdings aus Teratokarzinomen der Maus. Das sind bösartige Tumoren der Keimdrüsen; sie bestehen aus verschieden weit differenzierten Zellen unterschiedlicher Gewebetypen, enthalten aber auch undifferenzierte, noch embryonale Zellen. Verpflanzt man diese in immunschwache Mäuse, entstehen wieder Teratokarzinome. Ungewöhnlich verhalten sich aber die embryonalen Karzinomzellen, nach der englischen Bezeichnung embryonic carcinoma cells auch kurz EC-Zellen genannt, in einer geeigneten Nährlösung. Darin teilen sie sich unbegrenzt, ohne dabei irgendeinen Differenzierungsweg einzuschlagen. Ihre Entwicklung bleibt, solange man fördernde Signale verhindert, sozusagen auf frühester Stufe "eingefroren". Diese theoretisch unbegrenzte Vermehrbarkeit kennzeichnet auch viele andere Stammzelltypen. Sie ist eine entscheidende Eigenschaft zur Gewinnung ausreichender Mengen von transplantationsfähigem Material – nur möchte man natürlich keine Tumoren erzeugen.

Hier kam den Wissenschaftlern eine verblüffende Entdeckung zu Hilfe. Als die gleichen embryonalen Karzinomzellen in eine Mäuse-Blastocyste transferiert wurden, verhielten sie sich normal und beteiligten sich am Aufbau vieler verschiedener Gewebetypen, einschließlich neuer Geschlechtszellen. Anders gesagt: EC-Zellen erwiesen sich als pluripotent. Die Wissenschaftler hatten die Zellen jeweils in den inneren Knoten isolierter Blastocysten injiziert und diese dann in die Gebärmutter einer anderen, scheinschwangeren Maus übertragen. Was daraus als Nachwuchs hervorging, waren "Mischlingskinder" aus den Zellen der inneren Zellmasse und den injizierten EC-Zellen. Man sprach daher von "Mosaikmäusen" oder "chimären" Mäusen. Da EC-Zellen auch wieder Urkeimzellen – Vorläufer späterer Geschlechtszellen – hervorbringen, ließen sich durch geschicktes Kreuzen von Mosaikmäusen Nachkommen züchten, die ausschließlich die Erbinformation der EC-Zellen tragen.

Ausgehend von diesen Experimenten entwickelten verschiedene Forschergruppen übrigens die Technik, Mäuse zum Studium diverser Krankheiten gezielt genetisch zu manipulieren. Mit Hilfe solcher Tiere lässt sich untersuchen, welche Aufgaben bestimmte Gene haben, genauer: wie sich deren Verlust, Hinzufügen oder Verändern bemerkbar macht.

Während der Arbeit mit den chimären Mäusen zeigte sich aber auch zusehends, welches enorme Entwicklungspotenzial in pluripotenten Stammzellen steckt. Durch die unbegrenzte Teilungsfähigkeit der EC-Zellen und ihre Eigenschaft, sich in die unterschiedlichsten Gewebetypen differenzieren zu können, war nun ein Ausgangsmaterial zur Hand, das sich mit geeigneten Methoden – die man allerdings noch nicht kannte – prinzipiell in jede gewünschte Zellart überführen ließ. Wissenschaftler begannen daher intensiv, die physiologischen, pharmakologischen und biochemischen Eigenschaften dieser Stammzellen zu erforschen. Zum einen ging es ihnen um ein besseres Verständnis der Zelldifferenzierung, und zum anderen darum, wie potenzielle medikamentöse Substanzen die Zellen in der Kulturschale und damit im Embryo womöglich schädigten. Aber gerade durch diese detaillierten Untersuchungen wurde auch klar, dass sich die EC-Zellen in einigen ihrer Grundeigenschaften von denen des Embryonalknotens unterschieden – hatten sie doch als entartete Zelltypen einige genetische Veränderungen erfahren. Die zunehmende Kritik an den EC-Zellen führte zur Suche nach anderen, besser geeigneten Stammzelltypen. Man fand sie zunächst bei Tieren, 1998 auch beim Menschen, in zwei verschiedenen Quellen: zum einen in fetalen Vorläuferstadien späterer Ei- und Samenzellen, und zum anderen in den embryonalen Stammzellen, eben Zellen aus der inneren Masse einer Blastocyste.

Restaurierung des Körpers aus eigener Kraft?

Neben diesen embryonalen stellen aber auch adulte, sozusagen reifere Stammzellen ein wichtiges Forschungsfeld dar. Auf dem Weg von der Blastocyste zum erwachsenen Organismus differenzieren sich die Zellen unter dem Einfluss von Wachstumsfaktoren, Hormonen, Proteinen und anderen Faktoren immer weiter. An einem bestimmten Punkt dieser Entwicklung bleiben nun bei manchen Geweben einige Zellen quasi auf Zwischenstufen stehen – wahrscheinlich um als eine Art "Reparaturpool" oder gewebliche "Lagerhalle" als Nachschublieferant für gealterte Zellen zur Verfügung zu stehen. Bei Blutzellen, die fortwährend erneuert werden müssen – die Lebensdauer eines roten Blutkörperchens beispielsweise beträgt etwa 120 Tage –, ist dies schon recht gut erforscht.

In genau diesem Reparaturpool liegt die Hoffnung verschiedener Forscher: Sie suchen nach adulten Stammzellen, die möglichst ähnliche Eigenschaften wie die embryonalen aufweisen sollen. Bei der Therapie bestimmter Blutkrebsarten etwa werden bereits seit längerer Zeit adulte Stammzellen aus dem Blut bildenden Knochenmark eines Spenders erfolgreich genutzt: Es ersetzt das entartete Knochenmark des Patienten, das durch aggressive Chemotherapien und Bestrahlung zuvor zerstört wird.

In der aktuellen Diskussion wird häufig darauf verwiesen, dass sich die künftige Forschung statt auf embryonale ausschließlich auf adulte Stammzellen konzentrieren sollte, da hier keine ethischen Bedenken bestehen. Leider gibt es aber noch zu wenig Hinweise darauf, dass auch die adulten Stammzellen beliebig viele andere Gewebearten bilden können, außer solchen, für die sie normalerweise zur Verfügung stehen. Darüber hinaus ist auch noch nicht klar, wie die Zellen für ihre neuen Aufgaben "umprogrammiert" werden müssen und wie man sicherstellen kann, dass diese Um- oder Rückprogrammierung des Erbgutes kontrollierbar wird und auch bleibt. Möglicherweise entarten "embryonalisierte" adulte Zellen leichter. Ein weiteres Manko der adulten Stammzellen ist ihre – im Vergleich zu embryonalen Stammzellen – wesentlich geringere Teilungsrate.

Andererseits verfügen die adulten gegenüber den embryonalen Stammzellen auch über einen entscheidenden Vorteil: Sie lösen – sofern sie aus dem Patienten selbst stammen – keine Abstoßungsreaktion aus, da in diesem Falle Spender und Empfänger identisch sind. Bei embryonalen Stammzellen wäre das nur über den sehr problematischen Umweg des therapeutischen Klonens zu erreichen.

Adulte Stammzellen müssen also parallel zu embryonalen erforscht werden, können diese aber nicht ersetzen. Denn um die überaus komplexen Details der Zelldifferenzierung zu verstehen, sind schlichtweg Erkenntnisse aus beiden Zellsystemen vonnöten.

Schließlich sollten – als dritter Reparaturpool – auch Stammzellen aus Nabelschnurblut erwähnt werden, die zwischen den embryonalen und den adulten anzusiedeln sind. Derzeit werden bereits regelrechte Nabelschnurbanken angelegt, in der Hoffnung, dass damit künftig den jeweiligen Kindern körpereigenes Spendermaterial zur Verfügung steht. Bislang lässt sich so Blut bildendes Knochenmark ersetzen, aber noch kein weiteres Gewebe. In welchem Ausmaß sich diese Nabelschnurzellen einmal zur Reparatur anderer Gewebe verwenden lassen, ist noch ebenso unklar wie bei adulten Stammzellen.

Wir haben uns schon vor über zehn Jahren für die Arbeit mit tierischen embryonalen Stammzellen entschieden, da ihre Vorteile für die Forschung auf der Hand liegen. Die Erkenntnisse darüber versprachen zudem den größten konkreten Nutzen.

Für die Gewinnung tierischer embryonaler Stammzellen entnimmt man einer Blastocyste ihre innere Zellmasse und transferiert sie gewöhnlich in vorbereitete Kulturschalen, die mit einer Lage ernährender Bindegewebszellen beschichtet und einer speziell zusammengesetzten Nährlösung gefüllt sind. Hier vermehren sich die Stammzellen: Es entstehen zahlreiche rundliche Nester von etwa hundert Zellen, von denen einzelne wiederum in neue Kulturschalen überführt werden und so fort. Man kann sie aber auch einfrieren und in flüssigem Stickstoff beliebig lange aufbewahren. Auf diese Weise ist es möglich, aus wenigen embryonalen Stammzellen Abermillionen weitere zu züchten, die allesamt gleich sind und die – noch wichtiger – ihre Pluripotenz beibehalten haben.

Dass sich die Stammzellen vermehren, ohne sich gleichzeitig weiterzuentwickeln, ist jedoch künstlich herbeigeführt: Die Bindegewebszellen geben als bedeutsame Substanz den so genannten Leukämie-Hemmfaktor (englisch leukaemia inhibitory factor, LIF) in das Nährmedium ab: Er verhindert die mögliche Differenzierung der embryonalen Stammzellen. Ohne diesen Hemmstoff bilden sich ansatzweise erste Gewebevorstufen aus, allerdings so ungeordnet und verschiedenartig, dass sie nicht weiter verwertbar sind.

Wie aber erreicht man nun eine gezielte Differenzierung der Zellen in einen gewünschten Gewebetyp? Wir beschäftigen uns bereits seit vielen Jahren mit dieser Frage. Angeregt durch unsere früheren Forschungsarbeiten zur elektrischen Signalleitung bei Herzzellen haben wir uns inzwischen auf deren Züchtung aus embryonalen Stammzellen spezialisiert – in der Hoffnung eines Tages durch Zelltransplantationen die Narben von Herzinfarkten beseitigen und neues Herzgewebe aufbauen zu können.

Prinzipiell bestehen mehrere Möglichkeiten, undifferenzierte pluripotente Stammzellen auf ihren "Weg des Lebens" zu schicken, sie also zu einer selbstständigen Entwicklung von Gewebe anzuregen. Den meisten Erfolg verspricht offenbar die Differenzierung der Stammzellen mit der Methode des "hängenden Tropfens" in Kulturschalen. Entwickelt hatte das Grundprinzip Anna Wobus am Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben (IPK). Wir haben es dann verfeinert. Man entnimmt dazu etwa tausend undifferenzierte Zellen aus ihren Schalen und transferiert sie in einen kleinen Tropfen Nährlösung, der an der Innenseite des Deckels einer neuen Schale haftet. Nachdem viele solcher Tropfen beschickt sind, dreht man den Deckel einfach um, sodass die Tropfen jetzt nach unten hängen und die darin befindlichen Stammzellen sich aufgrund der Schwerkraft zu einem kugeligen Gebilde zusammenlagern. Derartige Zellaggregate erhielten einst den missverständlichen englischen Namen embryoid body, obwohl es sich hierbei in keiner Weise um ein "embryoähnliches Körperchen", sondern lediglich um eine Zusammenlagerung embryonaler Stammzellen handelt, aus denen niemals ein ganzer Organismus entstehen kann.

In diesen Aggregaten treten die Zellen nun untereinander in Kontakt und schicken sich gegenseitig genau die Botenstoffe zu, die auch während der normalen Embryonalentwicklung zum Einsatz kommen. Die Zellen "kommunizieren" also rege miteinander und fangen schließlich an, sich über verschiedene Zwischenstufen in unterschiedliche Zelltypen zu entwickeln – so auch zu frühen Herzvorläuferzellen. Für uns Wissenschaftler ist es immer wieder ein faszinierender Moment, wenn wir im Mikroskop beobachten, wie manche Zellen auf einmal zu zucken anfangen und rhythmische Kontraktionen auszuführen beginnen. Sie bilden so erste Eigenschaften einer Pumpe für ein Kreislaufsystem aus, das sich parallel zu einem Gefäßnetz in den Aggregaten entwickelt.

Dürfen die Zellen nun ohne weiteres Zutun wachsen, entstehen natürlicherweise nach und nach verschiedene Zelltypen, aber eben nicht so geordnet wie im Embryo. Wie aber gelingt es nun, beispielsweise ausschließlich Herzzellen zu züchten – dazu noch in so großen Mengen, wie man für eine spätere Transplantation benötigen würde. Um dies zu erreichen, greifen wir in unsere molekularbiologische Trickkiste: Zunächst machen wir die Herzzellen "sichtbar", indem wir das Gen für das grün fluoreszierende Protein (GFP) aus der atlantischen Qualle Aequoria victoria in das Erbgut der Stammzellen einschleusen. Das GFP-Gen koppeln wir vorher an ein genetisches Schaltelement des Alpha-Actins: Dieses Protein wird ausschließlich in Herzzellen ausgeprägt. Immer, wenn eine Zelle nun Alpha-Actin produziert, sich also zu einer Vorläuferzelle des Herzens entwickelt, stellt sie auch das Fluoreszenzprotein her. Unter UV-Licht verrät sie sich im Fluoreszenzmikroskop an ihrem grünlichen Leuchten. Auf diese Weise können wir die entstehenden Herzzellen leicht erkennen.

Wenn das Herz grünlich fluoresziert

Um nun die Zahl der begehrten Zellen gegenüber den anderen Typen um ein Vielfaches zu steigern, benutzen wir einen zweiten Trick. Wir koppeln an die bereits vorhandenen Gene für Alpha-Actin und GFP noch ein weiteres, das diesmal die Zellen resistent gegenüber einem bestimmten Antibiotikum macht. Gibt man das Mittel in die Nährlösung der Aggregate, sterben alle Zellen darin ab – außer den Herzzellen, denen es ja nichts anhaben kann. Die so "aussortierten" Zellen teilen sich dann ungestört weiter, und wir erhalten schließlich fast nur Herzzellen – die auch noch grün leuchten, wodurch sie später nach einer Transplantation leicht wieder aufzufinden sind. Derzeit erproben wir unsere Methode an Mäusen, bei denen wir künstlich einen Herzinfarkt auslösen. Dies geschieht unter Leitung von Bernd Fleischmann aus unserem Kölner Institut sowie durch Willi Röll und Achim Welz von der Klinik für Herzchirurgie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Die Tiere werden in einer speziell angefertigten Narkoseeinheit betäubt. Dann öffnet ihnen einer der beiden Herzchirurgen fachmännisch den Brustkorb. Auf das freigelegte Herz wird an einer kleinen Stelle eine tiefgekühlte Kupferstange aufgesetzt. Das Gewebe gefriert kurzfristig und wird dadurch wie bei einem Infarkt funktionsuntüchtig. Direkt danach spritzen wir etwa einhunderttausend "grün leuchtende" Herzvorläuferzellen, die wir aus embryonalen Stammzellen gezüchtet haben, in die gerade entstandene Schadstelle ein und verschließen den Brustkorb wieder. Nach einigen Minuten erwacht die Maus aus ihrer Narkose und rennt in der Regel wieder normal umher.

Etwa zwei Wochen später nehmen wir das Herz der Maus "unter die Lupe" oder besser gesagt unter das Fluoreszenzmikroskop – auf der Suche nach markierten Zellen. Auf diese Weise wollen wir die alles entscheidende Frage beantworten, ob die von uns gezüchteten Herzvorläuferzellen es geschafft haben, sich in funktionierendes Herzmuskelgewebe umzuwandeln. Und tatsächlich: In neunzig Prozent der Fälle sind im Fluoreszenzmikroskop grün leuchtende Areale zu erkennen, wo vorher nur eine Narbe aus funktionslosem, derbem Bindegewebe war! Die Zellen haben sich in rhythmisch kontrahierende reife Herzmuskelzellen verwandelt, die nach unseren Untersuchungen das kranke Organ dabei unterstützen, sich zu erholen.

Neue Power

Unserer Arbeitsgruppe ist es also gelungen, Teile einer Herzinfarktnarbe durch gezielt differenzierte embryonale Stammzellen zu ersetzen. Wir haben zudem mit unseren Experimenten bewiesen, dass sich die neuen Herzzellen funktionell an das bereits vorhandene Herzmuskelgewebe ankoppeln, sich in den Gewebeverband integrieren und einen signifikanten Kraftzuwachs im Herzen erreichen – zumindest bei Mäusen. Es besteht also berechtigte Hoffnung für die Entwicklung neuer Therapien. Trotzdem werden noch mehrere Jahre vergehen, bis wir eventuell in der Lage sind, die Narben eines Herzinfarktes auch beim Menschen mithilfe von Stammzellen zu heilen. Denn wir müssen unsere Methode noch in vielen Versuchen aufs Genaueste prüfen. Eine israelische Forschergruppe in Haifa hat die in Köln entwickelte Technik bereits ein Stück weitergeführt und auf humane embryonale Stammzellen übertragen. Den Wissenschaftlern dort ist es gelungen, mit unseren Methoden menschliche Herzvorläuferzellen zu gewinnen. Der eine oder andere Schritt auf dem langen Weg von der Kultur embryonaler Stammzellen zur Therapie ist also schon geschafft, während andere Hürden noch genommen werden müssen. Als Erstes ist ganz genau zu untersuchen, wie gut sich eine transplantierte Zelle in das Wirtsgewebe einfügt und dort ihre physiologische Funktion aufnimmt. Am Beispiel des Herzens bedeutet dies: Es genügt nicht, dass die transplantierte Zelle zur rhythmischen Kontraktion fähig ist – sie darf auch keine Herzrhythmusstörung auslösen. Ein zweiter, ganz entscheidender Aspekt gilt der Sicherheit: Wir müssen ausschließen können, dass das transplantierte Material ein Teratokarzinom bildet. Das passiert auch bei normalen ES-, nicht nur bei EC-Zellen. Dazu müssen wir die Antibiotika-Selektion bei der Anzucht der Herzmuskelvorläufer weiter verfeinern, damit keine undifferenzierten Zellen in den Körper gelangen.

Der dritte, genauer zu untersuchende Punkt betrifft das Risiko einer Abstoßungsreaktion – die transplantierte Zelle darf nicht vom Wirtsorganismus als fremd erkannt und abgewehrt werden. Darin steckt wohl das größte Problem, und die beste Lösung wäre vermutlich, eine Bank von etwa 200 verschiedenen Stammzell-Linien anzulegen, die den wichtigsten unterschiedlichen Immunitätstypen des Menschen entsprechen. Ähnliche Banken existieren bereits für die Knochenmarkstransplantation. Noch wissen wir aber nicht, ob diese menschlichen Linien auf Dauer vital bleiben oder ob sie altern und dann in Abständen durch neue ersetzt werden müssen. Die in Köln benutzten embryonalen Mäuse-Stammzellen jedenfalls gedeihen seit immerhin 18 Jahren gut.

Ein anderer möglicher Weg zur Vermeidung von Abstoßungsreaktionen ist das so genannte therapeutische Klonen. Dabei würde man den Zellkern einer Patientenzelle in eine entkernte Eizelle übertragen, aus der sich wiederum eine Blastocyste entwickeln kann. Aus deren innerer Zellmasse könnte dann eine embryonale Stammzell-Linie mit den individuellen Merkmalen des jeweiligen Patienten gezüchtet werden. Nicht nur hier gibt es freilich viele Wenn und Aber.

Noch zehn bis zwanzig Jahrebis zur Therapie

Theoretisch lassen sich humane embryonale Stammzellen, ob körperidentisch oder nicht, in über 200 verschiedene Gewebearten differenzieren. Die Hauptschwierigkeit liegt nun darin, die individuellen Bedingungen, Einflüsse und Faktoren zu entschlüsseln, die eine embryonale Stammzelle zu einer Herz-, Nerven-, Haut- oder Knorpelzelle werden lassen. Außerdem ist es noch sehr schwierig, eine ausreichend hohe Zahl der gewünschten reiferen Zellen zu erhalten.

Bei einigen Krankheiten scheinen die Wissenschaftler aber bereits auf dem besten Wege zu sein, neue, auf embryonalen Stammzellen basierende Therapien zu entwickeln. Die betroffenen Organe oder Gewebe gehören meist zu Systemen, die ihren hohen Spezialisierungsgrad mit dem fast völligen Verlust der Regenerationsfähigkeit bezahlt haben: neben dem Herzen beispielsweise auch das Nervensystem, der Gelenkknorpel und das Hormonsystem.

Im Bereich der Nervenerkrankungen gibt es bereits viel versprechende Ergebnisse – so etwa bei der multiplen Sklerose, bei der die Isolationsschicht der Nervenfasern defekt ist. Die Folgen sind vergleichbar mit einem technischen Kabelbrand. Wissenschaftler, darunter Oliver Brüstle von der Universität Bonn, versuchen nun, mithilfe der embryonalen Stammzellen die defekten Isolierungen zu regenerieren. Ähnliche Ansätze gibt es für die Behandlung anderer schwer wiegender neurologischer degenerativer Erkrankungen wie dem Morbus Parkinson.

Auch die Arthrose, ein Verschleiß von Knorpelsubstanz, der bei Millionen meist älterer Menschen zu dauerhaft schmerzenden Gelenkveränderungen führt, ist ein Kandidat für die Stammzelltherapie. In diesem Fall liegt das Ziel in der Differenzierung embryonaler Stammzellen zu Knorpelzellen, die dann die verbrauchten Gelenkinnenflächen ersetzen sollen.

Schließlich könnten bei einer bestimmten Form der Zuckerkrankheit, die vorwiegend junge Menschen betrifft und bei der alle Insulin produzierenden Inselzellen der Bauchspeicheldrüse defekt sind, embryonale Stammzellen eine Lösung bieten. Die Transplantation von neuem Insulin produzierendem Gewebe würde den oft noch jugendlichen Patienten die Bürde nehmen, sich ihr Leben lang mehrmals täglich Insulin unter die Haut spritzen müssen.

Die bisherigen Erkenntnisse sind faszinierend und viel versprechend zugleich. Doch es ist noch zu früh, konkrete Aussagen über mögliche Therapien zu machen. Auch ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhersagbar, ob in Zukunft embryonale oder adulte Stammzellen die geeignete therapeutische Basis sein werden. Denn wir beginnen gerade erst die fundamentalen Mechanismen zu verstehen, wie sich eine Eizelle letztlich zu einem Organismus mit seinen mannigfachen Gewebetypen entwickelt. Die Erforschung all jener komplizierten Stoffwechselwege, Zellsignale sowie deren hochgradig vernetzter Wechselwirkungen setzt ein enormes wissenschaftliches Potenzial voraus, das nur durch intensive Förderung der Forschung an allen Stammzellarten ausgebaut werden kann. Wir brauchen noch weit mehr Erkenntnisse über beide Zellklassen, um zu verstehen, wie die Vielfalt verschiedener Gewebe entsteht und wie sich diese möglicherweise im Labor züchten lassen.

Bis die neue Technologie tatsächlich zum Einsatz kommen kann, werden noch etwa zehn bis zwanzig Jahre vergehen – ein Zeitraum, in dem die Forschung auf Unterstützung angewiesen ist: unter anderem aus der Öffentlichkeit, die dafür von den Forschern verständlich informiert und aufgeklärt werden muss. Denn auch wenn das Thema Stammzellforschung vom ethischen Standpunkt sehr kontrovers ist, sollten wir das Ziel, nämlich die Linderung oder sogar Heilung schwerer Leiden im Auge behalten – und nicht mehr allzu viel kostbare Zeit verlieren.

Literaturhinweise


Humane Stammzellen. Perspektiven und Grenzen in der regenerativen Medizin. Herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Schattauer, Stuttgart, New York 2001.

Cellular Cardiomyoplasty Improves Survival after Myocardial Injury. Von Roell W. et al. in: Circulation, Bd. 105, S. 2433 (2002).

Generation of Cardiomyocytes from Embryonic Stem Cells. Experimental Studies. Von A. Sachinidis et al. in: Herz, Bd. 27, Nr. 7, S. 589 (2002).


In Kürze


- Embryonale Stammzellen sind theoretisch nahezu Alleskönner. Bringt man sie in ihr natürliches Umfeld, ein Keimbläschen, beteiligen sie sich an der Entwicklung aller Gewebe. Einen kompletten Organismus können sie allein jedoch nicht hervorbringen.
- Sie besitzen ein enormes medizinisches Potenzial. Bei Mäusen konnten Forscher Schäden an Herz, Bauchspeicheldrüse oder Nervensystem mit Ersatzzellen teilweise mindern.
- Sie können aber auch, unsachgemäß angewendet, Tumoren erzeugen. Ohne gründliche Forschungen an tierischen wie menschlichen embryonalen Stammzellen ist daher das Potenzial samt seinen Gefahren nicht auszuloten.


Quellen tierischer Stammzellen


So genannte pluripotente Stammzellen mit der Fähigkeit, noch alle Gewebe, aber keinen Organismus zu bilden, lassen sich nicht nur aus einem Keimbläschen, einem Embryo im 100-Zellen-Stadium, gewinnen. Die künftigen Geschlechtszellen aus einem Mäuse-Fetus besitzen dieses Potenzial ebenso wie embryonal gebliebene Karzinomzellen eines Keimdrüsentumors. Die Kürzel der verschiedenen "embryonalen" Zellen leiten sich jeweils von den englischen Begriffen ab. Damit die Zellen bei Experimenten zu verfolgen sind, bekommen sie oft einen Genschalter sowie das Gen für ein fluoreszierendes Quallenprotein eingebaut.


Das Stammzellengesetz


Am 25. April 2002 beschloss der Bundestag das "Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen". Es verbietet die Gewinnung von Stammzellen in Deutschland, erlaubt aber die Einfuhr unter bestimmten Bedingungen:
– Die Zell-Linien müssen schon vor dem 1.1. 2002 bestanden haben.
- Sie dürfen nur Forschungszwecken dienen, die hochrangig und auf anderem Wege voraussichtlich nicht zu erreichen sind.
- Die Ei- und Samenspender dürfen für das Überlassen der Keimbläschen in keiner Weise einen geldwerten Vorteil erlangt haben.
- Jede Einfuhr muss vom Robert Koch-Institut genehmigt werden.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2003, Seite 66
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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