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Molekularbiologie: Proteinmolekül mit der Nadel entzurrt

Mit dem Rasterkraftmikroskop gelang es, die schraubenartig gewundene Aminosäurekette eines einzelnen Proteinmoleküls auseinander zu ziehen und die dazu nötige Kraft zu messen. Der Vorgang konnte zugleich optisch verfolgt werden.


Bei einem Vortrag auf der Jahresversammlung der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft propagierte der große Physiker Richard Feynman 1959 die Eroberung der Nanowelt und fragte: "Warum können wir nicht alle 24 Bände der Encyclopedia Britannica auf eine Nadelspitze schreiben?" Physikalisch gesehen ist das möglich. Man müsste die Buchstaben nur aus einzelnen Atomen zusammenfügen. Doch ließ die Entwicklung von Verfahren, um Materie auf atomarer Ebene derart gezielt zu manipulieren, fast 30 Jahre auf sich warten und ist noch lange nicht abgeschlossen.

Meilensteine auf diesem Weg waren 1983 die Erfindung des Rastertunnelmikroskops durch Gerd Binnig und Heinrich Rohrer sowie 1986 die Entwicklung des Rasterkraftmikroskops durch Gerd Binnig, Carl Quate und Christoph Gerber. Damit ließen sich erstmals Oberflächen in atomarer Auflösung abbilden – die Voraussetzung, um Feynmans Encyclopedia Britannica auf dem Stecknadelkopf zumindest zu lesen.

Das Prinzip ist einfach: Mit einer feinen Nadel tastet das Kraftmikroskop eine Oberfläche ab und erspürt so sämtliche Erhebungen oder Vertiefungen. Ähnlich macht es auch ein Blinder, der Blindenschrift liest. Während sich mit einem menschlichen Finger aber nur gerade noch etwa ein Millimeter große Details erfühlen lassen, muss ein künstlicher Finger, der einzelne, wenige Nanometer große Moleküle unterscheiden soll, rund eine Million mal kleiner sein.

Beim Kraftmikroskop verwendet man heute pyramidenförmige Spitzen mit Kantenlängen von etwa vier Mikrometern (tausendstel Millimetern); sie werden mit Ätztechniken hergestellt, die in der Halbleiterindustrie entwickelt wurden. Solch eine Spitze ist am äußersten Ende einer 0,2 Millimeter langen elastischen Blattfeder angebracht. Während sie über die Oberfläche geführt wird, folgt sie deren Verlauf. Wann immer sie dabei einem Molekül ausweicht, wird die Feder leicht verbogen. Diese Auslenkung gibt direkt die Höhe des Moleküls wieder und lässt sich über einen von der Federoberfläche reflektierten Lichtzeiger auf zehntel Nanometer genau messen (was etwa dem Durchmesser eines Atoms entspricht).

Die Auslenkung ist aber auch ein Maß für die Kraft, die momentan durch die Spitze auf die Probe ausgeübt wird. Beim Abtasten einer Oberfläche lässt sich also zugleich "spüren", wie fest man auf sie drückt und wie stark sie dabei deformiert wird. Dadurch kann man beispielsweise die Elastizität einzelner Moleküle messen. Bei starkem Druck lässt sich die Spitze des Kraftmikroskops schließlich sogar als "Hand" einsetzen, welche die Atome auf der Oberfläche verschiebt. Damit geht das Kraftmikroskop weit über ein reines Lesegerät hinaus.

Ausziehen eines Proteinfadens


Diese Tatsache haben meine Kollegen und ich an der Ludwig-Maximilians-Universität in München kürzlich für ein ausgefallenes Experiment genutzt: Wir packten mit der Nadel des Kraftmikroskops das äußere Ende der Aminosäurekette eines Proteins, das in die Membran eines Mikroorganismus eingebettet war, und zogen die Kette wie den Faden einer Stickerei langsam heraus. Dabei maßen wir zum einen die benötigte Kraft und zum anderen den Wert, um den sich das Molekül verlängerte. Die Aminosäureketten der Proteine sind nämlich im natürlichen Zustand auf komplizierte Art zusammengelegt oder – wie Biologen sagen – gefaltet. Wie diese Faltung im Einzelnen zu Stande kommt, ist bisher allenfalls in Ansätzen bekannt und zählt zu den großen ungelösten Problemen der Biochemie. Indem wir sie bei einem einzelnen Protein gezielt rückgängig machten und die benötigte Kraft maßen, konnten wir faszinierende neue Einblicke in diesen Mechanismus gewinnen.

Mit der Hand die Kräfte zwischen Atomen fühlen


Der Leiter unserer Arbeitsgruppe und Inhaber des Lehrstuhls für Angewandte Physik an der Universität München, Hermann Gaub, hatte eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen unseres Experiments geschaffen. Von ihm war ein Griff entwickelt worden, über den sich die Spitze des Kraftmikroskops auf einen Nanometer genau bewegen lässt. Zudem verstärkt er die Kräfte, die einzelne Moleküle auf die Spitze ausüben, um zehn Größenordnungen, sodass sie direkt mit der menschlichen Hand erfahrbar werden. Diese Verstärkung entspricht der Übersetzung eines Hebels, dessen eines Ende (an dem das Molekül zieht) von der Erde bis zum Mond reicht, während das andere (an dem der Experimentator zieht) nur vier Zentimeter lang ist.

Welche Kräfte Moleküle aushalten, bevor sie ihre Struktur verlieren, ließ sich lange Zeit nicht experimentell bestimmen. Denn man konnte nur viele Moleküle gleichzeitig untersuchen; dabei heben sich jedoch vektorielle Größen, die –wie die Kraft – außer einem Betrag eine Richtung haben, gegenseitig auf. Erst das Rasterkraftmikroskop ermöglichte Kraftmessungen an einzelnen Molekülen.

Erstmals gelang dies 1997 Matthias Rief in unserem Arbeitskreis. Er konnte die Elastizität eines molekularen Bandes messen, das er zwischen der Mikroskopspitze und der Unterlage eingespannt hatte. Es bestand aus einer wenige Mikrometer langen linearen Kette von Traubenzucker-Molekülen, die man als Dextran bezeichnet.

Ebenfalls 1997 zeigte Rief, dass es mit dem Kraftmikroskop möglich ist, die zusammengelegte Aminosäurekette von Proteinen zu einem linearen Faden auseinander zu ziehen und die dazu nötige Kraft zu messen. Bei diesem Experiment spannte er das Muskelprotein Titin zwischen Spitze und Unterlage ein und zog daran. Im Titin reihen sich mehr als 200 so genannte Beta-Faltblatt-Domänen wie Perlen auf einer Schnur aneinander. Diese Domänen sind eine der beiden grundlegenden Strukturen, zu denen sich die Aminosäurekette von Proteinen falten kann: Dabei läuft sie wie der Faden in einem Webstück zickzackförmig hin und her – beim Titin siebenmal – und bildet eine Art Wellblech.

Bei seinen Messungen stellte Rief fest, dass sich die Domänen unter Belastung nacheinander jeweils bei einer Kraft von rund 200 Piconewton (der Gewichtskraft von vier millionstel Gramm) entfalten. Diese Entfaltung einer Domäne geschah stets in einem einzigen Schritt. Zudem konnte Rief beobachten, wie lange es dauerte, bis sich die Faltblattstruktur zurückbildete und wie diese Zeit von den Umgebungsbedingungen abhing.

So aufregend und bahnbrechend dieses Experiment war, hatte es allerdings einen kleinen Schönheitsfehler: Da die lange perlenkettenartige Struktur von Titin extrem flexibel ist, gelingt es nicht, gezielt ein bestimmtes Molekül auszuwählen und die Entfaltung seiner Domänen durch Abbilden sichtbar zu machen; vielmehr muss man zufällig und blind aus einer größeren Menge ein Molekül für die Untersuchung herausgreifen.

Noch aufschlussreicher wäre es, nicht nur den Vorgang des Entfaltens nachvollziehen, sondern auch sein Ergebnis sichtbar machen zu können. Genau das ist bei den Untersuchungen am Bakteriorhodopsin gelungen, die meine Kollegen und ich in Zusammenarbeit mit Daniel Müller vom Biozentrum der Universität Basel durchgeführt haben.

Das purpurfarbene Bakteriorhodopsin kommt in der Zellmembran von Halobacterium salinarum vor, einem salzliebenden Vertreter der urtümlichen Archäa, die früher den Bakterien zugerechnet wurden. Es arbeitet als lichtgetriebene Protonenpumpe, die eine elektrische Spannung zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Zellmembran aufbaut. Halobacterium kann diese Spannung zur Synthese energiereicher Substanzen nutzen und so eine spezielle Art der Photosynthese betreiben.

Zupfen an der Purpurmembran


Bakteriorhodopsin besteht aus 248 Aminosäuren. Diese bilden sieben "Alpha-Helices", die sich quer durch die Membran erstrecken und durch flexible Schlaufen miteinander verbunden sind. Alpha-Helices stellen neben den Beta-Faltblatt-Domänen die zweite der beiden grundlegenden Faltungsmotive der Proteine dar; in ihnen ist die Aminosäurekette wie eine Sprungfeder schraubenartig gewunden. Die sieben Helices des Bakteriorhodopsins bilden einen Kanal innerhalb der Zellmembran, durch den die Protonen transportiert werden. Im Zentrum des Kanals sitzt der Farbstoff Retinal, der das Licht absorbiert und den Protonentransport auslöst.

In gewissen Bereichen der Zellmembran liegt Bakteriorhodopsin in so hoher Konzentration vor, dass es zusammen mit den fettartigen Membranbausteinen (Lipiden) einen zweidimensionalen Kristall mit geordneter Gitterstruktur bildet. Diese Areale bezeichnet man wegen ihrer Farbe als Purpurmembranen. Müller war es schon früher gelungen, das darin enthaltene Bakteriorhodopsin mit dem Kraftmikroskop in submolekularer Auflösung abzubilden. Dazu ist es erforderlich, die Membran stabil auf einer festen, ebenen Unterlage zu fixieren.

Wenn man ein einzelnes Protein nicht nur betrachten, sondern auch manipulieren will, muss man es allerdings zusätzlich in definierter Weise fassen und festhalten können. Dazu hat Matthias Pfeiffer vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried in das Bakteriorhodopsin eigens einen molekularen "Griff" eingebaut: Er tauschte eine Aminosäure nahe dem so genannten Kohlenstoff Ende, das auf der Zellinnenseite aus der Membran herausschaut, gegen ein Cystein aus, das mit Gold eine chemische Bindung eingeht; dadurch kann man das Protein mit einer vergoldeten Kraftmikroskop-Spitze selektiv am Ende fassen, eine Zugkraft darauf ausüben und und sie so lange steigern, bis das Molekül seine Struktur ändert (Bild auf Seite 16).

Bildet man die Membran anschließend nochmals ab, werden die Folgen der Manipulation erkennbar. Stets fehlt mindestens ein Protein im Kristallverband. Mit dem Entfalten wurde also das betreffende Bakteriorhodopsin aus der Membran herausgezogen. Ist bei dem Versuch genau ein Loch entstanden, steht fest, dass die gemessenen Kräfte wirklich die Entfaltung eines einzelnen Proteins wiedergeben und nicht zwei oder mehr Moleküle zugleich erfasst wurden.

Schrittweise Entfaltung


Unsere Ergebnisse machen deutlich, dass sich das Bakteriorhodopsin unter Zug in mehreren Einzelschritten aufwindet. Dabei verlängert es sich jeweils um einen bestimmten Betrag. Aus der Anzahl der Schritte und der Längenänderung lässt sich schließen, dass die Helices in der Regel paarweise aus der Membran gezogen und dabei entfaltet werden. Wenn die letzte Helix aufgelöst ist, hat das Protein die Membran komplett verlassen, und in der Kristallstruktur erscheint eine Leerstelle.

Derzeit lässt sich nur spekulieren, ob die beobachtete paarweise Entfaltung quasi das Spiegelbild des Prozesses ist, auf dem sich das Bakteriorhodopsin zusammenlegt. Dafür spricht, dass der natürliche Einbau des Proteins in die Membran mit dem Stickstoff-Ende zuerst geschieht und die Entfaltung durch Ziehen am Kohlenstoff-Ende genau die Umkehrung des Vorgangs darstellt. Endgültige Klarheit dürften Experimente bringen, bei denen wir das Protein nur soweit entfalten, dass es mit der letzten Helix noch in der Membran steckt, und dann seine Rückfaltung in die Membran beobachten.

Mit der Entwicklung des Kraftmikroskops haben sich viele Möglichkeiten eröffnet, Materie auf der Ebene von Molekülen bis herab zu einzelnen Atomen in definierter Weise zu untersuchen und zu manipulieren. Wenn wir auch vierzig Jahre nach Feynmans Anstoß, den Raum des winzig Kleinen zu nutzen, ihn noch nicht vollends erkundet haben, so lernen wir doch, uns darin zu bewegen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2000, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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