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Pseudoryx nghetinhensis - ein neues Huftier zwischen Rindern und Waldduckern?

Die kürzlich in Vietnam entdeckte Hornträger-Art erregt nicht nur deshalb Aufsehen, weil mit einem bislang unbekannten großen Landsäugetier kaum noch zu rechnen war. Vielleicht ist sie ein Relikt einer lebenden sonst nicht mehr repräsentativen urtümlichen Tiergruppe.


Als die Meldung, in Vietnam sei ein neues Huftier entdeckt worden, Anfang April dieses Jahres durch die Tagespresse ging, noch dazu mit dem Photo eines recht ungewöhnlich scheinenden Stopfpräparats, mochten viele Biologen dem nicht recht Glauben schenken. Zu unwahrscheinlich war, daß noch irgendwo ein größeres unbekanntes Säugetier leben sollte – zumal in den Bergregenwäldern Vietnams an der Grenze zu Laos, in einem vom Krieg verwüsteten Land, das während der französischen Kolonialzeit oft Ziel von Safaris war. Doch jetzt haben die Entdecker die wissenschaftliche Erstbeschreibung veröffentlicht ("Nature", 3. Juni 1993, Seite 443) und somit dem Tier auch einen offiziellen Namen gegeben.

Es heißt Pseudoryx nghetinhensis und gehört in die Huftierfamilie der Hornträger (Bovidae). Damit wurde ihm eine eigene Gattung eingerichtet, deren Name auf die oberflächliche Ähnlichkeit mit den Oryxantilopen – Spießböcken – aus Afrika anspielt, während der Artname sich vom Verbreitungsgebiet, der vietnamesischen Provinz Nghe Tinh, herleitet.

Von diesem Tier hatte im Mai 1992 eine Expedition der Umweltorganisation WWF (World Wide Fund for Nature) und des vietnamesischen Forstministeriums im zentralvietnamesischen Nationalpark Vu Quang (Bild 2) in den Hütten einheimischer Jäger Hörner und Schädelfragmente gefunden, die als Trophäen aufbewahrt wurden. Bei der weiteren Suche sind bis heute mehr oder weniger vollständige Felle und Schädel von mehr als 20 Individuen aufgetaucht. Da Zoologen bislang noch kein lebendes Tier gesichtet haben, läßt sich nur vermuten, wie die Art annähernd aussieht (Bild 1).

Sie scheint mit keinem anderen heutigen Boviden näher verwandt zu sein. Nach einem ersten genetischen Vergleich (wobei eine bestimmte DNA-Sequenz analysiert wurde) steht sie den Rinderartigen (Bovinae) näher als anderen Unterfamilien. Allerdings ist dieser Befund noch sehr vorsichtig zu bewerten, denn nur ein Bruchteil der betreffenden Arten konnte bei der Untersuchung berücksichtigt werden.

Körperbau und Haltung, sofern die Rekonstruktion das Erscheinungsbild richtig wiedergibt, erinnern an afrikanische Waldducker (Cephalophinae), eine Gruppe kleinerer und wahrscheinlich entwicklungsgeschichtlich recht alter Hornträger, die man in eine eigene Unterfamilie stellt. Dieser Eindruck entsteht zum einen durch das Zeichnungsmuster, zum anderen durch die kurzen Ohren, den Stummelschwanz mit prominenter Quaste und vor allem die großen Voraugendrüsen. Auch das deutlich gerundete Nasen-Stirn-Profil und die Stellung der Hörner in der Profil-Linie tragen dazu bei; und selbst die vorderen Backenzähne sind ähnlich schmal wie bei großen Duckern.

Dagegen sind aber die extrem langen, geraden Hörner, die bei den Männchen kräftiger und länger wachsen und an der Basis weiter auseinanderstehen, für einen ursprünglichen Waldbewohner nicht typisch. Einem sogenannten Buschschlüpfertyp wie den Duckern wären sie eher hinderlich, wenn er mit gesenktem Kopf wie ein langer, schmaler Keil durch dichte Vegetation eilen wollte. Außerdem scheinen die Tiere sich eher mit erhobenem Kopf als geduckt fortzubewegen; zumindest ist das Fell an Schultern und Vorderrücken, wo die Hörner dabei aufstoßen, abgerieben. Diese Haltung läßt an das Aufwerfen des Kopfes sichernder oder flüchtender Steppenhuftiere denken.

Für einen progressiven Lauftypus – der sich eher in offenen Landschaften entwickelt – sprechen außerdem die rundlichen Hufe und die reduzierten Afterklauen. Hingegen haben die Schneide- und Eckzähne des Unterkiefers nicht die schräg nach vorn-oben gerichtete Schaufelform wie bei grasfressenden Huftieren der Savannen, sondern sind vertikal stehende Stifte. Nach Berichten der Eingeborenen fressen die Tiere Laub, unter anderem Feigenblätter.

Die künftige Erforschung von Pseudoryx, vor allem bei nun angestrebten Freilandbeobachtungen, verspricht Erkenntnisse über die ökologischen Zusammenhänge in der frühen Verbreitung und Evolution der Hornträger. Die Entdecker vermuten, daß die Art eine relativ ursprüngliche Form darstelle, von der die heutigen Rinderartigen sich früh abgespalten haben. Ob die Zuordnung in eine eigene Gruppe Pseudorygini sich halten läßt, müssen Untersuchungen von Skelett und Zähnen sowie parasitologische Analysen erweisen. Vor allem dürfte ein Vergleich mit nur fossil erhaltenen Bovidae aufschlußreich sein.

Für die Zoologie ist der Fund eine wirkliche Sensation, gleichrangig mit der Entdeckung des Okapi (Okapia johnstoni) – der zweiten Giraffenart – in den Regenwäldern von Zaire um die Jahrhundertwende und des südamerikanischen Chaco-Pekari (Catagonus wagneri) vor 20 Jahren. Es scheint höchstens noch einige hundert Exemplare von Pseudoryx zu geben, wenn man danach urteilt, wie selten welche von den Einheimischen erbeutet werden. Nach ihren Angaben leben die Tiere den Sommer über in der dichten, schwer zugänglichen Vegetation in den Bergen mit den letzten geschlossenen Regenwäldern der Region, eventuell bis nach Laos hinein, und kommen nur im Winter, wenn die Flüsse dort austrocknen, in die Täler und damit in den Pirschbereich von Jägern. Die vietnamesische Regierung hat den Vu-Quang-Nationalpark sogleich um das Vierfache auf 600 Quadratkilometer erweitert und richtet zusätzliche Pufferzonen ein, in denen sogar Holzfallen untersagt ist. Denn vermutlich lebt Pseudoryx heute in einem Rückzugsgebiet; das gesamte mutmaßliche Verbreitungsareal mißt lediglich etwa 4000 Quadratkilometer. Die Art könnte einen urtümlichen Ökotypus der Hornträger darstellen, den später eine modernere Huftiergruppe – die Hirsche (Cervidae) – verdrängt hat.

Die Einheimischen nennen das Tier unter anderem "Bergziege" oder "Spindelhorri"; eine neue Bezeichnung ist "Vu-Quang-Büffel". Keiner dieser Namen kennzeichnet das Tier eindeutig, und auch taxonomisch ist keiner korrekt. Angebracht sowie umgangssprachlich praktisch wäre "Wukwang-Bock".


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1993, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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