Angemerkt!: Psychisch krank und aggressiv: ein altes Tabu

- 1976 bis 1984 Studium der Medizin an der Universität Ulm
- 1984 Promotion, 1997 Habilitation
- seit 2003 Professor an der Universität Ulm, Chefarzt der Allgemeinpsychiatrie sowie Forschungsleiter am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weißenau bei Ravensburg
Seit eine Reihe großer epidemiologischer Studien in mehreren westlichen Ländern in den 1990er Jahren zu ähnlichen Resultaten kamen, gilt unter Experten jedoch als weit gehend gesichert, dass bei vielen psychischen Erkrankungen ein mäßig erhöhtes Risiko für Gewalttaten besteht (siehe Grafik unten). Das betrifft insbesondere die Wahrscheinlichkeit, einen anderen Menschen zu töten. Die Studien stimmen vor allem in einem Befund überein: Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen sind die psychischen Störungen mit dem höchsten Gewaltrisiko – wobei die Belege für Alkohol am deutlichsten ausfallen.
Deshalb wählten der Soziologe Henry J. Steadman und sein Team von den "Policy Research Associates", einem Institut für Gesundheitsforschung im US-Bundesstaat New York, ihre Probanden nach einer neuen Methode aus. In der so genannten McArthur-Studie verglichen die Forscher 1136 kurz zuvor aus einer psychiatrischen Klinik entlassene Patienten zwischen 18 und 40 Jahren mit einer Kontrollgruppe von 519 in deren Nachbarschaft lebenden Menschen. Die Wahl dieser Vergleichsgruppe sollte sicherstellen, dass sich das soziale Umfeld der Patienten und Kontrollpersonen nicht allzu sehr unterschied.
Überraschenderweise verübten die beiden Gruppen in den zehn Wochen nach Entlassung der ehemaligen Patienten etwa gleich viele Gewalttaten – solange weder Alkohol noch Drogen im Spiel waren. Weil psychisch Kranke aber mehr psychoaktive Substanzen konsumierten als Kontrollpersonen, zeigten sie unterm Strich eben doch häufiger aggressives Verhalten als ihre Nachbarn. Verglich man nun jene Expsychiatriepatienten und Nachbarn miteinander, die Alkohol oder Drogen einnahmen, so neigten diese Teilgruppen wieder gleichermaßen zu Gewalttaten. Es ist demnach weniger die psychische Störung als solche, die zu gewalttätigem Verhalten führt, als die Lebensumstände, die mit dieser Störung einhergehen: Armut, soziale Randständigkeit, konfliktbelastetes soziales Umfeld – und nicht zuletzt Alkohol und Drogen.
Als Ursache für diesen Zusammenhang diskutieren Psychiater ein komplexes Gefüge neurobiologischer und psychosozialer Faktoren. Auch wenn viele widersprüchliche Befunde bislang kein schlüssiges Gesamtbild erlauben, schlug der Neurologe und Psychiater Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin, bereits 1999 ein Erklärungsmodell vor. Demnach vermittelt ein niedriger Serotoninspiegel im Gehirn sowohl den Alkoholmissbrauch als auch eine erhöhte Bereitschaft zu aggressivem (und autoaggressivem) Verhalten.
Die Verfügbarkeit von Serotonin unterliegt weniger genetischen als vielmehr sozialen Einflüssen: Tierversuche mit Primaten belegen, dass soziale Isolierung in frühen Entwicklungsphasen den Serotoninspiegel dauerhaft senkt. Die betroffenen Affen neigen in jungen Jahren zu ängstlich-anklammerndem und später zu impulsiv-aggressivem Verhalten.
Das Modell von Heinz entspricht dem modernen Verständnis psychischer Erkrankungen: Verhaltensauffälligkeiten wie aggressives Verhalten gehen demnach mit Veränderungen der Funktionsweise des Gehirns einher. Diese sind ihrerseits aber nicht genetisch determiniert, sondern resultieren sowohl aus frühkindlichen Erfahrungen als auch aus dem aktuellen Wechselspiel mit der Umwelt. Alkohol spielt dabei eine wichtige Rolle.
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