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Psychopharmaka. Medikamente - Wirkung - Risiken


Kaum eine Medikamentengruppe ist in der öffentlichen Meinung heftiger umstritten als die der modernen Psychopharmaka. Mit Begriffen wie "chemische Keule" oder "chemische Zwangsjacke" geraten sie immer wieder in die Schlagzeilen. Häufig geht damit die Vorstellung einher, Psychopharmaka könnten lediglich "symptomatisch" wirken, aber die tatsächlichen Gründe psychischer Störungen nicht beseitigen, die überwiegend in individual- oder sozialpsychologischen Faktoren gesehen werden. Dies vernachlässigt allerdings die große Bedeutung biologischer Momente im heute anerkannten multifaktoriellen Ursachenmodell der Psychiatrie.

Die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland bezahlten 1993 rund 1,6 Milliarden DM für 66 Millionen Verordnungen von Psychopharmaka einschließlich der Schlaf- und Beruhigungsmittel, womit diese Medikamentengruppe an dritter Stelle überhaupt steht. Der großen Bedeutung und der Vielzahl verschiedener Befürchtungen und Erwartungen steht in der Regel ein Mangel an fundierten Kenntnissen über die einschlägigen Stoffklassen gegenüber.

Diese Lücke füllt nun das vorliegende, in der Reihe "C. H. Beck Wissen" erschienene Buch. Otto Benkert, Direktor der Psychiatrischen Klinik der Universität Mainz und gemeinsam mit dem emeritierten Münchener Psychiater Hanns Hippius seit vielen Jahren Herausgeber eines deutschsprachigen Standardwerks zum Thema, stellt in allgemeinverständlicher, jedoch nicht verkürzender Form die wichtigsten Fakten vor.

Einleitend macht Benkert den Leser mit dem jüngsten Stand der psychiatrischen Theoriebildung bekannt, insbesondere mit der ausschließlich phänomenologischen Diagnostik der neueren Klassifikationssysteme. Sie verzichten auf umstrittene ätiologische (ursachenbezogene) Konzepte wie das der klassischen Neurose oder der endogenen Psychose.

Ebenso wie die Insulintherapie des Diabetes strebt die moderne Behandlung mit Psychopharmaka eine möglichst effiziente, sichere und nebenwirkungsfreie Wiederherstellung gestörter psychophysiologischer Funktionen an, was vom negativ besetzten Begriff einer "nur symptomatischen" Wirkung in keiner Weise erfaßt werden kann. Gleichzeitig verzichtet die Psychopharmakotherapie aber damit auf den theoretischen Anspruch, das eigentliche Wesen einer psychischen Erkrankung erfassen zu wollen.

Nach einem kurzen historischen Rückblick auf die somatischen Behandlungsmethoden der Psychiatrie dieses Jahrhunderts erläutert Benkert zunächst die wichtigsten Vorstellungen über die biochemischen Effekte der Psychopharmaka. Er vermittelt nicht nur die Grundlagen des Neurotransmitter-Konzepts und die neurobiologischen Modelle psychischer Erkrankungen, sondern geht auch auf die prinzipiellen Wirkungsweisen der Psychopharmaka ein. Schemazeichnungen erleichtern das Verständnis der physiologischen Vorgänge an den Synapsen der Nervenzellen.

Im Hauptteil des Buches werden die Antidepressiva zur Vorbeugung gegen phasenhafte schwere Verstimmungen, die Neuroleptika gegen psychotische Symptome sowie die Benzodiazepine und andere Schlaf- und Beruhigungsmittel mit ihren theoretisch-pharmakologischen Grundlagen, ihren therapeutischen Möglichkeiten, medizinischen Anwendungsgebieten und unerwünschten Nebenwirkungen vorgestellt. Tabellen geben dem Leser einen raschen Überblick über die Eigenschaften der einzelnen Wirkstoffe. Der Autor behandelt dabei auch wichtige praktische Probleme wie etwa die extrapyramidalen Bewegungsstörungen bei der Behandlung mit Phenothiazin- und Butyrophenon-Neuroleptika oder die Entwicklung von Substanzmißbrauch oder -abhängigkeit durch falsche und überflüssige Benzodiazepin-Verordnungen.

Abschließend kehrt Benkert zu der Frage zurück, weshalb die Psychopharmaka in der Öffentlichkeit häufig mit einem negativen Image behaftet sind. Die Ursachen sieht er nicht nur in einem Informationsdefizit, sondern auch darin, daß diese Arzneimittel zwar eine generelle "Problemlösekapazität", aber keine "Deutungskapazität" enthalten: Sie vermögen zwar die Beschwerden vieler Patienten erheblich zu bessern, jedoch das existentiell wichtige Sinnproblem ihres psychischen Krankseins nicht zu lösen. Die Psychopharmakotherapie wird demnach nur dann auf eine breitere Akzeptanz stoßen, wenn sie deutlicher als bisher vermittelt, daß ihre Wirkstoffe einen aktiven und selbstbestimmten Umgang mit psychischen Störungen überhaupt erst ermöglichen. Insofern darf es auch keinen ideologischen Gegensatz zwischen Psychotherapie und Psychopharmakotherapie mehr geben.

Das vom Autor selbstgesteckte Ziel einer nüchternen Information über die heute gängigen Psychopharmaka für den Laien erreicht das Buch in jeder Hinsicht. Benkert diskutiert auch die umstrittenen Aspekte des Themas kritisch. Vor allem deshalb kann das Werk nicht nur Patienten und ihren Angehörigen, sondern jedem Interessierten empfohlen werden.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1995, Seite 130
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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