Psychosomatik: Krankheit als verkörperte Erzählung
Das menschliche Gehirn spielt uns manchmal die schlimmsten Streiche. Es versucht ständig, eingehende Reize zu erklären und zu kategorisieren. Dabei kann es passieren, dass es aus Informationsbruchstücken, die es vom Körper und dessen Umgebung erhält, nicht existierende Bedrohungen ableitet. Mitunter löst das eine Kettenreaktion aus, die zu starken Beschwerden führen kann – etwa Halluzinationen, Krampfanfällen, Lähmungen bis hin zum Koma.
Suzanne O’Sullivan forscht seit Jahren zu derartigen funktionellen neurologischen Störungen. Die in London ansässige Neurologin interessiert sich besonders für schwer zu diagnostizierende Fälle. Oft sind es Patienten und Patientinnen, die unter epilepsieartigen Anfällen leiden. O’Sullivan hat es sich zur Aufgabe gemacht, falsche Vorstellungen über psychosomatische Erkrankungen zu entlarven – etwa, dass die Betroffenen die Symptome nur vortäuschen. Dazu reiste sie in Gemeinden, in denen sich solche Krankheiten wie Infektionen von Person zu Person übertrugen und ganze Epidemien auslösten. Anhand von oft haarsträubenden Geschichten zeigt sie auf, wie die Störungen Menschen schwer und dauerhaft behindern können – und erklärt, was ihrer Ansicht nach hinter den Beschwerden steckt.
Frau O’Sullivan, Sie behandeln in London vor allem Menschen, die unter Krampfanfällen leiden und deshalb annehmen, sie hätten Epilepsie. Wie viele dieser Erkrankungen sind psychosomatisch bedingt?
Mindestens ein Viertel der an mich überwiesenen Patientinnen und Patienten, die glauben, Epilepsie zu haben, zeigen einzig psychogene, nichtepileptische Anfälle. Diese sind eine verbreitete Reaktion des Körpers auf bestimmte Stresssituationen. Am Beginn steht oft etwas Biologisches, etwa eine Ohnmacht. Ein junger Mensch steigt zum Beispiel in einen überfüllten Zug, in dem es sehr heiß ist, und kippt deshalb um. Das kann im Gehirn eine Angst auslösen, die dazu führt, dass die Person das nächste Mal beim Einsteigen in den Zug denkt: »Ich hoffe, ich werde nicht wieder ohnmächtig.« Der Betroffene beginnt, den Körper auf eine Art und Weise zu beobachten, wie er es normalerweise nicht tun würde. Auf diese Weise können die Symptome eskalieren und schließlich Krampfanfälle entstehen.
In Ihrem aktuellen Buch berichten Sie von mysteriösen Krankheitsausbrüchen, darunter einem in Schweden, der Hunderte von Kindern bettlägerig gemacht hat. Was haben Sie gesehen, als Sie bei den Betroffenen waren?
Ich habe zwei junge Mädchen besucht, zehn und elf Jahre alt. Die Zehnjährige befand sich seit eineinhalb Jahren in einem sonderbaren komatösen Zustand, ihre ältere Schwester seit etwa sechs Monaten…
© Nautilus https://nautil.us/the-neurologist-who-diagnoses-psychosomatics-238305/ (gekürzte Fassung)
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