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Puzzle Menschwerdung. Auf der Spur der menschlichen Evolution.

Aus dem Englischen von Katrin Welge und Jorunn Wißmann. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1997. 356 Seiten, DM 48,–.

Während der letzten dreißig Jahre

hat die verstärkte Suche nach Überresten unserer Hominiden-Vorfahren viele hundert Zeugnisse der Menschwerdung zutage gefördert. Doch schon zuvor wurden bedeutende Funde gemacht, neue Arten benannt, Stammbäume entwickelt. Oft stellten unglaubliche Zufälle und Intuitionen die Weichen.

Ian Tattersall, renommierter Paläoanthropologe am American Museum of Natural History in New York, zeichnet in seinem spannenden Buch die verschlungenen Wege nach, die zu unserem heutigen Kenntnisstand über die Entstehung des Menschen geführt haben. Dabei kommt es ihm besonders darauf an zu zeigen, wie und wodurch sich die Vorstellungen zur Evolution des Menschen seit den Zeiten Charles Darwins (1809 bis 1882) wandelten.

So macht er verständlich, warum man als alt erkannte Fossilien häufig als fehlende Bindeglieder zwischen Menschenaffe und Mensch interpretierte oder das Düsseldorfer Neandertaler-Skelett, den Heidelberger Unterkiefer und einen Schädel aus dem damaligen Rhodesien verschiedenen Arten zuwies. Noch in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts waren drei Zähne Anlaß genug, die neue Gattung Sinanthropus pekinensis einzuführen, die später zur Unterart Homo

erectus pekinensis herabgestuft wurde.

Erst als die Genetik sich zunehmend weiterentwickelte und Mitte der vierziger Jahre die synthetische Theorie der Evolution sich durchsetzte, welche die darwinistischen Vorstellungen von der natürlichen Auslese mit der Veränderung von Genfrequenzen in Populationen verknüpft, war man zunehmend bereit, den Artbegriff weiter zu fassen: Zwei deutlich verschiedene Schädeltypen waren nicht mehr zwingend verschiedenen Arten zuzuordnen, sondern konnten regionale Formen innerhalb ein und derselben Spezies darstellen. Demnach wären die Funde in wenige polytypische Hominidenarten einzuordnen.

Entsprechend provozierten Louis Leakey, Phillip Tobias und John Napier heftige Kritik, als sie 1964 die Art Homo habilis einführten. Viele Forscher wollten die wenigen Fossilfragmente aus der Olduvai-Schlucht in Tansania lieber zu den bekannten Formen Australopithecus und Homo erectus stellen.

Gegen Verwirrungszustände in der Paläoanthropologie gibt es – so Tattersall – ein probates Mittel: die Entdeckung weiterer Fossilien. Ab 1970 waren wie am Fließband neue Funde vom Turkana-See im Norden Kenias hinzugekommen, von denen etliche auch unter Homo habilis eingeordnet wurden. Doch kaum war diese Art endlich allgemein anerkannt, erhob sich die Frage, ob die inzwischen so zahl- und variationsreichen Funde wirklich nur eine Art repräsentierten. Wesentlich beeinflußt durch die in den siebziger Jahren aufkommende Kladistik, die Verwandtschaftsbeziehungen nicht aufgrund allgemeiner Ähnlichkeiten, sondern anhand gemeinsamer abgeleiteter – das heißt neu entstandener – Merkmale ermittelt, kamen immer mehr Forscher zu der Überzeugung, daß das bisher als Homo habilis klassifizierte Material eher zwei frühe Homo-Arten umfasse, Homo habilis und Homo rudolfensis.

Die Kladistik beeinflußte die Paläoanthropologie tiefgreifend und machte die Artenproblematik wieder zu einem Hauptthema, zumal aufgrund der inzwischen großen Fundzahlen bei verschiedenen Spezies – so auch der Lucy-Art Australopithecus afarensis – die Befürchtung aufkam, das Material umfasse mehr als eine Art. Die Betrachtung von Merkmalen und und ihre Einordnung in die Polarität zwischen ursprünglich und abgeleitet ist zweifellos ein großer Vorteil des kladistischen Ansatzes; dennoch hat auch dieser etliche Fallgruben. So besteht kein direkter Zusammenhang zwischen morphologischem Wandel und Artbildung. Parallelentwicklungen und Umkehrungen von Merkmalsausprägungen können in die Irre führen. Viele Merkmale lassen sich nicht einfach als vorhanden oder nicht vorhanden klassifizieren, sondern sind individuell sehr variabel.

Tattersall berichtet von einem Symposium Anfang der achtziger Jahre, auf dem die These diskutiert wurde, der asiatische und der afrikanische Homo erectus seien zwei verschiedene Arten, weil der asiatische über einige spezielle abgeleitete Merkmale verfüge. Spätere Untersuchungen ergaben aber, daß die betreffenden Merkmale nicht nur äußerst variabel sind, sondern ebenso in Afrika vorkommen. Verschiedene Spezialisten wie Philip Rightmire von der Universität des Staates New York sind deshalb nicht davon überzeut, daß eine Abgrenzung auch nur des frühen afrikanischen Homo erectus als eigene Art Homo ergaster hinreichend begründet sei. Tattersall selbst dagegen vertritt diese Abgrenzung (vergleiche seinen Artikel in Spektrum der Wissenschaft, Juni 1997, Seite 64).

Obwohl er anerkennt, daß Artgrenzen nicht am morphologischen Wandel festzumachen sind, schließt er aus dem Befund an den von ihm sehr intensiv untersuchten Lemuren Madagaskars (über sie schrieb er hier im März 1993, Seite 58), daß bei Primaten nur geringe Unterschiede an den Knochen und Zähnen zwischen Arten derselben Gattung bestünden – auch bei den fossilen Arten des Homo. Das wage ich zu bezweifeln. Zum einen beobachten wir oft eine bemerkenswerte Variabilität innerhalb dieser Arten, etwa beim archaischen Homo sapiens, der von einigen Forschern auch als Homo heidelbergensis bezeichnet wird. Zum anderen hat in der Homo-Linie ein Selektionsdruck gewirkt, der das Überleben immer mehr von der Lernfähigkeit – der Anpassung mit kulturellen Mitteln – abhängig machte und so schließlich auch unser außergewöhnlich leistungsfähiges Gehirn hervorbrachte. Der Artbildungsprozeß dieser Hominiden ist also kaum pauschal mit dem anderer Säugetiere, etwa der Lemuren, gleichzusetzen.

Die Zahl der Arten innerhalb der Gattung Homo wie auch die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen ihnen bleiben zweifellos heiß diskutierte Themen, für die keine einfachen Lösungen in Sicht sind. Paläoanthropologen sind häufig gezwungen, ihre Überzeugungen aufgrund neuer Funde zu überprüfen und gelegentlich – wenn auch weniger begeistert – zu revidieren. Diese Tradition verleiht, so Tattersall, dem Studium der Menschwerdung ihren besonderen Reiz, denn beim Betreiben unserer eigenen Ahnenforschung ist das zähe Ringen um den Fortschritt vielleicht am wichtigsten.

Ein fesselndes Werk über die dornige, aber auch von Sensationen gekrönte Geschichte der Paläoanthropologie.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1999, Seite 79
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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