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Pyramidenpackungen

Flache Verpackungen sind völlig aus der Mode. Das richtige Einkaufserlebnis stellt sich erst ein, wenn man Tennisbälle und Kegelkugeln in drei-, vier- oder höherdimensionalen Gebinden bezieht.

Die Sportartikel-Versandfirma, in der einst die Studentin Lilli Weishaupt ihren Chef mit der Wurst-Vermutung beeindruckt hatte (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1993, Seite 10), war von der Debatte um den Standort Deutschland so beeindruckt, daß sie eine Unternehmensberatung namens Marktkraft mit einer gründlichen Neuorganisation beauftragt hatte. Seither beschäftigte sich die Führungsebene der Firma nur noch damit, wie das Marktkraft-Prinzip für das 21. Jahrhundert "Nicht der Inhalt, sondern die Verpackung zählt" umzusetzen sei. In welcher Hülle sollte man die Tennisbälle, Billard- und Kegelkugeln an den Kunden bringen? Auf einem der unzähligen Meetings war Lilli immerhin als nicht stimmberechtigte Beobachterin zugelassen.

"Wie Sie hier sehen", begann Friedhelm Labes, der Verbraucherwunsch-Berater von Marktkraft, "habe ich eine Liste aller Verpackungstypen aufgestellt, die zur Zeit bei Ihnen zum Einsatz kommen. Am häufigsten sind In-Line-Unipack-Systeme..."

"Was bitte?"

"Pappröhren. Eindimensional, sozusagen. Hoffnungslos veraltet. Außerdem verwenden Sie noch zwei Arten flacher – quasi zweidimensionaler – Packungen, dreieckige und quadratische" (Bild 1).

Oswald Otto Scheffle, der Marketing-Leiter der Firma, beeilte sich zu erklären, warum. "Die Dreieckspackungen sind für Poolbillard. Fünfzehn Kugeln passen gerade in ein gleichseitiges Dreieck. So werden sie auch zu Beginn eines Spieles aufgebaut" (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1995, Seite 12). "Und die quadratischen Packungen nehmen wir für Bocciakugeln, die man im Viererpack zu kaufen pflegt."

"Aber Sie haben noch viele andere Anzahlen im Angebot."

"Ja, wir legen Wert auf ein vollständiges Sortiment."

Labes studierte eine Liste. "Sehr interessant. Sie bieten auch Packungen mit 200×200 Stück an. Wer, glauben Sie, braucht vierzigtausend Tennisbälle auf einmal?"

"Wir haben diese Größe für Grand-Slam-Turniere eingeführt", erklärte Scheffle. "Der Verbrauch an Tennisbällen ist enorm, und wir hofften, damit die Großeinkäufer anzusprechen."

"Aha. Wie viele derartige Packungen haben Sie bisher verkauft?"

Scheffle blätterte äußerst nervös in seinen Unterlagen, wurde rot und sagte: "Ja, sozusagen, äh... keine."

"Und von den Packungsgrößen 199×199, 198×198 und so weiter bis hinunter zu 7×7 haben Sie auch keine verkauft."

Scheffle wurde noch nervöser. "Nein, aber es ist doch ungünstig, Lücken im Sortiment..."

"Das ganze Sortiment ist eine Lücke, Herr Scheffle. Eine gewaltige Verschwendung von Ressourcen. Allein die Lagerhaltung..." Labes wedelte vorwurfsvoll mit der Liste. "Wie auch immer. Flache Packungen sind auf jeden Fall völlig altmodisch."

Scheffle schaute erwartungsvoll auf. "Was schlagen Sie dann vor?"

"Hyperraumpackungen!" erwiderte Labes. "Den großen Sprung von zwei zu drei Dimensionen, vergleichbar der innovativen Großtat Otto Lilienthals!"

"Mein zweiter Vorname ist Otto", sagte Scheffle mit bedeutungsvollem Unterton. Seine Eltern hatten ihn nach Lilienthal genannt, weil sie hochfliegende Träume mit dem Stammhalter verbanden. "Oswald Otto Scheffle."

"O. O. Scheffle, die doppelte Null-Lösung", flüsterte Lilli.

"Und dann von drei Dimensionen zu vier, fünf, tausend..." fuhr Labes ungerührt fort.

"Wie packen Sie Tennisbälle in vier Dimensionen?" fragte Lilli.

"Zuerst müssen wir die Möglichkeiten der dritten Dimension ergründen", antwortete Labes. "Dann erkläre ich Ihnen, wie man die Dimensionalität des Produkts erhöht."


Pyramidenzahlen

Labes räusperte sich nur kurz. "Eine bevorzugte Geometrie für dreidimensionale Packungen ist die Pyramide mit quadratischer Grundfläche. Wie Sie alle wissen, ist die Pyramide ein wirkmächtiges Symbol, das auf die alten Ägypter zurückgeht. Mehr noch: Pyramiden hindern Rasierklingen am Rosten." Lilli konnte ein Kopfschütteln nicht unterdrücken, aber Labes sprach einfach weiter: "Damit lösen Sie Ihr Lagerproblem! Legen Sie einfach verschieden große quadratische Packungen aufeinander, jede eins kleiner als die vorige, brauchen Sie dabei Ihre Bestände an flachen Packungen auf, und Sie haben Pyramidenpackungen" (Bild 2). Das hatte man noch nie so gemacht. Scheffle suchte fieberhaft nach einem Gegenargument und fand schließlich eines: Das Lager enthielt verschiedene Mengen unterschiedlich großer quadratischer Packungen, so daß unvermeidlich ein Gebinde eher als die anderen ausgehen würde. "Dann öffnen Sie doch einfach Packungen und stellen den Inhalt neu zusammen." Scheffle machte heftige Abwehrbewegungen. Er fürchtete, den Überblick zu verlieren. "Aber bitte nicht mehr als eine auf einmal. Stellen Sie sich nur vor, mehrere Packungen zugleich... Diese Komplexität!" "Nur eine Packung..." grübelte Lilli, ließ die Herren weiter diskutieren und befaßte sich in aller Ruhe mit ihrem Taschenrechner und einem Blatt Papier. Nach einer Weile mischte sie sich wieder ins Gespräch ein. "Ich habe ausgerechnet, wie viele Bälle in große Pyramiden mit quadratischer Grundfläche passen. Ich nenne diese Anzahlen Pyramidenzahlen, genauso wie man die Anzahl der Kugeln, die in quadratische Packungen passen, Quadratzahlen nennt. Die Pyramidenzahlen sind P1=1 P2=1+4=5 P3=1+4+9=14 und so weiter. Man könnte sie eine nach der anderen ausrechnen, aber es gibt eine allgemeine Regel. Gerade so, wie es eine einfache Formel für die n-te Quadratzahl gibt..." "Und zwar?" fragte Scheffle. "Nun, n2. Wie der Name schon sagt. Und die n-te Dreieckszahl ist n(n+1)/2. Schreiben wir das als Qn=n2 Dn=n(n+1)/2. Ich habe soeben ausgerechnet, daß die n-te Pyramidenzahl Pn=n(n+1)(2n+1)/6 ist. Daraus kann man herleiten, daß P24=24×25×49/6=4900 ist, und das ist eine Quadratzahl. Denn für n=24 ist jede der Zahlen n/6, n+1 und 2n+1 eine Quadratzahl – ein sehr ungewöhnliches Zusammentreffen. Einerlei – jedenfalls ist P24=1+22+32+...+242=4900=702. Wir können also die 70×70-Packungen öffnen – immer nur eine auf einmal, Herr Scheffle – und die Bälle darin zu Pyramiden zusammensetzen." "Ah ja. Geht das auch für andere Quadratpackungen?" "Nun, wir müssen das 1×1-Paket nur umetikettieren. Es ist eine Pyramide der Höhe 1." "Sehr witzig. Irgendwelche anderen Quadrate?" "Ich kann keine finden", antwortete Lilli. Der britische Mathematiker George N. Watson (1886 bis 1965) hat bewiesen, daß P1 und P24 die einzigen Quadratzahlen unter den Pyramidenzahlen sind. Das war lange vermutet worden, aber ein Beweis stand aus. Für die übrigen Packungen, die nicht gerade die Größe 70×70 hatten, mußte also eine andere Möglichkeit gefunden werden. "Wie wäre es mit Tetraedern, also Pyramiden mit dreieckiger Grundfläche?" schlug Lilli vor. "Das wäre auch sehr günstig, weil man die Verpackungsfolie aus einem rechteckigen Stück zusammenlegen kann" (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1995, Seite 10). "Und man muß keine Packungen öffnen. Stapeln Sie einfach Dreiecke aufeinander. Es ergeben sich die Tetraederzahlen Tn. Die ersten sind T1=1 T2=1+3=4 T3=1+3+6=10 T4=1+3+6+10=20 T5=1+3+6+10+15=35 und so weiter" (Bild 3). "Gibt es dazu eine Formel?" wollte Scheffle wissen. "Ja. Tn=n(n+1)(n+2)/6. Die ersten beiden Tetraederzahlen sind offenbar Quadratzahlen, und ich finde noch mindestens eine weitere." Können Sie das auch? Sie kommt vor n=50. Die Antworten finden Sie am Schluß des Artikels.

Tetraeder höherer Dimension

"Wir brauchen trotzdem noch neue Ideen", sagte Labes, "sonst bleiben uns wieder flache Packungen übrig." "Zum Beispiel?" fragte Scheffle. "Vierdimensionale Packungen." "Wie soll das gehen?" "Die Zeit ist die vierte Dimension. Sie wissen doch, Einstein, Relativitätstheorie und so." "Ach so. Zeitdilatation. Unsere Tennisbälle altern langsamer, wenn wir sie mit einer Rakete zu einem fernen Stern und zurück befördern?" "Nein, nein, viel einfacher. Zum Beispiel könnten wir 7-Tage-Lieferungen anbieten. Am ersten Tag erhält der Kunde eine Packung mit der ersten Tetraederzahl T1, tags darauf eine mit der zweiten Tetraederzahl T2, und so weiter bis T7 am siebten Tag. Das ist dann so etwas wie ein vierdimensionales Tetraeder. Allgemein nennt man eine solche Figur einen vierdimensionalen Simplex. Und regelmäßig wiederholte Verkäufe sind gut fürs Geschäft. Der Kunde behält uns unauslöschlich im Gedächtnis." Lilli arbeitete schon wieder mit dem Taschenrechner. "Das wäre dann die siebente vierdimensionale Tetraederzahl: T47=T1+T2+T3+T4+T5+T6+T7 =1+4+10+20+35+56+84 =210. Damit können wir die Dreierpacks mit der Seitenlänge 20 umpacken. Allgemein gilt für vierdimensionale Tetraeder der Kantenlänge n die Formel T4n=n(n+1)(n+2)(n+3)/24." "Sind irgendwelche von diesen vierdimensionalen Tetraederzahlen Quadratzahlen?" frage Scheffle, der zeigen wollte, daß er des Mitdenkens fähig war. "Ich habe keine gefunden – außer der ersten", antwortete Labes souverän. "Vielleicht geht etwas mit fünfdimensionalen Tetraederzahlen." Lilli hatte auf der Stelle eine Formel: T5n=T41+T42+T43+...+T4n =n(n+1)(n+2)(n+3)(n+4)/120 "Aber wie liefern wir eine fünfdimensionale Packung aus?" fragte sie. "Jeden Monat eine größere vierdimensionale Lieferung, die ihrerseits aus mehreren Paketen an aufeinanderfolgenden Tagen besteht", erklärte Labes. "Wir benutzen zwei verschiedene Zeitskalen." "Oha", machte Scheffle zweifelnd. Er fürchtete logistische Probleme. "Ich weiß nur noch nicht, ob irgendwelche Quadratzahlen darunter sind", sagte Labes. Lilli holte ihren Taschenrechner heraus und begann zu arbeiten. Zwanzig Minuten später sagte sie: "Schade!" "Was denn?" "Nun, T5120=225150024." "Und?" "Es fehlt nur eins an 150052. Meinen Sie, wir könnten auf den einen Ball verzichten?" "Ach, so große Quadratpackungen haben selbst wir nicht", erwiderte Scheffle. Sie probierten noch 6-, 7- und 8dimensionale Tetraederzahlen mit den Formeln T6n=n(n+1)(n+2)(n+3)(n+4)(n+5)/720 T7n=n(n+1)(n+2)(n+3)(n+4)(n+5)(n+6)/5040 T8n=n(n+1)(n+2)(n+3)(n+4)(n+5)(n+6)(n+7)/40320 durch. Die Formeln folgen einem erkennbaren Muster; die Zahlen 720, 5040 und 40320 sind Fakultäten: 720=6!=1×2×3×4×5×6 5040=7!=1×2×3×4×5×6×7 40320=8!=1×2×3×4×5×6×7×8; das gleiche Schema gilt auch für niedrigere Dimensionen. In einem Fall ergibt sich eine Quadratzahl (ungleich 1). Welcher ist das?

Weitere Verpackungen

Plötzlich fiel Scheffle etwas ein. "Wie steht es denn mit den Dreieckszahlen? Wir können ja auch Dreieckspackungen umpacken. Sind irgendwelche Ihrer multidimensionalen Tetraederzahlen zugleich Dreieckszahlen?" Lilli arbeitete wieder mit dem Taschenrechner. "Für drei Dimensionen gibt es allerlei. Ich finde T3=10=D4 T8=120=D15 T20=1540=D55, und es könnte noch mehr geben." Es gibt noch genau eine weitere Dreieckszahl Tn mit n<=1000. Können Sie diese bestimmen? Gibt es noch größere? "Es gibt auch eine ganze Reihe Dreieckszahlen unter den T4n", ergänzte Lilli, "und unter den höherdimensionalen auch, bis zur neunten Dimension." Finden Sie auch welche? "Wenn wir jetzt schon die Dreieckspackungen aufbrechen", sagte Labes, "könnten wir ja auch auf die ursprüngliche Idee mit den Quadrat-Pyramiden zurückkommen..." Sind irgendwelche Pyramidenzahlen auch Dreieckszahlen? Welche? "Wie wäre es mit Oktaederpackungen?" fragte Lilli. Zwei Pyramiden, eine auf einer quadratischen Grundfläche, die andere darunter" (Bild 4). Oktaederzahlen berechnet man mittels On=Pn+Pn-1. Pn steht für eine Pyramide, deren Grundfläche ein Quadrat der Seitenlänge n ist; darunter wird eine um eins kleinere Pyramide gepackt (sonst würde das zentrale, größte Quadrat doppelt gezählt). Finden Sie eine direkte Formel? Sind irgendwelche Oktaederzahlen Dreiecks- oder Quadratzahlen? Offensichtlich war Labes auf diese Idee nicht vorbereitet. Als auch noch sechsseitige Pyramiden, Oktaederstümpfe und unregelmäßigere Verpackungsformen zur Diskussion gestellt wurden, konstatierte er hastig, man habe schon erhebliche Fortschritte erzielt, und ging zum nächsten Tagesordnungspunkt über, dem er überragende Bedeutung beimaß: der Farbe für das neue Firmenlogo.

Antworten

T48=19600=1402 ist außer T1=1 und T2=22 die einzige Tetraederzahl, die zugleich Quadratzahl ist. Höherdimensionale Tetraederzahlen, die gleichzeitig Quadratzahlen sind: Das einzige bislang bekannte Beispiel ist P72=36=62. Dreieckszahlen unter den Tetraederzahlen: T34=7140=D3119. Ob es noch größere Beispiele gibt, weiß ich nicht. Dreieckszahlen unter den Tdn. Es folgt eine Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit: T43=15=D5 T47=210=D20 T52=6=D3 T53=21=D6 T511=3003=D77 T515=11628=D152 T63=28=D7 T65=210=D20 T69=3003=D77 T73=36=D8=Q6 T74=120=D15 T83=45=D9 T87=3003=D77 T810=24310=D220 T92=10=D4 T99=24310=D220 Bestimmte Zahlen, etwa 3003 und 24310, treten mehrfach auf. Es gibt keinen offensichtlichen Grund dafür; siehe jedoch "Tausendundeine Koinzidenz", Spektrum der Wissenschaft, August 1993, Seite 10. Pyramidenzahlen unter den Dreieckszahlen. Wahrscheinlich gibt es mehr als die folgenden Beispiele: P5=55=D10 P6=91=D13 P85=208355=D645 Die Formel für Oktaederzahlen berechnet man folgendermaßen: On=Pn+Pn-1 =n(n+1)(2n+1)/6+(n-1)n(2n-1)/6 =n((n+1)(2n+1)+(n-1)(2n-1))/6 =n(4n2+2)/6 =n(2n2+1)/3. Es ergeben sich unter anderem folgende Koinzidenzen: O2=6=D3 O7=231=D21 O12=1156=Q34.

Literaturhinweise

- The Penguin Dictionary of Curious and Interesting Numbers. Von David Wells. Harmondsworth, Middlesex 1986.

– Der Ozean der Wahrheit oder Die fünf Arten zu denken. Von Rudy Rucker. Wolfgang Krüger, Frankfurt 1988.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1996, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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