Feuerkugel: Rätsel um den Neuschwanstein-Meteoriten gelöst?
Mehr als ein Jahr nach der spektakulären Feuerkugel im Frühjahr 2002 scheint der Meteoriten-"Fall" mit dem Fund eines dritten Bruchstücks weitgehend aufgeklärt.
Am Abend des 6. April 2002 hatte der Fall einer Feuerkugel im österreichisch-bayerischen Grenzgebiet viel Aufsehen erregt (siehe Spektrum der Wissenschaft 10/02, Seite 12). Nun kommt zunehmend Licht in den Ablauf des Ereignisses. Der Autor – Physiker und Bergsteiger – konnte kürzlich auf Grund verfeinerter Berechnungen das mit knapp drei Kilogramm vorerst größte Bruchstück des Meteoriten bergen, der nach dem nahe gelegenen Schloss Neuschwanstein benannt wurde.
Bereits drei Monate nach dem Aufleuchten der Feuerkugel war ein erstes Bruchstück von 1750 Gramm Masse gefunden worden. Wissenschaftler der Max-Planck-Institute in Mainz und Heidelberg untersuchten den außerirdischen Brocken gründlich und identifizierten ihn als äußerst seltenen Enstatit-Chondriten des Typs EL6. Dies überraschte die Forscher, denn zunächst hatte man wegen der frappierenden Bahngleichheit mit dem 43 Jahre früheren Meteoritenfall von Pribram (Tschechien) einen gewöhnlichen H5-Chondriten erwartet. Das wertvolle Stück ist inzwischen im Rieskrater-Museum Nördlingen dauerhaft für die Öffentlichkeit zugänglich.
Die nächste Besonderheit brachte der Fund eines zweiten, sehr ähnlichen Stückes von 1630 Gramm Masse im Mai 2003. Es war rund einen Kilometer nördlich vom ersten niedergegangen und lässt auf hohe Geschwindigkeiten der Fragmente quer zur Flugrichtung des Ursprungskörpers schließen. Dieser muss demnach außerordentlich heftig zerborsten sein, was durch einen beobachteten hellen Lichtausbruch in knapp 22 Kilometer Höhe untermauert wird.
Meteoritensuche mit Computer und Internet
Auch das dritte und neueste Fundstück verblüfft zunächst durch seine Fundlage. Es lag, bezogen auf die Flugrichtung, hinter seinen kleineren Brüdern und zwar viel weiter rückwärts, als man nach seiner Masse von fast 3000 Gramm hätte erwarten können. Der Grund dafür liegt in der für die Aerodynamik maßgeblichen Form, die letztlich den Schlüssel zum Verständnis des Falls liefert.
Eigentlich hatten die Besonderheiten aber schon mit der Leuchtspur des Ursprungskörpers – des so genannten Meteoroiden – begonnen. Mit Hilfe von Aufzeichnungen des Europäischen Feuerkugelnetzes konnte sie räumlich rekonstruiert werden. Sie begann in 85 Kilometer Höhe bei Schwaz im Inntal und endete über dem Ammergebirge in einer mit 16 Kilometer ungewöhnlich niedrigen Höhe. Experten vom Observatorium Ondrejov bei Prag errechneten daraus ein mögliches Einschlagsgebiet von einigen Quadratkilometern Größe. Die Hauptmasse wurde zunächst auf 15 Kilogramm, später auf immerhin noch 7 Kilogramm taxiert. Die Jagd nach ihr blieb jedoch trotz mehrerer Suchexpeditionen erfolglos.
Die Herausforderung durch das ungelöste Rätsel in den vertrauten Hausbergen des Autors begann recht einfach mit der Frage, wie sich ein mit hoher Geschwindigkeit in die Erdatmosphäre eindringender Meteoroid eigentlich verhält. Man kann sich die Flugbahn vorstellen wie die eines hart schräg nach unten geschlagenen Federballs. Anfangs zischt er geradlinig durch die Luft, wird dann stark abgebremst und fällt schließlich buchstäblich wie ein Stein fast senkrecht zu Boden, nur noch abgetrieben durch den Wind.
Genaueres lieferte im nächsten Schritt ein physikalisches Modell, für das unter anderem die Windverhältnisse zur Zeit und am Ort des Ereignisses bis in große Höhen rekonstruiert werden mussten. Das Internet erwies sich bei alledem als ergiebige Quelle für die benötigten Daten. Bald gab das Modell die veröffentlichten Eckdaten der Leuchtspur und den Fundort des ersten Findlings richtig wieder und erlaubte es, hypothetische Fragmente mit dem Computer zu simulieren.
Die notwendige Zusatzinformation für eine gezielte Suche kam von der Arbeitsgruppe um Pavel Spurny vom Ondrejov-Observatorium. Die Wissenschaftler hatten bereits kurz nach dem großen Lichtblitz nach akribischer Analyse der Leuchtspur einen letzten Geschwindigkeitswert für ein mögliches Hauptfragment abgeschätzt. Dieser ziemlich niedrige Wert von 8,7 Kilometern pro Sekunde in 19,7 Kilometer Höhe wollte zunächst nicht so recht ins Bild passen. Er deutete eher auf einen kleineren Körper oder einen mit besonders hoher Luftreibung hin.
Das nach der Modellrechnung dazu passende Einschlagsgebiet lag nahe der österreichisch-bayerischen Grenze und maß etwa 300 mal 700 Quadratmeter. Nur ein Teil dieses Areals in Höhen zwischen 1400 und 1800 Metern ist gut begehbar. Der andere Teil führt in extreme Steilhänge und dichte Latschenfelder. Angesichts der vielen Unsicherheiten und nach einem zwölf-Stunden-Alleingang im unwegsamen Gelände war der Autor dann doch freudig überrascht, als er rechtzeitig zum Jahrestag des ersten Fundes den neuen Meteoriten vor sich hatte: Dieser präsentierte sich auf einer zwar abgelegenen, aber provozierend offenen Geröllhalde nur 120 Meter abseits vom Zentrum des Suchgebiets.
Der Findling hat eine Masse von 2844 Gramm und ist zu fast neunzig Prozent von einer Schmelzkruste bedeckt. Das raue Bergklima hat ihm schon etwas stärker zugesetzt als seinen Vorgängern. Vor allem aber unterscheidet er sich durch seine lang gestreckte Form. Sie erklärt nachträglich die stärkere Abbremsung und den Einschlagsort.
Das Schicksal der Feuerkugel
Der Lohn der Mühe besteht über den Fund hinaus in dem in sich schlüssigen Bild, welches das Modell auf Grund weniger einfacher Annahmen vom Schicksal der Feuerkugel zeichnet. Demnach traf der Meteoroid mit einer Gesamtmasse von etwa 300 bis 400 Kilogramm mit 21 Kilometern pro Sekunde auf die obersten Luftschichten. Beim Zusammenprall mit den Luftmolekülen wurde er regelrecht sandgestrahlt und oberflächlich angeschmolzen. Durch die Aufheizung platzten zusätzlich kleinere und größere Splitter von ihm ab, sodass er nach etwa vier Sekunden und 83 Kilometern Weg durch die Atmosphäre auf rund ein Sechstel geschrumpft war. Das Aufsehen erregende Leuchten und das Geräusch der Überschall-Stoßwelle steigerte sich dabei zum Furioso.
Hätte er seinen Weg als kompakter Brocken an einem windstillen Tag fortsetzen können, hätte er durchaus ein Loch in das Dach von Schloss Neuschwanstein schlagen können. So gesehen haben die Namensgeber des ersten Findlings eine weitsichtige Wahl getroffen. Tatsächlich aber wehte in der Höhe ein kräftiger Wind aus Nordnordwest, der während des minutenlangen freien Falls für einen Versatz von etwa zwei Kilometern sorgte. Damit war eher das Dach des königlichen Jagdhauses in der Bleckenau gefährdet. Doch auch dort schlug nichts ein, weil der Brocken während der immensen Bremsung mit mehr als 1300facher Erdbeschleunigung hoch über dem Gipfel des Schellschlicht zerbarst, nur wenige Zehntelsekunden bevor er das Schlimmste überstanden gehabt hätte. Was von ihm übrig blieb, sind die drei bisher geborgenen Meteoriten, eine unbekannte Anzahl weiterer Fragmente von maximal einem Kilogramm Masse und viele Splitter bis herab zu Staubkörnern. Ein Bruchstück, das noch größer ist als unser jüngster Fund, wird zur Abrundung des Bildes nicht benötigt. Freilich ist es auch nicht auszuschließen. Es könnte zum Beispiel als "dynamischer Zwilling", der die gleiche Größe und die gleichen Flugeigenschaften wie das jetzt aufgefundene Stück hätte, durch die Analyse geschlüpft sein.
Bedauerlicherweise erlaubt die Schärfe der Beobachtungsdaten kein endgültiges Urteil. Dazu bräuchte man vor allem hoch aufgelöste Aufnahmen der Feuerkugel, auf denen sich die Hauptfragmente abzeichnen. Die Technik dafür gibt es bei den Forschern in Ondrejov, nämlich automatische Kameras mit lichtstarker und hoch präziser Zeiss-Fisheye-Optik.
Doch ausgerechnet dieser Station war die Sicht verstellt. Die deutschen Stationen des Feuerkugelnetzes hingegen arbeiten noch mit Kleinbildkameras, die den Nachthimmel indirekt über zwar sehr genau gewölbte Spiegel aufnehmen, dabei aber nur eine geringe Auflösung erzielen. Angesichts der spannenden Beiträge zur Geschichte unseres Planetensystems, welche die interplanetarische Forschung mit sparsamem Aufwand leistet, würde man sich die vergleichsweise geringen Investitionen in die fortgeschrittenere Technik wünschen. Je eine Station in Deutschland und Österreich, strategisch gut platziert, ergäben schon eine erhebliche Verbesserung.
Es bleibt die Frage nach dem Schicksal des jüngsten Findlings. Er ist buchstäblich in juristisches Niemandsland gefallen, denn in der Rechtsprechung kommt ein Körper wie er schlicht nicht vor. Am ehesten ist er noch als – wenn auch außerirdisches – Mineral einzuordnen, für dessen Entnahme aus der Natur nur die Einschränkung auf zerstörungsfreie Methoden festgelegt ist. Das erklärte Interesse des Finders besteht darin, die wissenschaftliche Auswertung sicherzustellen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Schließlich entwickelt sich der Fall mehr und mehr zum außergewöhnlichsten einer Hand voll weltweit, bei denen Beobachtung, Funde und wissenschaftliche Interpretation so voll und ganz zusammenpassen. Und auf die nächste Überraschung darf man schon gespannt sein.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2003, Seite 80
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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