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Rätselhafter Schlafzwang

Ständige Müdigkeit, unbeherrschbare Schlafattacken und plötzliche Muskellähmungen sind Anzeichen für Narkolepsie – eine schwere organische Störung der Schlafregulation. Vermutlich schädigt das eigene Immunsystem eine für Schlaf verantwortliche Hirnstruktur.


Eine Gruppe Jugendlicher feiert im Partykeller von Karins Eltern. Die Stimmung ist ausgelassen. Georg erzählt gerade einen Witz. Als Karin lacht, sinkt sie plötzlich zu Boden – wie vom Schlag getroffen. Völlig reglos bleibt sie liegen. Rasch werden die Eltern der 17-Jährigen geholt. Sie versichern den Kameraden, dass Karin solche "Anfälle" schon häufiger gehabt habe und diese meist in Sekunden vorbeigingen. Doch diesmal dauert der merkwürdige Ohnmachtsanfall länger als gewöhnlich.

Kurze Attacken von totaler oder teilweiser Muskelschwäche (Kataplexie) gehören zu den typischen Symptomen von Narkolepsie, einer krankhaften Störung der Schlaf-Wach-Regulation. Das junge Mädchen bleibt während des Anfalls bei vollem Bewusstsein und erinnert sich später an alles, was um es herum geschah und gesprochen wurde. Karin kann den Freunden, die sich zu verabschieden beginnen, aber nicht signalisieren, dass sie nicht fortgehen sollen. Nach fünf Minuten hört die Attacke plötzlich auf. Karin steht auf, und der Alltag hat sie wieder.

Erst seit kurzem leidet sie an solchen Zusammenbrüchen. Sie hat schon welche erlitten, die fast eine halbe Stunde anhielten. Fast immer trifft sie der Anfall in einer völlig unpassenden Situation. Es dauerte einige Zeit, bis die Ärzte bei ihr eine Narkolepsie diagnostizierten.

Narkolepsie – im Volksmund auch als "Schlafsucht" oder "Schlafkrankheit" bekannt – ist immer noch eine weitgehend unverstandene neurologische Erkrankung (nicht zu verwechseln mit der ebenfalls "Schlafkrankheit" genannten tropischen Infektionskrankheit). Bei einem kataplektischen Anfall geht zwar die Skelettmuskelspannung verloren, das Bewusstsein aber nicht. Der Tonusverlust wird häufig durch heftige Gemütsregungen ausgelöst: besonders oft durch Lachen, aber auch durch Schreck, Ärger, Überraschung, Nervosität oder plötzliche Verlegenheit. Manchmal tritt der Zustand bei starker körperlicher Anstrengung oder beim Geschlechtsverkehr auf.

Am unangenehmsten aber empfinden viele Narkoleptiker ein weiteres Symptom der Krankheit: die fast permanente Schläfrigkeit und schwere Müdigkeit und den oft unwiderstehlichen Drang zum Schlafen, der sie tagsüber ungewollt kurz einnicken lässt. Die meiste Zeit fühlen sie sich so übermüdet, als hätten sie nächtelang kein Auge zugetan. Trotzdem schlafen sie nachts in der Regel sehr schlecht und sind stundenlang wach. Kurze Nickerchen zwischendurch, wie es den Betroffenen empfohlen wird, erleben sie zwar als erfrischend; doch bald kehrt ein starkes Verlangen nach Schlaf wieder. Die Schläfrigkeit übermannt sie dann in den unpassendsten, nicht selten auch gefährlichen Situationen, etwa im Straßenverkehr. Ohne ärztliche Behandlung mit Medikamenten beeinträchtigt Schlafsucht vielfach die Leistungen der Schlafkranken in Schule und Beruf. Aber auch die gesamte Lebensführung ist dadurch erheblich betroffen.

Erst in den letzten Jahren beginnen Wissenschaftler die Ursachen von Narkolepsie zu erkennen. Zum Beispiel haben meine Kollegen und ich die Hirnregionen identifiziert, die anscheinend bei einer Kataplexie betroffen sind. Offensichtlich handelt es sich dabei um jene Gebiete, die im Traum Muskelbewegungen verhindern. Erstmals fanden wir auch bei Schlafsucht in bestimmten Hirnregionen Anzeichen für eine neuronale Degeneration. Andere Wissenschaftler isolierten ein Gen, das bei narkoleptischen Hunden mutiert ist – auch bei Tieren kommt nämlich eine Krankheit mit ähnlichen Symptomen vor. Besonders interessant ist der Verdacht von Immunologen, dass Schlafsucht eine Autoimmunkrankheit sein könnte. Dann würde das Immunsystem fälschlicherweise körpereigenes Hirngewebe zerstören.

Zu den weiteren klassischen Symptomen der Narkolepsie zählen "Schlaflähmungen" beim Einschlafen und Aufwachen sowie "hypnagoge Halluzinationen". Fast jeder Gesunde hat schon einmal erlebt, dass er aufwacht und sich nicht bewegen kann. Vielen Narkoleptikern widerfährt dies täglich. Dabei haben sie – manchmal auch tagsüber – oft ausgesprochen lebhafte, meist angstvolle Träume, in die häufig Elemente der Umgebung einbezogen sind. Solche Trugwahrnehmungen, die der Träumende als völlig wirklich erlebt, treten vor allem bei großer Müdigkeit auf. Allerdings ist das Krankheitsbild jedes Narkoleptikers anders. So variieren etwa die Neigung zur Kataplexie und zum unbeherrschten Einschlafen.

Gewöhnlich treten die ersten Anzeichen von Narkolepsie im zweiten oder dritten Lebensjahrzent auf. Die Symptome verschlimmern sich in den nächsten Jahren und stabilisieren sich anschließend für den Rest des Lebens auf demselben Niveau. Nach medizinischen Erfahrungen verschwindet die Krankheit nicht wieder.

Außenstehende ahnen meist nicht, wie viele Mitmenschen an dieser Krankheit leiden. Sogar viele Schlafkranke selbst wissen nicht, dass ihr Problem medizinisch fassbar ist. Auch Ärzte erkennen die Symptome vielfach nicht. In den USA, ähnlich wie in Europa, ist vermutlich jeder Zweitausendste oder sogar Tausendste betroffen. In Deutschland gibt es demnach derzeit schätzungsweise 25000 Narkoleptiker, die wegen ihrer Schlafstörungen in Behandlung sind. Doch vermutlich ist die Krankheit nur bei einem kleinen Teil von ihnen richtig erkannt. Insgesamt, so schätzen manche Schlafforscher, könnten sich in Deutschland sogar bis zu 100000 Menschen mit Narkolepsie herumquälen, ohne dies zu wissen. In Japan ist eine Person von 600 Narkoleptiker, in Israel hingegen nur eine von einer halben Million.

Bei Narkolepsie funktionieren die Schlafkontrollmechanismen nicht mehr richtig. Normalerweise ändert sich die Gehirnaktivität während des Schlafs zyklisch: Phasen des so genannten REM-Schlafs (REM nach englisch = rapid eye movement, rasche Augenbewegungen) und Non-REM-Schlafs lösen einander ab.

In der Non-REM-Phase schläft der Mensch ruhig und oft tief. Die Muskulatur ist entspannt, aber nicht völlig schlaff. Der Atem geht regelmäßig, die Großhirnrinde erzeugt hochfrequente Wellen, und das Gehirn verbraucht besonders wenig Energie.

Ganz anders beim REM-Schlaf: Zwar bemerkt der Mensch auch jetzt nicht, was um ihn her vorgeht; doch atmet er unruhig, und das Herz schlägt unregelmäßig. Unter den geschlossenen Lidern bewegen sich die Augen heftig. Ähnlich wie bei wacher Aufmerksamkeit entstehen in der Großhirnrinde schnelle, unregelmäßige niederfrequente Wellen. Der Schläfer träumt lebhaft, und das Gehirn setzt oft mehr Energie um als manchmal im Wachzustand. Die Skelettmuskulatur verliert währenddessen ihren Tonus. Nur hin und wieder zuckt der Träumer.

Gesunde Menschen fallen nachts zuerst in einen Non-REM-Schlaf und rund 90 Minuten später in die erste Traumphase. Bei Narkoleptikern setzt aber häufig gleich eine REM-Phase ein. Dies und einige der anderen Symptome – der plötzliche Verlust des Muskeltonus am Tage und die traumartigen Halluzinationen, die sonst eigentlich nur im REM-Schlaf auftreten – weckte bei den Medizinern den Verdacht, dass bei Narkoleptikern irgendetwas mit dem REM-Schlaf nicht stimmt. Anscheinend wird er von den Regulationsmechanismen falsch angesteuert.

Die Schlafstörungen und das auffällige Schlafverhalten gelten zwar als vorherrschende Symptome der Narkolepsie. Doch bei der Erforschung der Krankheit untersuchten Wissenschaftler pragmatisch vorrangig die Kataplexie. Schließlich ist Schlafdrang an sich etwas Normales. Hierin unterscheidet sich der Narkoleptiker von gesunden Menschen nur im ungewöhnlichen Ausmaß. Was an den einzelnen Müdigkeitsepisoden physiologisch anders ist, lässt sich darum nicht so leicht herausfinden. Kataplexien erleben gesunde Personen hingegen niemals. Ein solcher Anfall ist so auffällig, dass Wissenschaftler den Verlauf genau verfolgen können. Wegen des schlagartigen Beginns können sie außerdem beobachten, was sich im Gehirn davor und währenddessen abspielt. So lässt sich auch die zeitliche Abfolge der neuronalen Prozesse messen, die den Anfall auslösten.

Aufschlussreich für das Verständnis der Erkrankung sind die Ergebnisse einiger Tierversuche. Anfang der siebziger Jahre erhielt William C. Dement von der Stanford University in Kalifornien einen Wurf Dobermannpinscher, die allesamt narkoleptisch waren und sich in dieser Hinsicht recht ähnlich wie menschliche Narkoleptiker verhielten. Später bekam der Forscher auch einen Wurf Labrador Retriever mit gleicher Symptomatik. Die Erkrankung war bei diesen Hunden rezessiv erblich: Sie trat erst in Erscheinung, wenn beide Eltern das Merkmal weitergaben. Wurden zwei narkoleptische Hunde miteinander verpaart, erkrankten demzufolge auch alle ihre Welpen. Die Tiere bekamen ihre kataplektischen Attacken zum Beispiel, wenn sie beim Spielen tobten oder sich über ihr Lieblingsfutter hermachten.

Meine Kollegen und ich untersuchten die Gehirne narkoleptischer Hunde elektrophysiologisch. Mit winzigen Elektroden registrierten wir elektrische Impulse von Nervenzellen im Hirnstamm, während sie mit Zellen in anderen Hirngebieten und im Rückenmark kommunizierten.

Die Bedeutung des Hirnstamms für den Muskeltonus entdeckte in den vierziger Jahren W. Magoun von der Northwestern University in Evanston (US-Bundesstaat Illinois) in Tierstudien. Er stellte fest, dass die Skelettmuskulatur der Tiere erschlafft, wenn er einen Bereich inmitten des verlängerten Marks elektrisch stimulierte. Es war, als würde jede Bewegung plötzlich abgeschaltet. Als Magoun dies entdeckte, wütete in Nordamerika gerade die Kinderlähmung. Der Gehirnforscher überlegte, dass für den erhöhten Muskeltonus in der akuten Phase dieser Viruserkrankung manch-mal eine Schädigung im verlängerten Mark verantwortlich sein könnte. Ähnliches erwog er für andere neurologische Erkrankungen, bei denen eine gesteigerte Muskelspannung auftritt.

Magoun brachte seine Beobachtungen noch nicht mit Schlaf in Verbindung. Den REM-Schlaf entdeckten Wissenschaftler erst im Jahr 1953. Nun erst erkannten sie, dass die Muskulatur in der Traumphase erschlafft. Vermutlich sorgt das Muskeltonus-Kontrollsystem im verlängerten Mark aber nicht nur für die Lähmung von Bewegungen beim Träumen. Auf Grund von Tierstudien vermuten wir heute, dass dieses System neben seiner Hauptaufgabe auch mit für eine allgemeine Muskelspannung im Wachzustand sorgt. Die Region bleibt solange "stumm", wie das Tier sich bewegt; sie wird mäßig aktiv, wenn es sitzt oder liegt; im Non-REM-Schlaf steigt die Aktivität stärker, und am stärksten ist sie im REM-Schlaf. Das bedeutet: Wenn wir willentlich unsere Muskeln entspannen, sie also "abzustellen" versuchen, schalten wir dabei diese Hirnregion an.

Würden wir bei den narkoleptischen Hunden in der betreffenden Region im verlängerten Mark etwas Auffälliges finden? 1991 konnten wir diesen Verdacht bestätigen: Bei einem kataplektischen Anfall – wenn die Hunde am Tag plötzlich zusammensackten – feuerten in diesem Gebiet tatsächlich Nervenzellen. Hingegen war diese Gehirnregion bei normalen Tieren nur im REM-Schlaf hochaktiv. Dies alles passte gut zusammen, denn normalerweise, so wussten wir bereits, geht der Muskeltonus nur während des REM-Schlafs völlig verloren, also wenn wir träumen.

Meine Mitarbeiterin Elizabeth Schenkel wies sogar nach, dass ansonsten normale Tiere im REM-Schlaf herumwandern, wenn ihr verlängertes Mark an diesem Ort geschädigt ist. Ähnliches fanden Michel Jouvet von der Université Claude-Bernard in Lyon (Frankreich) und Adrian R. Morrison von der University of Pennsylvania in Philadelphia bei Defekten auf höheren Ebenen des Hirnstamms, die zum verlängerten Mark Verbindung haben: In der REM-Phase hoben die Tiere den Kopf, liefen herum und griffen scheinbar Feinde an. Demnach sieht es so aus, als ob bei Narkolepsie eine Gruppe von Nervenzellen im verlängerten Mark zur falschen Zeit aktiviert wird. Diese Neuronen sollen verhindern, dass wir geträumte Handlungen tatsächlich ausführen. Doch bei Narkoleptikern werden sie sogar im Wachsein angeregt (Kasten unten).

Noch eine andere Nervenzellgruppe im Hirnstamm hat bei Kataplexie offenbar Einfluss, wie mein Mitarbeiter Frank Wu zeigte. Sie liegt im "blauen Kern" (Locus coeruleus). Dessen Zellen setzen vielerorts im Gehirn einen neuronalen Botenstoff frei: den Neurotransmitter Noradrenalin. (Das Kerngebiet im Hirnstamm ist auch für Stress-Reaktionen des Körpers wichtig.) Noradrenalin produzierende Zellen im blauen Kern sind bei gesunden Tieren im Wachzustand aktiv, aber während des REM-Schlafs nicht. Unsere Experimente lassen vermuten, dass diese Zellen bei narkoleptischen Hunden auch vor und während einer kataplektischen Attacke völlig untätig bleiben, genau wie normalerweise nur beim REM-Schlaf.

Wenn die Muskelspannung erlischt, kommt somit zweierlei zusammen (Bild Seite 38): Einerseits entfällt mit den Signalen vom blauen Kern eine Quelle der Erregung für die Motoneuronen, die vom Rückenmark zur Muskulatur ziehen. Gleichzeitig wird das hemmende System im verlängerten Mark aktiv, das die Motoneuronen "bremst". Im Wachzustand leiten motorische Nervenzellen normalerweise stets Impulse zur Muskulatur. Nun sind die Nervenzellen wegen der Hemmung aber nur noch schlecht erregbar, zugleich bleiben aktivierende Signale praktisch aus. Deswegen ist jemand bei einem kataplektischen Anfall wie gelähmt, obwohl er wach ist und sich mitteilen möchte. Seine motorischen Nervenzellen "schlafen".

Warum die Bewegungshemmung bei Narkoleptikern zur falschen Zeit auftritt, ist noch nicht klar. Doch ist die Wissenschaft dabei, dieses Rätsel zu lösen. Zwei neuere genetische Studien könnten weiterhelfen.

Die eine führten Emmanuel Mignot von der Stanford University (US-Bundesstaat Kalifornien) und seine Mitarbeiter durch. Sie identifizierten das Gen, das bei den Hunden für die Narkolepsie verantwortlich ist. Es handelt sich um das Gen für den Rezeptor, an den der neuronale Botenstoff Hypocretin – auch Orexin genannt – anbindet. Dieses Gen ist bei den Narkolepsie-kranken Hunden mutiert.

Solche Rezeptoren sitzen auf Nervenzellen wie molekulare Schlösser. Der Botenstoff fungiert als Schlüssel. Wenn er sich an das Molekül anlagert, löst dies in der Zelle eine Kette chemischer Vorgänge aus, an deren Ende die Nervenzelle zum Beispiel selbst ein Signal erzeugt und weitergibt. Den narkoleptischen Hunden fehlt am genannten Rezeptor eine entscheidende Struktur. Deswegen reagieren ihre Zellen auf die molekularen Botschaften nicht normal.

Die zweite Studie ergänzt die erste. Sie stammt von einer Wissenschaftlergruppe um Masashi Yanagisawa von der University of Texas in Dallas. Die Forscher erzeugten Mäuse, deren entsprechende Nervenzellen die Orexin-Botschaft nicht weitergeben können. Tatsächlich weisen die Nager auch einige Narkolepsiesymptome auf, etwa eine REM-Phase gleich bei Schlafbeginn.

Orexin bildet das Gehirn einzig im Hypothalamus. Diese Struktur des Vorderhirns hat vielfältige regulatorische Funktionen: unter anderem für das Körpergewicht, den Wasserhaushalt, die Aufgaben der Hypophyse (Hirnanhangdrüse) und die Körpertemperatur. Orexin bildende Zellen haben Kontakt zu Hirnzellen, die Wachheit erzeugen. Das sind etwa Nervenzellen im Vorderhirn und im Hirnstamm, die den Botenstoff Acetylcholin freisetzen. Sie sind auch mit Neuronen verschaltet, welche die Signalstoffe Histamin und Serotonin ausschütten. Und sie stehen mit Zellen des Hirnstamms in direkter Verbindung, die für die Kontrolle des Muskeltonus wichtig sind, so mit Zellen im blauen Kern.

Es ist nicht auszuschließen, dass auch beim Menschen Narkolepsie manchmal auf einer genetischen Veränderung beruht, die das Orexin-System irgendwie beeinträchtigt. Für die Mehrzahl der Betroffenen dürfte das allerdings nicht gelten. Die meisten von ihnen haben keine Verwandten mit der Krankheit (was bei direkter Erblichkeit öfter der Fall sein müsste). Gegen einen vorherrschenden direkten Einfluss von Vererbung spricht außerdem, dass eine Narkolepsie nicht vor dem zweiten oder dritten Lebensjahrzent ausbricht. Überdies sind bei eineiigen Zwillingen nur in jedem vierten Fall beide krank. Offensichtlich haben irgendwelche Umweltbedingungen viel Einfluss. Möglicherweise schädigen mitunter irgendwelche Außenfaktoren das Orexin-System oder andere damit assoziierte Nervenzellverbände.

Einige Wissenschaftler halten als Hintergrund von Narkolepsie eine Autoimmunreaktion für möglich, eine Immunattacke gegen körpereigenes Gewebe. Vielleicht, so ihre Überlegung, fachen irgendwelche Stoffe aus der Umwelt eine sich aufschaukelnde Abwehr gegen körpereigene Nervenzellen an, die Gehirnschaltkreise für Wachheit und Muskeltonus kontrollieren. Wie Yutaka Honda und seine Kollegen am Siewa-Krankenhaus in Tokio (Japan) schon 1984 entdeckten, wiesen alle von ihnen untersuchten Narkoleptiker hinsichtlich ihres individuellen Gewebetyps in einem Aspekt das gleiche immunologische Erkennungsmolekül auf (ein Histokompatibilitäts-Antigen oder HLA-Antigen). Insgesamt hatten die Forscher 135 japanische Patienten getestet. Unter den gesunden Japanern besitzen annähernd 35 Prozent dieses spezifische HLA-Molekül. Demnach wird längst nicht jeder mit diesem HLA-Typ narkoleptisch. Doch anscheinend hat das Merkmal dafür Bedeutung.

Normalerweise unterscheidet das Immunsystem zwischen "Freund" und "Feind". Die HLA-Moleküle helfen dabei, indem sie an der Zelloberfläche Teile der Zellproteine vorweisen. So erkennt das Immunsystem etwa eingedrungene Viren. Auch bei Gewebe- und Organtransplantationen muss der HLA-Typ wegen der Abstoßungsgefahr berücksichtigt werden. Bei Autoimmunkrankheiten aber bekämpft der Körper fälschlicherweise eigene Strukturen.

Menschen mit bestimmten HLA-Typen tendieren eher zu einigen dieser selbstzerstörerischen Erkrankungen. Die Wissenschaftler vermuten, dass die entsprechenden Zelloberflächenmoleküle körpereigenen Proteinen zu sehr ähneln, wenn sie bestimmte fremde Proteinfragmente anlagern und der Abwehr präsentieren. Das ist für das Immunsystem derart "verwirrend", dass es fortan auch gesunde körpereigene Zellen angreift.

Als Nächstes wäre zu prüfen, ob das Immunsystem von Narkoleptikern etwa die Orexin-Rezeptoren irrtümlich als körperfremd ansieht und attackiert. Allerdings bilden Neuronen ständig neue Rezeptoren. Die Immunreaktion müsste demnach andauern, solange die Narkolepsie besteht. Bisher konnten Mediziner aber nichts dergleichen nachweisen.

Etwas Anderes wäre es, wenn das Immunsystem diese Nervenzellen selbst beziehungsweise ihre Rezeptoren tragenden Teile zerstörte. Dann käme die Autoimmunreaktion nach einiger Zeit zum Erliegen. Der Defekt muss beim Menschen aber gar nicht an dieser Stelle bei den Orexin-Zellen zu suchen sein. Genauso gut könnte er in einer anderen an der Schlafregulation beteiligten Hirnregion sitzen. Ein Kandidat wäre auch der blaue Kern. Überall dort könnte eine Autoimmunreaktion stattfinden.

Seit der französische Arzt Jean Baptiste Edouard Gélineau 1880 Narkolepsie als eigenständige Krankheit identifizierte, haben Wissenschaftler nach Spuren von ihr im Gehirn verstorbener Patienten gesucht. Bei narkoleptischen Hunden fanden Mignot, Dement und ihre Stanforder Kollegen Ted L. Baker und Thomas L. Kilduff in den beiden letzten Jahrzehnten immer wieder ungewöhnlich viele Rezeptoren für die Botenstoffe Acetylcholin, Dopamin und Noradrenalin und maßen teilweise auch höhere Konzentrationen dieser Signalsubstanzen.

Degeneration von Neuronen


Bei Menschen mit Narkolepsie ist dies ähnlich, wie Michael S. Aldrich von der University of Michigan in Ann Arbor Anfang der neunziger Jahre feststellte. Fraglich ist aber, ob solche Veränderungen wirklich die Schlafsucht verursachen oder ob umgekehrt diese Abweichungen erst eine Folge der Erkrankung und des veränderten Schlafverhaltens sind.

Meine Kollegen und ich verfolgten deshalb eine weitere Idee. Vielleicht sind Zerstörungsspuren im Gehirn nur so lange sichtbar, wie sich die Narkolepsie etabliert, also nur in der ersten Zeit der Erkrankung. Narkolepsie ist zwar eine chronische Krankheit – sie verschwindet nicht wieder –, doch die Symptome verschlimmern sich nur in der ersten Phase, später nicht mehr. Erfolgt die Schädigung vielleicht nur in der ersten Zeit? Jahre später hätte dann der Körper längst "aufgeräumt" und alle deutlichen Spuren beseitigt. Bei der Autopsie würden Mediziner dann nichts Auffälliges mehr entdecken können, was nicht aussieht wie ein normaler altersbedingter Abbau. Ein Verlust von Nervenzellen ist nur zu erkennen, wenn an einer Stelle besonders viele Neuronen absterben – wie bei der Parkinson-Krankheit – oder wenn sich der Abbau über weite Gebiete erstreckt und außerordentlich viele Zellen erfasst, wie bei der Alzheimer-Demenz.

Wegen unseres Verdachts untersuchten wir Gehirne narkoleptischer Hunde, kurz nachdem bei ihnen die ersten Symptome von Schlafsucht auftraten. Wir verwendeten eine Färbemethode, bei der geschädigte Neuronen markiert wurden. Tatsächlich fanden wir, dass Zellen in bestimmten Hirngebieten degenerierten. Dies fiel etwa im zweiten Lebensmonat auf. Offenbar setzte der Abbau ein, kurz bevor sich die ersten Anzeichen des krankhaften Verhaltens bemerkbar machten. Wenn die Hunde ein halbes Jahr alt waren, sahen wir an den Gehirnpräparaten kaum noch Spuren des verheerenden Vorgangs.

Am ausgeprägtesten erschien bei diesen Hunden die Degeneration im "Mandelkern" (Amygdala) sowie in benachbarten Regionen im unteren Vorderhirn (siehe Kasten auf Seite 37). Der Mandelkern ist bei Mensch und Tier für Emotionen sowie für das Einschlafen wichtig. Merkwürdigerweise erkannten wir hingegen im Hirnstamm der Hunde keine deutlichen Zeichen für eine Degeneration. Deswegen vermuten wir, dass eine Schädigung im Gebiet des Mandelkerns die Kataplexie hervorrufen kann, bei an sich normal funktionierenden Schaltkreisen im Hirnstamm. Man könnte das mit einem Autounfall vergleichen, bei dem das Fahrzeug funktionstüchtig war, der Fahrer aber zum falschen Zeitpunkt aufs Gaspedal trat.

Noch wissen wir nicht, was bei den Hunden den Zellabbau verursacht. Handelt es sich um einen Autoimmunprozess wie möglicherweise beim Menschen? Unklar ist auch weiterhin, was die Zelldegeneration und die fehlerhaften Orexin-Rezeptoren in Neuronen des Hypothalamus miteinander zu tun haben. Lösen die Anomalien am Orexin-Rezeptor bei den Tieren die Schädigung im Mandelkern und seinem Umfeld aus?

Die meisten Fragen bleiben noch offen. Vor allem interessiert uns natürlich, ob es gelingt, bei Hunden die Schädigung zu verhindern oder sogar wieder zu beheben. Außerdem müssen Wissenschaftler natürlich erst noch herausfinden, wieweit dies alles Erscheinungen beim Menschen ähnelt.

Menschlichen Patienten können Ärzte bisher nur Medikamente verschreiben, welche die Symptome lindern. Gegen die Schläfrigkeit helfen zu einem gewissen Grade Stimulantien wie Ritalin und Pemolin (Cylert). Auch Amphetamine eignen sich. Sie aktivieren Dopaminrezeptoren und heben so die allgemeine Wachheit. Auch Provigil (oder Vigil) hilft Narkoleptikern. Möglicherweise stimuliert das Präparat Orexin-Neuronen und andere Zellpopulationen im Hypothalamus, die ihrerseits Aktivierungssysteme anregen. Leider wirken solche Medikamente stets nur kurzfristig, und sie haben oft lästige Nebeneffekte: etwa Unruhe, Mundtrockenheit oder Angstzustände.

Gegen die kataplektischen Attacken erhalten manche Patienten Wirkstoffe, welche die Verfügbarkeit von Noradrenalin im Gehirn erhöhen. Dazu gehören Monoaminooxidase-Hemmer: Sie blockieren das Enzym, das freigesetztes Noradrenalin abbaut. Auch zählen hierzu Medikamente wie Fluctin (Prozac), dessen Abbauprodukte die Noradrenalinrezeptoren aktivieren. Manche Narkoleptiker erhalten gegen die Kataplexien den Wirkstoff Gamma-Hydroxybutyrat (GHB). Dessen Funktionsweise ist allerdings ebenfalls noch ungeklärt. Wir sind zuversichtlich, dass die neuen Erkenntnisse über die Ursachen von Narkolepsie und die dabei auftretenden Störungen im Gehirn neue Behandlungen ermöglichen. Ein Ziel ist es, Fehlregulationen in den Schlaf-Wach-Zentren zu korrigieren. Immerhin tappt die Forschung über den prekären Schlafzwang und seine Begleiterscheinungen nicht mehr völlig im Dunkeln.

Literaturhinweise

Die „Schlafkrankheit“ Narkolepsie. Ein Erfahrungsbericht über Lachschlag, Schrecklähmung und Pennen in Pappkartons. Von Susanne Schäfer. Freies Geistesleben, Stuttgart, 1999.

Schlaf. Von J. Allan Hobson, Spektrum Akademischer Verlag, 1990.

Schlaf und Schlafstörungen. Von J. Röschke und K. Mann. C. H. Beck, 1998.

Brainstem Mechanisms Generating REM-Sleep. Von J. M. Siegel in: Principles and Practice of Sleep Medicine, 3. Auflage. Von M. H. Kryger et al. (Hg.), W. B. Sanders, 2000.

Sleep and Dreaming. Von A. Rechtschaffen und J. M. Siegel in: Principles of Neural Science, 4. Auflage, Von E. R. Kandel et al. (Hg.), McGraw-Hill, 1999.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2000, Seite 34
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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