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Reaktionen in Zeitlupe

Der gebürtige Ägypter Ahmed H. Zewail vom California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena entwickelte vor elf Jahren eine Methode, die Choreographie chemischer Reaktionen auf atomarer Ebene zu verfolgen. Für diese Pioniertat wurde ihm nun der Nobelpreis für Chemie verliehen.


Für den Laien verkörpern Reaktionsgleichungen so etwas wie die Essenz der Chemie. Doch so dynamisch der Pfeil wirkt, der zwischen der Liste der Ausgangssubstanzen und der Endprodukte steht und die Richtung der Umsetzung anzeigt – über deren Ablauf sagt er nicht das geringste. Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, daß allein das Ergebnis zählt und der Weg dahin uninteressant sei. Doch die Chemiker mochten sich damit nie begnügen. Aus gutem Grund: Wer seine Reaktionen nicht nur per Zufall finden, sondern ein gewünschtes Produkt gezielt und mit hoher Ausbeute auf möglichst einfachem, direktem Weg erhalten will, tut gut daran, etwas über den Mechanismus in Erfahrung zu bringen, nach dem im Verlauf einer Reaktion Bindungen gebrochen und neu geknüpft werden.

Erste Erkenntnisse zum Ablauf chemischer Umsetzungen lieferte schon vor 110 Jahren der schwedische Physikochemiker Svante Arrhenius (1859–1927, Chemie-Nobelpreis 1903). Indem er maß, wie die Geschwindigkeit von Reaktionen mit der Temperatur variierte, stellte er fest, daß auch Umsetzungen, die letztlich von sich aus unter Abgabe von Energie ablaufen, in der Regel erst einmal durch Zufuhr einer "Aktivierungsenergie" angestoßen werden müssen. Der Reaktionsweg führt demnach immer über einen (manchmal allerdings sehr niedrigen) Potentialberg, der in der Terminologie von Arrhenius den "aktivierten Komplex" repräsentiert.

In den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts bauten Henry Eyring (1901–1981) und Michael Polanyi (1891–1976) die Ergebnisse des schwedischen Forschers unabhängig voneinander zu einer Theorie des Übergangszustandes aus. Dabei konnten sie einen konstanten Faktor in der Arrhenius-Gleichung als Ausdruck interpretieren, der unter anderem die räumlich-geometrischen Beziehungen zwischen den miteinander reagierenden Molekülen widerspiegelt und damit gewisse Rückschlüsse auf den Mechanismus einer Reaktion erlaubt. Andererseits hat der Übergangszustand nach dieser Theorie eine extrem kurze Lebensdauer: Er wird etwa so schnell durchlaufen, wie das Molekül eine Schwingung ausführt – also innerhalb einiger 10 bis 100 billiardstel (10–15) Sekunden. Damit schien es aussichtslos, ihn jemals direkt nachweisen oder beobachten zu können.

Von der Kinetik zur Dynamik


Das Beste an zeitlicher Auflösung bis dahin waren Millisekunden gewesen. Der Trick bestand darin, zwei Reaktionslösungen mit hoher Geschwindigkeit aus getrennten Leitungen in ein Glasrohr zu pumpen und in verschiedenen Abständen hinter dem Vereinigungspunkt nachzusehen, wie weit die Reaktion fortgeschritten war. Dabei diente etwa ein Farbumschlag als Indikator.

Erst Jahrzehnte später konnte der Blick auf das Reaktionsgeschehen entscheidend verfeinert werden. Die englischen Physikochemiker Ronald Norrish und George Porter nutzten Lichtblitze von millionstel Sekunden Dauer, um Moleküle schlagartig anzuregen und ihre Zersetzung zu verfolgen. Analog warf ihr deutscher Kollege Manfred Eigen chemische Systeme durch jähe Druckänderungen, Wärmeschocks oder Stromstöße aus dem Gleichgewicht und verfolgte, wie sie zu ihm zurückkehrten. Beide Methoden erlauben, selbst Geschwindigkeiten von Reaktionen zu messen, die in nur einer zehnmilliardstel Sekunde ablaufen. Sie trugen ihren Erfindern den Chemie-Nobelpreis von 1967 ein.

Eine weitere Steigerung schafften schließlich die Chemie-Nobelpreisträger von 1986: Dudley Hershbach, Yuan Lee und John Polanyi. Sie ließen Molekülstrahlen im Vakuum miteinander kollidieren und schlossen aus Informationen wie dem Winkel, unter dem die Reaktionsprodukte davonflogen, auf atomare Details der Umsetzung.

Durch diese sukzessive Verbesserung der Zeitauflösung ließen sich immer kurzlebigere Zwischenprodukte auf dem Weg von den Ausgangsstoffen zu den Reaktionsprodukten aufspüren. Man fand sozusagen Haltepunkte im Reaktionsgeschehen – etwa nach dem Bruch einer chemischen Bindung und vor dem Knüpfen einer neuen; die eigentlichen dynamischen Vorgänge dazwischen blieben aber weiterhin ebenso verborgen wie die Übergangszustände.

Das änderte sich mit den Arbeiten von Zewail. Im Jahre 1946 in dem Dorf Itaji al Barud im Nildelta geboren, studierte der nunmehrige Nobelpreisträger zunächst an der Universität Alexandria, wechselte dann in die USA und promovierte 1974 an der Universität von Pennsylvania in Chemie. Zwei Jahre später kam er zum California Institute of Technology.

Von Zwischenprodukten zum Übergangszustand


In den achtziger Jahren gelang es Wissenschaftlern an den AT&T-Bell-Laboratorien in Murray Hill (New Jersey) und anderswo, die Dauer einzelner Laserpulse immer weiter zu reduzieren – bis sie schließlich in der Größenordnung von billiardstel oder Femto-Sekunden lag, also genau in dem Bereich, in dem sich die elementaren Schritte chemischer Reaktionen abspielen.

Zewails Verdienst ist es, eine Methode entwickelt zu haben, derart kurze Laserpulse für eine Art extreme Zeitlupen-Kamera zu nutzen. Deren Belichtungszeit ist so kurz, daß selbst dann noch scharfe Bilder entstehen, wenn man die Bewegungen der Atome im Verlauf chemischer Reaktionen mit ihr "photographiert".

Um diese Vorgänge wirklich sichtbar zu machen, bräuchte man allerdings außer der zeitlichen eine ebenso hohe räumliche Auflösung – sprich eine derart stark vergrößernde Optik, daß sich einzelne Atome darstellen ließen. Das aber gab und gibt es bis heute nicht. Deshalb mußte sich Zewail damit behelfen, die momentanen Verhältnisse im untersuchten Reaktionssystem indirekt aus dessen spektroskopischen Eigenschaften zu erschließen – also daraus, an welchen Stellen des elektromagnetischen Spektrums Licht absorbiert oder emittiert wird. Diese Information läßt sich wie ein Fingerabdruck zur Identifizierung eines Moleküls oder einer atomaren Konstellation heranziehen.

Für seine Experimente verband Zewail die ultrakurzen Laserblitze mit der Molekularstrahlmethode (Kasten). Dazu erzeugte er in einer Vakuumkammer zunächst einen Strahl mit den Ausgangssubstanzen der Reaktion. Diesen beschoß er dann kurz hintereinander mit zwei Femtosekunden-Laserblitzen. Der erste diente als Anregungspuls dazu, die Reaktion in Gang zu setzen, während sich mit dem anschließenden schwächeren "Abfragepuls" die Situation wenig später feststellen ließ. Indem Zewail den Abstand zwischen den beiden Blitzen systematisch variierte, konnte er die Veränderungen im chemischen System im Verlauf der Reaktion verfolgen. Die Grundlagen dieser "Femtochemie", wie er sie nannte, hat er selbst im Februar 1991 (S. 100) in dieser Zeitschrift dargelegt.

In seinem ersten Experiment untersuchte Zewail 1987 die Spaltung eines einfachen dreiatomigen Moleküls, nämlich Iodcyan (ICN), in zwei Bruchstücke – Iod (I) und Cyan (CN). Wie er zeigen konnte, war der Bruch nach nur 200 Femtosekunden vollzogen; die Fragmente hatten sich in dieser Zeit 0,28 Nanometer voneinander entfernt, was dem Anderthalbfachen ihres Abstandes im Ausgangsmolekül entspricht (Spektrum der Wissenschaft, November 1988, S. 21). Auch für eine Reaktion zwischen zwei Molekülen – Iodwasserstoff und Kohlendioxid – vermochte Zewail wenig später den genauen atomaren Ablauf zu klären (Bild auf Seite 12).

In weiteren Untersuchungen konnte er den Nutzen seiner Methode demonstrieren, indem er teils alte Streitfragen klärte und teils überraschende neue Erkenntnisse gewann. Eine ungeklärte Frage betraf etwa den Bruch von gleichartigen (äquivalenten) Bindungen in einem Molekül: Erfolgt er simultan oder nacheinander? Als Beispiele wählte Zewail die Abspaltung der beiden Iodatome aus dem Tetrafluor-diiod-ethan und das "Zerschneiden" des quadratischen Cyclobutans in zwei lineare Ethylen-Moleküle. Wie er herausfand, werden in beiden Fällen die Bindungen nacheinander gebrochen. Beim Tetrafluor-diiod-ethan dauert die Abspaltung des ersten Iodatoms nur 200 Femtosekunden, die des zweiten dagegen hundertmal so lang. Analog liegt beim Cyclobutan eine Zeitspanne von 700 Femtosekunden zwischen dem Kappen der ersten und der zweiten Bindung.

Ein unerwartetes Ergebnis hatte die Untersuchung der Reaktion zwischen Benzol- und zweiatomigen Iod-Molekülen. Wenn beide aufeinandertreffen, bilden sie zunächst nur einen lockeren Verbund. Wird dieser Komplex aber mit einem Laserblitz bestrahlt, geht ein Elektron vom Benzol auf das Iod-Molekül über, das sich dadurch negativ auflädt, während ein positiv geladener Benzolring zurückbleibt. Die elektrostatische Anziehung zwischen beiden bewirkt, daß dasjenige der beiden Iod-Atome, das sich zufällig näher am Benzol befindet, stärker zu diesem hingezogen wird und sich schließlich von seinem Partner losreist. All das passiert innerhalb von nur 750 Femtosekunden.

Wie Zewail feststellte, gibt es aber noch eine zweite Möglichkeit. Dabei springt das Elektron vorzeitig zum Benzol zurück. Für das Iod-Molekül kommt dies allerdings zu spät: Wie ein überdehntes Gummiband zerreißt es trotzdem, und die beiden Iodatome fliegen einzeln davon.

Inzwischen haben zahlreiche Forscher weltweit Zewails Verfahren übernommen und auf das Studium von Reaktionen in Flüssigkeiten und Feststoffen, auf Oberflächen und in Polymeren ausgedehnt. Mit seiner Hilfe ergründen sie die Funktionsweise von Katalysatoren und konstruieren molekulare elektronische Bauteile. Auch in die Biologie hat die Femtosekunden-Spektroskopie mittlerweile Einzug gehalten. So ließ sich damit zeigen, daß ein grundlegender Vorgang beim menschlichen Sehen – das Umklappen des Retinals im Rhodopsin (Sehpurpur) – gleichfalls in nur 200 Femtosekunden abläuft.

Zunehmendes Interesse findet, daß sich ultrakurze Laserblitze nicht nur zur Analy-se von Reaktionsmechanismen eignen, sondern auch zur Steuerung chemischer Umsetzungen. Damit könnten sie jenen Traum erfüllen, der schon mit der Entdeckung des Lasers aufkam, dann aber in der Realität des Labors zerplatzte. Normale Laserpulse erwiesen sich als viel zu grob für gezielte Eingriffe in das feinmechanische Räderwerk chemischer Reaktionen. In Amplitude und Phase modulierte Femtoblitze dagegen versprechen, adäquatere Werkzeuge für das subtile Hantieren mit chemischen Bindungen zu sein. Damit hat Zewails Arbeit nicht nur die letzten Geheimnisse im Ablauf von chemischen Reaktionen enthüllt, sondern auch die Perspektive einer völlig neuen, eleganteren und vielseitigeren Chemie eröffnet.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1999, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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