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Reform der orthographie - der experten-vorschlag

Die 4. amtlichen Wiener gespräche zur reform der deutschen rechtschreibung sind für 1995 vorgesehen; dann soll eine neuregelung beschlossen werden. Dieser beitrag stellt die vorgesehenen änderungen exemplarisch vor.

Das orthographieproblem als begründung einer neuregelung“ und “Die Reform der Orthographie – einer Lösung nahe?“, so lauteten die überschriften zweier artikel, die in dieser zeitschrift 1985 (märz, seite 28) und 1987 (august, seite 23) erschienen sind. Die lösung nicht weniger orthographischer probleme durch eine reform ist inzwischen greifbar nahe. Doch zwischendurch gab es einige turbulenzen.

Der “Keiser im Bot mit seinem Al“ beherrschte 1988/1989 plötzlich die schlagzeilen und löste einen sturm der entrüstung aus. Dabei ging es nicht darum, die monarchie abzuschaffen, die es ohnehin nicht gab; und auch der tron des fußballkaisers Franz war nicht gefährdet. Das thema war vielmehr das gleiche wie hier und heute: Soll oder kann man orthographische regeln ändern, weil sie unsystematisch und deshalb allenfalls nur schwer zu vermitteln, zu lernen und anzuwenden sind? Oder bedingt ein solches unterfangen den verlust der deutschen (sprach)kultur?

Der heutige stand der dinge...

Der sturm hat sich gelegt, die diskussion wurde sachlicher und damit weniger spektakulär. Die 1987 angekündigten 2. Wiener gespräche zur reform der deutschen rechtschreibung zwischen amtlichen delegationen der deutschsprachigen länder (Spektrum der Wissenschaft, oktober 1988, seite 37, und april 1989, seite 40) fanden 1990 statt. Die vier staatlich beauftragten arbeitsgruppen aus Deutschland Ost und West, Österreich und der Schweiz setzten ihre wissenschaftliche arbeit fort. Das ergebnis ist als buch “Deutsche Rechtschreibung. Vorschläge zu ihrer Neuregelung“ seit herbst 1992 im handel erhältlich (bild 1); herausgegeben hat es der Internationale Arbeitskreis für Orthographie, der sich aus mitgliedern der vier arbeitsgruppen zusammensetzt. Die koordination liegt beim Institut für deutsche Sprache (IDS) in Mannheim.

Kernstück des bandes ist der “Regelteil“ mit einem kompletten satz von regeln zu sechs bereichen. Die bearbeitung, so heißt es in der “Einführung“, berücksichtigt die bedürfnisse und interessen des schreibenden und des lesenden. Sie betrifft aufbau und gliederung des regelteils, anordnung und formulierung der regeln und ihre abstimmung aufeinander. Zudem geht es um inhaltliche änderungen heutiger regeln. Die grundregeln bleiben erhalten. Bestimmte ausnahmeregeln werden beseitigt oder eingeschränkt. Die rechtschreibung wird somit insgesamt einfacher; die regeln sind leichter zu handhaben.

Alle änderungen sind im “Kommentar“ zusammengestellt und begründet. Vorgestellt sind dort auch die grundsätze, nach denen das “Wörterverzeichnis“ gestaltet wird – wenn klar ist, wie die neue regelung im einzelnen aussieht.

... und wie es weiter gehen soll

Zur zeit werden die “Vorschläge zur Neuregelung“ von den zuständigen staatlichen stellen “geprüft“. Dort wird, so wie die dinge liegen, so oder so die sache letztlich entschieden. In Deutschland sind dies der Bundesminister des Innern und die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder, und zwar in hinblick auf behörden und schulen. Auch die neue regelung wird nur für diese lebensbereiche verbindlich sein. Privat kann jede(r) schreiben, wie sie oder er will. Die eigennamen werden weiterhin so geschrieben wie bisher.

All dies dient der vorbereitung der 3. amtlichen Wiener gespräche ende 1993. Eine zwischenstaatliche übereinkunft soll auf der 4. Wiener konferenz 1995 unterzeichnet werden. Insgesamt geht es darum, die 1901 auf der 2. Orthographischen konferenz in Berlin beschlossene regelung, die 1902 amtlich wurde (bild 2) und noch heute amtlich ist, durch eine solche zu ersetzen, die den heutigen erfordernissen angemessen ist. Dies vor allem auch deshalb, weil als folge der bearbeitungen der regelung von 1902 besonders in den zahlreichen auflagen der “Duden-Rechtschreibung“ der heutige regelkomplex erheblich umfangreicher ist als die vereinbarungen von 1901. Zudem ist er in bestimmten teilen äußerst unübersichtlich, unnötig kompliziert und widersprüchlich.

Teilbereiche

Der regelteil betrifft zunächst die fünf teilbereiche



A Laut-Buchstaben-Zuordnungen,



B Getrennt- und Zusammenschreibung,



C Schreibung mit Bindestrich,



E Zeichensetzung,



F Worttrennung am Zeilenende.



Unter hinweis auf die zusammenstellung aller änderungen im kommentar führe ich hier nur einige an.

Bei den laut-buchstaben-zuordnungen wird die stammschreibung kleinerer wortgruppen systematisiert. So hieße es künftig etwa ass (heute as) wegen die asse, karamell (heute karamel) wegen karamelle, stuckateur/stuckatur (heute mit kk) wegen stuck sowie bändel und überschwänglich (heute mit e) wegen band/bänder und überschwang. Die vorschläge für die wörter um “Keiser, Bot und Al“ sind zurückgenommen; der kaiser kann weiterhin im boot seinen aal essen. Bei der s-schreibung soll nach kurzem vokal immer ss geschrieben werden, so fluss (heute fluß)/ flüsse und wässrig (heute wäßrig)/wässerig/wasser; nach langem vokal und diphthong steht wie bisher immer ß, etwa in maß/des maßes, außen, gießen. Bei den gruppen von fremdwörtern, von denen die meisten bereits integriert, quasi eingedeutscht sind (etwa allee, gelee), wird eine integrierte variante bei allen zugelassen (etwa schikoree/chicorée). Für gruppen mit angebahnter integration (etwa photographie/fotografie) wird für einige alltagswörter eine solche vorgeschlagen (etwa asfalt/asphalt).

Die ausgangsregel der getrennt- und zusammenschreibung wird einem bewusst, wenn man nach früheren gewohnheiten schreibt, als es sie noch nicht gab. ZWISCHENWÖRTERNDIENEBENE INANDERSTEHENMACHTMANEI NENZWISCHENRAUMSIEWERDEN GETRENNTGESCHRIEBEN: auf dem stuhl sitzen bleiben, den teller fallen lassen, das zimmer rein halten, im see baden gehen. Eine ausnahmeregel (AR 1) lautet: Man schreibt zusammen, wenn durch die verbindung ein neuer begriff entsteht: in der schule sitzenbleiben (nicht versetzt werden), seinen plan fallenlassen (aufgeben). Zwei ausnahmeregeln zu AR 1 lauten:

AR 2.1 Obwohl kein neuer begriff entsteht, schreibt man zusammen: im bett liegenbleiben, das zimmer sauberhalten, spazierengehen, kennenlernen.

AR 2.2 Obwohl ein neuer begriff entsteht, schreibt man getrennt: seine maske fallen lassen (sein wahres gesicht zeigen), mit seinem plan baden gehen (scheitern).

Für diese und andere entsprechende fälle wird getrenntschreibung vorgeschlagen, die bei umgekehrter reihenfolge (er blieb in der schule/auf dem stuhl sitzen) schon heute gilt, also etwa in der schule/auf dem stuhl sitzen bleiben. Schon diese minimalen kontexte zeigen dem lesenden unmissverständlich, was jeweils gemeint ist.

Für die schreibung mit bindestrich ist mit einer größeren zahl an kann-regeln mehr entscheidungsspielraum für den schreibenden vorgesehen, etwa für fälle wie ich-sucht/ichsucht. Bereinigt werden damit bestehende ungereimtheiten wie ichform, aber ich-roman.

Bei der zeichensetzung ist besonders der gebrauch des kommas heute kompliziert und teilweise widersprüchlich geregelt, und zwar insbesondere vor und und ähnlichen konjunktionen sowie in verbindung mit infinitiv- und partizipgruppen. Beseitigt wird ein geflecht von ausnahmeregeln, erhöht wird dadurch die regelhaftigkeit. Ein größerer freiraum lässt dem schreibenden mehr möglichkeiten, dem lesenden die gliederung zu verdeutlichen und ihm das verstehen zu erleichtern.

Bei der worttrennung am zeilenende wird die heutige untrennbarkeit von st wie in we-ste aufgehoben, also neu wes-te. Für fremdwörter mit konsonant + l, n oder r wird neben der heutigen trennung wie in mö-bliert, si-gnal, hy-drant auch möb-liert, sig-nal, hyd-rant zugelassen. Dadurch wird die grundregel verstärkt, nach der von mehreren buchstaben für konsonanten der letzte auf die nächste zeile kommt wie in wes-pe, löb-lich, leug-nen, mod-rig.

Nach dem bisherigen verlauf der diskussion bin ich ziemlich sicher, das die änderungen, die durch die angesprochenen fälle repräsentiert sind, nahezu alle im neuen amtlichen orthographiebuch enthalten sein werden; sie fanden bisher weitgehende zustimmung – was nicht verwundert, denn gut begründet und vernünftig sind sie alle.

Gut begründet und vernünftig sind auch die vorschläge, die substantive klein sowie statt heute das (artikel, pronomen) und daß (konjunktion) immer das gleichviel für was zu schreiben. Doch beide sind umstritten – deshalb gehe ich auf sie und auf die kritik an ihnen ausführlicher ein.

Groß- und Kleinschreibung

Für den Bereich der Groß- und Kleinschreibung wurden die Wissenschaftler ermuntert, im Hinblick auf ein Gesamtregelwerk der deutschen Rechtschreibung alternative Lösungen auf der Basis des status quo und der vorliegenden Reformvorschläge weiter auszuarbeiten.



Aus der abschlusserklärung der

2. Wiener gespräche 1990.



Der ermunterung folgend haben die wissenschaftler drei varianten für die regelung vorgelegt. Schon dieser aufwand bestätigt, was jede(r) weiß: Dieser bereich ist heikel. Seine regelung ist – schon seit jahrhunderten – äußerst umstritten. Doch wie ist es eigentlich zu der heutigen regelung gekommen?



Historische schlaglichter



Schon im althochdeutschen wird der anfang einer schrift durch einen großen buchstaben besonders hervorgehoben. Zu beginn eines absatzes oder einer strophe wird er im 14. und 15. jahrhundert üblich, am satzanfang auch in der zeile im 16. jahrhundert.

Im innern von texten tauchen großbuchstaben im 13. jahrhundert auf. Sie verbreiten sich allmählich, doch bis in das 17. jahrhundert ohne erkennbare gesetzmäßigkeiten. Die großschreibung der eigennamen wird im 16. jahrhundert fest, die der substantive (der hauptwörter) zum ende des 17. jahrhunderts – ausnahmen gibt es bis in das 18. und 19. jahrhundert.



11 DAS ist aber die Gleichnis. Der Same ist das wort Gottes.

12 Die aber an dem Wege sind / das sind die es hören / Darnach kompt der Teufel vnd nimpt das wort von jrem hertzen / Auff das sie nicht gleuben / vnd selig werden...

17 Denn es ist nichts verborgen / das nicht offenbar werde / Auch nichts heimlichs / das nicht kund werde / vnd an tag kome.



Martin Luther, 1545;

Lucas 8, 11 folgende.



Die ersten schriftlich formulierten regeln etwa in orthographiebüchern finden sich um 1530. Außer der großschreibung des anfangs von texteinheiten wird die von eigennamen gefordert, doch zunächst nur für wenige gruppen. Begründet wird die großschreibung recht vielfältig: ästhetisch (“diewyl es zierlich ist vnnd hübsch“, 1530), aus ehrerbietung (“Gott zu eeren vnd reuerentz“ schrieb man auch GOTT und HERR, 1530), zur hervorhebung (“die wort/so sondrer ding bedeutung haben“, 1542), zur besseren verständlichkeit (“könne es der einfeltige desto besser verstehen“, 1607). Entscheidenden einfluss hatten damals durch die verbreitung der buchdruckerkunst schriftsetzer und buchdrucker (“Dahero seye es auch also zuhalten bey den Truckereyen auffkommen“, 1607).

Geht man von den ersten regelungen als dem kern aus, so lässt sich die weitere entwicklung als ausweitungen verstehen, die sukzessive vorgenommen wurden. Man könnte von dem stein sprechen, der – ins wasser geworfen – seine sich weitenden kreise zieht. Im zeitrafferstil hier einige stationen.

– Stetige erweiterung des bereichs der eigennamen: 1527 länder, städte, fürsten; 1530 allgemein männer und frauen, zudem schlösser, dörfer; 1532 zudem flecken (wohl kleine ortschaften), münzen, gewichte; 1607 zudem völker, sekten, ämter, künste; 1641 zudem tugenden, laster, tiere, festtage; 1645 zudem sonntage, werktage, wochentage, bücher. Es zeigt sich, das immer mehr gruppen der substantive in die regel für die großschreibung mit einbezogen wurden.

– Verallgemeinerung für alle substantive 1653: “Mit Versal vnd grossen Buchstaben werden geschrieben... alle Substantiva.“

– Ausweitung, das wörter nichtsubstantivischer wortarten, die wie substantive gebraucht werden, groß zu schreiben sind: 1690 das Gute/das Schreiben (adjektive und infinitive “mit dem articulo das für ein Substantivum“); 1735 zudem der Alte, die Bedrängte (generell adjektive mit artikel), das Ihrige (pronomen), das Ja (“Adverbium affirmandi“); 1746 zudem ein vergängliches Heute (“Partikeln“, adverbien).

– Gegenläufige regel, das substantive, die etwa wie adverbien gebraucht werden, klein zu schreiben sind: 1722 an statt, zum theil, zu gaste laden, achtung geben, rath schaffen (“substantiva werden gleichsam zu aduerbiis“); 1744 zudem theils, statt, keineswegs (“adverbialiter gebraucht“); 1759 zudem ernst/feind seyn (wie adjektive gebraucht).

– Ausweitung, das aus ehrerbietung groß zu schreiben ist: 1657 “Got gäbe Dir viel glük’ und sägen“ (“wan man eine person anredet“, anredepronomen); von 1650 an adjektive als titel(bestandteil) wie Allerhöchster, Ehrnvester, Geheimer Rath; ableitungen “von den Namen vornehmer Würden“ wie Göttlich, Kaiserlich sowie von eigennamen wie Paulisch, Europisch; adjektive in namen wie Schwarzes Meer und als beinamen wie Alexander der Große.

Namhafte orthographen sprachen sich über die jahrhunderte gegen die großschreibung der substantive aus und legten andere regelungen vor. Doch die entwicklung – eine art kettenreaktion, die eher mechanischen gesetzen zu folgen scheint – ließ sich nicht aufhalten. Sie führte bis zur 2. Orthographischen konferenz von 1901. Auf dieser wurde der damalige status quo trotz aller einsicht der teilnehmer in die problematik als amtliche norm sanktioniert, die – wie gesagt – noch heute gilt:



§ 21 und § 22 handeln über die grossen Anfangsbuchstaben... In der... Generaldiskussion wird allseitig das Unbefriedigende des bisherigen Zustandes anerkannt. Herr Krumbholz bemerkt, dass mit Einstimmigkeit in den Schulen über diesen Paragraphen geklagt werde. Auch Erwachsenen mache die richtige Schreibung Mühe. Es sei durchaus auf Vereinfachung zu dringen... Herr Rümelin... wünscht eine durchgreifende Verbesserung. Auch der Herr Vorsitzende legt Wert auf eine Vereinfachung... Herr Lyon bittet dringend, einen vermittelnden Standpunkt einzunehmen. Das erste Ziel, nach dem die Versammlung streben müsse, sei Vereinheitlichung. Herr Giesecke macht auf die praktischen Folgen aufmerksam und schliesst sich Herrn Lyon an...

§ 21 wird darauf in der Fassung der Kommission angenommen; ebenso nach kurzer Erörterung § 22.



Aus dem protokoll der konferenz von 1901.



Reformversuche seit 1902

und drei regelungsvarianten 1992



Mit der neuen amtlichkeit setzt die kritik ein und verstummt über die jahrzehnte hin bis heute nicht. In 77 von insgesamt 80 reformvorschlägen (1902 bis 1980) wird dieser bereich als reformbedürftig angesehen. Davon plädieren 11 für die radikale abschaffung der großbuchstaben (seit 1950 wird diese richtung jedoch nicht mehr vertreten); 15 sprechen sich für die beibehaltung der substantivgroßschreibung mit modifizierungen aus und 51 für die kleinschreibung der substantive, die in allen anderen europäischen sprachen üblich ist. Der “Vorschlag zur Neuregelung“ enthält drei varianten:



D1 Status-quo-Regelung,



D2 Modifizierte Großschreibung,



D3 Substantivkleinschreibung.



Gemäß D3 werden weiterhin groß geschrieben der anfang von überschriften und ähnlichen freistehenden zeilen sowie von sätzen, die eigennamen sowie das anredepronomen Sie mitsamt dem possessivpronomen Ihr.



Das zentrale problemfeld bildet die schreibung der substantive. Um wörter als substantive zu identifizieren führt man in den orthographien merkmale an, die substantiven grundsätzlich eigen sind – am häufigsten die verbindung mit einem artikel(wort) wie der/dieser Hut, ein/mein Hut. Doch diese artikelprobe hat zwei haken. Nicht jedes wort, das einem artikel(wort) folgt, ist ein substantiv, so etwa ein jeder, der eine, die andere, der grüne Hut. Und nicht jedem substantiv im text geht ein artikel(wort) voraus, so etwa in Acht nehmen, in Schach halten, mit Fug und Recht.

Hinzu kommt zweierlei: Substantive können im geschichtlichen prozess des sprachwandels in andere wortarten übergehen (desubstantivierungen). Beispiele sind angst, leid, schade, schuld sowie dank, kraft, laut, trotz, zeit. Und wörter aller nichtsubstantivischen wortarten können jederzeit wie ein substantiv gebraucht werden (substantivierungen). Beispiele sind der Alte, das Gewünschte, ein Er, mein Gegenüber, das Auf und Ab. Die folge sind oppositionsschreibungen, die symptomatisch sind für die fließenden grenzen zwischen der wortart substantiv und den anderen wortarten. Beispiele sind er hat Angst, aber ihm ist angst; zu Lasten, aber zugunsten; alles mögliche (allerlei) machen, aber alles Mögliche (alle Möglichkeiten) erwägen; aufs äußerste (sehr) gespannt sein, aber aufs Äußerste (auf den äußersten Fall) gefasst sein; auf dem trockenen sitzen (in Verlegenheit sein), aber auf dem Trockenen (auf trockenem Boden) sitzen.

In D2 Modifizierte Großschreibung werden außer dem artikel(wort) weitere kriterien genutzt, so das vorkommen von attributen (sicheres Auftreten) und die rolle der wörter im satz (etwa als subjekt oder objekt). Doch auch dies kann die fließenden grenzen nicht aufheben. Beispiele für oppositionsschreibungen gemäß D2 sind hier muss jeder einzelne mitmachen, aber der Konflikt zwischen der Gesellschaft und dem Einzelnen/einzelnen sowie jeder beliebige/ Beliebige; er hatte das ganze schon vergessen, aber vom Einzelnen/einzelnen zum Ganzen/ganzen gehen; es wäre das Beste (sehr gut), wenn du kommst, aber es wäre am besten (sehr gut), wenn du kommst; aufs äußerste (sehr) gespannt sein, aber bis zum Äußersten (sehr) gespannt sein; auf dem trockenen/Trockenen sitzen (in Verlegenheit sein), aber auf dem Trockenen (auf trockenem Boden) sitzen.

Es zeigt sich: Einige binnengrenzen sind in D2 gegenüber D1 anders gezogen. Das dilemma der fließenden grenzen und schwankenden schreibungen ist nicht gelöst. Es ist bei bindung der großschreibung an die grammatische kategorie der substantive grundsätzlich auch nicht lösbar. Das hemd ist immer zu kurz – es sei denn, man entschiede sich für D3 Substantivkleinschreibung, die diese probleme gar nicht mehr aufkommen lässt.



“Groß oder klein?“

in der diskussion



Bis spätestens 1995 wird über die künftige regelung der groß- und kleinschreibung entschieden, und zwar so oder so. Betroffen sind davon vor allem die kommenden generationen, die mit dieser regelung von kindheit auf umzugehen haben. Notwendig ist deshalb, nicht emotional seine vorlieben oder abneigungen zu propagieren, sondern das pro und contra sachlich zu diskutieren – und nüchtern abzuwägen (vergleiche auch den ausführlichen kommentar der “Vorschläge zur Neuregelung“).



(Vieles) ist eine Frage des Taktes, bei deren Beantwortung es darauf ankommen wird, dass einerseits der Grammatiker dem Publikum nicht zu viel zumuthe, und dass andererseits das Publikum nicht glaube, es solle seiner edelsten Güter beraubt werden, wenn es von dem einen oder anderen bisher geübten Missbrauch befreit werden soll.



Rudolf von Raumer, 1876.



Abweichungen von der heutigen schreibung: Gemäß D1 gäbe es keine abweichungen. Deren zahl gemäß D2 wäre in texten gering. Die variante D3 schnitte in dieser hinsicht am schlechtesten ab. Rund jedes vierte wort, so die auszählung von texten, ist ein substantiv, das gemäß D3 klein geschrieben wird: Ähnlichkeit Æ ähnlichkeit, Eigentum Æ eigentum, Achsel Æ achsel, Quelle Æ quelle, Vater Æ vater. Allerdings ist die neue schreibung als solche, grundsätzlich gesehen, nicht unvertraut; sie findet sich schon heute bei anderen wörtern mit demselben wortstamm, in ableitungen und zusammensetzungen: ähnlich, eigen, achselzuckend, quellsprachig/Donauquelle, väterlich/Großvater. Gravierender wäre, wenn die schreibung der stämme selbst geändert würde wie etwa änlich, Axel, Kwelle oder Fater – aber das ist nicht geplant.

Aufwand der regelung: Bei der Variante D3 Substantivkleinschreibung ist für die substantive nichts zu regeln. Demgegenüber ist der aufwand unter D2 Modifizierte Großschreibung in den “Vorschlägen zur Neuregelung“ mit gut fünf und der unter D1 Status-quo-Regelung mit acht seiten schon vom umfang her enorm. Gravierender bei beiden ist aber die kompliziertheit.

Der aufwand für die regelung der eigennamenschreibung ist in den drei varianten nahezu gleich. In D1 und D2 geht es um die schreibung der nichtsubstantivischen bestandteile in mehrteiligen namen wie der Stille Ozean, Peter der Große, Klein Erna, Kap der Guten Hoffnung. In D3 sind zudem die einteiligen namen wie Fritz, Europa, Berlin, Alpen mit einzubeziehen; in den beiden anderen varianten sind diese durch die regel “Substantive groß“ abgedeckt – ein kleines quantitatives plus.

Substantive treten in laufenden texten etwa fünfmal so häufig auf wie eigennamen. Rund jedes vierte wort ist ein substantiv, rund jedes 22. ein einteiliger name. Bezogen auf potenzielle unsicherheitsfälle (nicht auf real gemachte fehler) besteht zwischen D1 und D3 das verhältnis 3:1, das sich bei wahl der variante D2 kaum ändern dürfte. Unterm strich ergibt sich mithin hier für D3 ein dickes plus.

Aus der sicht des schreibenden: Oft wird der schreibfluss unterbrochen durch die frage “Groß oder klein?“ und durch den versuch, den fall mit einem orthographiebuch zu lösen. Die problematik der heutigen regelung wird aktenkundig in den verstößen ihr gegenüber, die in den schulen mit rot geahndet und in der gesellschaft mit naserümpfen (“Der kann ja noch nicht mal richtig schreiben“) quittiert werden – was meist auch für die naserümpfenden selber gilt.

Der anteil dieser fehler von schülern liegt auf dem dritten von sechs rängen, nach solchen der zeichensetzung und vor denen der getrennt- und zusammenschreibung. Der dritte Rang ist über die klassen 5 bis 10 durchgehend stabil, der anteil bleibt durchgängig konstant. Erwachsene haben dieselben probleme wie schüler der letzten klasse – und dies seit mindestens 25 jahren und trotz intensiven bemühens, dem auch in interdisziplinärer zusammenarbeit didaktisch und methodisch beizukommen.



Der Vorwand, dessen sie (die Befürworter der Substantivkleinschreibung) sich dabey bedienen, ist dieser, daß unstudirte Leute nicht wissen können, was ein Haupt-wort... sey, oder nicht. Allein die Schwachheit der Unwissenden zu schonen, würden ja die gelehrten Schreiber, noch viele andere Dinge weglassen... müssen.



Johann Christoph Gottsched, 1762.



Mithin brächte die substantivkleinschreibung für den schreibenden eine erhebliche erleichterung mit sich. Die neue regelung wäre leicht zu lernen und anzuwenden – selbst für den, der mit der heutigen aufgewachsen ist. Die zahl der potenziellen unsicherheitsfälle ist stark verringert, entsprechend wird es der anteil der fehler. In Dänemark sank die fehlerquote nach einführung der substantivkleinschreibung (1948) um mehr als 65 prozent.

Aus der sicht des lesenden: Die behauptung, die substantivkleinschreibung sei eine leseerschwernis, bezieht sich zum einen auf die sinnerfassung. Beschworen wird die gefahr einer vielzahl neuer doppeldeutigkeiten, die man oft an beispielen demonstriert wie die genossen haben liebe genossen und der gefangene floh.

Doch diese beispiele funktionieren nur, weil sie künstlich isoliert sind. In der natürlichen kommunikation kommt so etwas nicht vor. Und schon ein kleiner zusatz wie der gefangene floh aus dem gefängnis oder der gefangene floh in der streichholzdose macht klar, was gemeint ist. Bestätigt wird dies durch die systematische untersuchung von texten mit gut 12000 sätzen. Nur 38 waren – isoliert gesehen – doppeldeutig, keiner war es innerhalb des zusammenhangs. Bei 37 war die sinnerfassung durch den vorhergehenden text von vornherein unzweideutig gesteuert; lediglich bei einem geschah dies erst im nachhinein.

Zum aspekt sinnerfassung wird außerdem eingewendet, die großschreibung der substantive entspräche der besonderheit des deutschen satzbaus, mit einem artikel und zugehörigem substantiv eine klammer zu bilden: die von vielen Schülern nicht gut beherrschte Rechtschreibung. Der großbuchstabe sei dabei eine unentbehrliche gliederungshilfe für den lesenden, um sich vorausblickend zu orientieren. Des weiteren sei die substantivgroßschreibung ein ausgezeichnetes hilfsmittel zur schnellen erfassung des textsinns überhaupt.

Pauschal dazu nur dies: Es handelt sich um hypothesen. Das es sich so verhält, ist bis heute nicht erwiesen – und vieles spricht dagegen.

Zum anderen geht es um die lesegeschwindigkeit. Die zahlreichen lesetests, die von 1932 bis 1989 durchgeführt worden sind, ergeben – auf den punkt gebracht – folgendes: Texte werden in der schreibweise am schnellsten gelesen, in der die testpersonen sie von kindheit auf lesen gelernt haben und die sie seit je gewohnt sind.

Die deutschen testpersonen waren aufgewachsen mit groß geschriebenen substantiven. Sie lasen texte mit klein geschriebenen denn auch erwartungsgemäß langsamer. Die verzögerung betrug rund 5 Prozent.

Anders gewendet: Sie lasen von texten in der unvertrauten schreibweise in der gleichen zeiteinheit statt 1000 wörtern rund 950. Diese geringfügige beeinträchtigung wird sich im zuge der automatisierung des lesevorgangs und der bald erworbenen routine nach einer kurzen zeit der gewöhnung geben. Bei denen, die mit der neuen regelung aufwachsen, wird sie gar nicht erst auftreten. Über leseprobleme nach einführung der substantivkleinschreibung in Dänemark (1948) ist nichts bekannt. Die bilanz ergibt hier für keine regelungsvariante einen vor- oder einen dauerhaften nachteil.

Weiteres: Die erfahrungen in Dänemark bestätigen nicht die meinung, das eine rechtschreibreform für verleger und buchhändler große wirtschaftliche verlus-te mit sich bringen würde: Für vier der fünf befragten verlage brachte die umstellung nur vorteile, bei dem fünften hielten sich vor- und nachteile die waage. Alle betrachteten die reform als begrüßenswerten fortschritt.

Über die situation im schul- und bildungsbereich wird seit eh und je geklagt, insbesondere über einen mangel orthographischer kenntnisse von schulabsolventen auch bei der groß- und kleinschreibung. Eine ursache ist, das viele der sogenannten fehler regelgeleitet sind. Routinemäßig schreibt man gemäß einer übergeordneten regel richtig, zum beipiel auf das Gleiche hinauskommen analog zu etwas zum Guten wenden; doch nach einer ausnahmeregel muss man heute auf das gleiche hinauskommen schreiben. Fragen kann man da schon: “Wo liegt eigentlich der Fehler?“ (vergleiche mein buch zur rechtschreibreform mit diesem titel. Klett, Stuttgart 1993). Die substantivkleinschreibung würde, wie auch änderungen in anderen bereichen, entschieden positive auswirkungen auf diese situation haben – eine einschätzung, die durch die erfahrungen im muttersprachunterricht anderer länder bestätigt wird.



Einhundert jahre sind wirklich genug.



Gerhart Baum,

Bundesminister des Innern, 1974.



Bilanz: Wägt man die bisherigen argumente gegeneinander ab, so spricht die gesamtbilanz für die substantivkleinschreibung als die zweckmäßigste lösung. Sie ist zwar nicht frei von schwierigkeiten bei der abgrenzung dessen, was weiterhin groß zu schreiben wäre; doch bietet sie unter berücksichtigung aller faktoren für alle beteiligten, die in der regel schreibende und lesende in personalunion sind, die wenigsten nach- und die meisten vorteile. Die zuordnungen von lauten und buchstaben sind nicht betroffen. Die klein geschriebenen substantive sind als stammbilder schon heute vertraut. Die vorgeschlagene regelung ist weitaus handhabbarer als diejenigen mit großschreibung der substantive.

Argumentationen dieser art sind freilich nicht neu. Eine auseinandersetzung mit ihnen findet oft jedoch nicht statt. Die diskussion wird sozusagen auf einer anderen ebene geführt – und auch abgeblockt.

Zum einen wird die bisherige tradition beschworen und die reform mit kulturverlust gleichgesetzt. Jede schriftliche kommunikation bedarf tatsächlich der kontinuität graphischer normen und der gesicherten schreibtradition; das wird auch von mir nicht bestritten. Doch der sprach- und schreibwandel zeigt vielgestaltig, das der traditionsbegriff eine weiterentwicklung durch änderungen mit einschließt. Wenn wie bei der heutigen groß- und kleinschreibung deutlich wird, das viele beteiligte damit nicht klar kommen, so ist dies grund genug, sie in vernünftiger weise zu ändern. Denn die schriftliche kommunikation bedarf auch graphischer normen, die für die allgemeinheit handhabbar sind.

Zum anderen dient die behauptung, die neue regelung sei nicht durchsetzbar, auch dazu, in die debatte gar nicht erst einzutreten. Nun haben sich allerdings die meisten der vorschläge für eine reform dieses bereichs seit 1902 (nämlich 51 von 77) für die substantivkleinschreibung ausgesprochen. Zudem ergab sich in 16 umfragen (zwischen 1955 und 1982) eine insgesamt klare und stabile mehrheit für eine neuregelung auch dieses bereichs – in zwölf umfragen wurde für die substantivkleinschreibung und in dreien für eine modifizierte großschreibung votiert. Der Internationale Arbeitskreis für Orthographie hat sich einstimmig für die substantivkleinschreibung ausgesprochen und empfiehlt nachdrücklich sie einzuführen.

“Dat er dat darf“ – der einzelfall das/daß

Umstritten ist unser vorschlag, die schreibung das und daß zugunsten von das gleichviel für was aufzuheben.



Abermals wird uns angesonnen, das wir das das, das bisher nicht so geschrieben wird wie das das, das wie das das geschrieben wird, künftig so zu schreiben hätten wie das das, das wie das das geschrieben wird.



Hans Krieger

“Bayerische Staatszeitung“

vom 16. oktober 1992.



Historisches: Vom althochdeutschen bis in das 16. jahrhundert wurde diese graphische unterscheidung praktisch nicht gemacht. Luther verwendete, dies nur als beispiel, das als artikel, demonstrativ- und relativpronomen sowie als konjunktion (vergleiche das zitat). In einem “Dictionarivm Germanicolatinvm“ von 1561 findet sich “daß für darum“, dem lateinisch cur entspricht. In einem “Thesavrvs Lingvae“ von 1616 ist die verteilung hier pronomen, dort konjunktion(en) weit fortgeschritten: das für lateinisch id, hoc, illa, illud, haec, hingegen daß für lateinisch ut, quin, ne, quod, quia. Beide lexikographen versuchten das lateinische system mit den unterschiedlichen wörtern durch die unterscheidung von das und daß aufs deutsche zu übertragen. Im Jahre 1606 wurde diese zur orthographischen regel erhoben und so demonstriert: “Daß du das gethan/hastu dir hiedurch ein ewig lob gemacht: allhie ist das erste daß ein Conjunction/das ander aber ein Articul.“ Seit dem 17. jahrhundert ist daß neben das allgemein anerkannt.

Moor/Mohr, aber Tor: Schreibunterscheidungen dieser art gibt es auch sonst, so etwa mahlen/malen, Moor/Mohr, Laib/Leib, mehr/Meer. Zugrunde liegt das bestreben früherer sprachnormer, gleich ausgesprochene wörter entsprechend ihren verschiedenen funktionen oder bedeutungen zusätzlich in der schreibung zu unterscheiden.

Doch waren diese normer wenig konsequent. Die weitaus größte zahl einschlägiger wörter wird noch heute immer gleich geschrieben, so etwa Ausschuß, Bank, Bremse, ein, Flecken, sein, Star, Ton, Tor, Weide. Das ist auch gut so. Schreibunterscheidungen werden leicht zu rechtschreibklippen.

Für den lesenden wiederum sind sie offensichtlich überflüssig. Die menge solcher wörter in texten ist sehr groß, über dadurch verursachte lese- und verständnisschwierigkeiten ist aber nichts bekannt. Dies zeigen auch zugespitzte beispiele wie Er stieg hart auf die bremse, weil ihn eine bremse gestochen hatte. Das wird sein mantel sein. Ein berliner isst keinen berliner, man beißt sich ja nicht ins eigene fleisch – was auch für amerikaner gilt. Schon in diesen kurzen sätzen ist eindeutig klar, was gemeint ist. Doch wie ist dies bei das und daß?

Aus der sicht des schreibenden: Die analysen der fehler in aufsätzen (klasse 2 bis 10) ergeben, das die unterscheidung das/daß der orthographisch fehlerträchtigste einzelfall der deutschschreibenden ist; das statt daß liegt dabei einsam an der spitze, daß statt das gehört mit zur spitzengruppe.

Der anteil an der gesamtmenge der fehler zeigt dabei eine stark steigende tendenz: In klasse 10 ist er mehr als doppelt so hoch wie in klasse 5. Die schreibung das auch für die konjunktion ist eine erhebliche vereinfachung und erleichterung beim schreiben – was auch ihre gegner nicht bestreiten.

Aus der sicht des lesenden: Im gegenzug heißt es mit hinweis auf die hohe frequenz von daß und das in texten, das diese änderung viel größere schwierigkeiten beim lesen verursachen würde, als beim schreiben eingespart werden könnten. Diese aufrechnung ist aber schon deshalb allenfalls hypothetisch, weil der erste rechnungsposten mit “viel größer“ nur vage umrissen ist.

Das folgende spricht nicht dafür, das es sich so verhält. Viele der sogenannten funktionswörter werden wie das und daß sehr häufig und zudem in verschiedenen funktionen gebraucht, so etwa an, bis, in, mit, von und um – letzteres als präposition, infinitivkonjunktion, verbzusatz und adverb.



Er glaubt,

um drei uhr kommen zu können.

um den hals eine kette tragen zu können.

um überhaupt weiter leben zu können.

umfahren könne er das hindernis nicht.

um die 2000 mark verloren zu haben.



Des weiteren sind zu und auch die absoluten spitzenreiter der häufigkeitsranglisten der und die zu nennnen. Doch niemand käme darauf, analog zu das/daß etwa um als präposition von umm als konjunktion graphisch zu unterscheiden. Das hat seinen grund: Über lese- und verständnisschwierigkeiten ist bei all diesen wörtern trotz immer gleicher schreibung nichts bekannt. Dies zeigt auch das zugespitzte beispiel: Um um drei uhr ankommen zu können, umfuhr er, um den hals eine kette, um die vierzig hindernisse schnell.

Beispiele, die bei das auch für die konjunktion nicht eindeutig sind, lassen sich nur mühsam finden. Ein fall ist der isolierte satz: Bedenke, das alles wächst. Aber der zusatz nur eines wortes wie gut sichert das verständnis: Bedenke, das alles gut wächst. Bedenke, das alles wächst gut.

Gegen die referierte hypothese sprechen die ergebnisse einschlägiger lesetests. Den versuchsgruppen wurden texte mit der schreibung das auch für die konjunktion vorgelegt, den kontrollgruppen solche mit das/daß. Insgesamt wirkte sich das auch für die konjunktion nicht negativ aus, weder auf das stille und laute lesen noch auf das erfassen von sätzen und texten und deren überschaubarkeit. Geringfügig, jedoch nicht signifikant schwächere leistungen bei den versuchsgruppen etwa beim stillen lesen in einer klasse überraschen nicht. Die testpersonen waren, vergleichbar jenen bei den lesetests zur substantivschreibung, mit der unterscheidungsschreibung aufgewachsen und vertraut. Eine verzögerung wie die rund 5 prozent bei substantivkleinschreibung wird durch das auch für die konjunktion nicht bewirkt – was auch einleuchtet, weil die zahl der ungewohnt geschriebenen substantive in texten weitaus größer ist als die der konjunktion das.

Verwirrspiele: Das zu beginn dieses abschnitts angeführte zitat suggeriert, das auch für daß rufe totale konfusion beim lesen hervor. Solche häufungen finden sich in normalen texten jedoch nicht.

Die leseschwierigkeiten sind insbesondere in der verschachtelten konstruktion begründet, die man allerdings mühevoll so aufbauen muss, das sie sich erst nach mehrfachem lesen erfassen lässt. Solche verwirrspiele gerade mit das sind sehr beliebt, auch um den vorschlag zur neuregelung lächerlich zu machen – komisch sind sie ja. Doch die konstrukteure müssten, wären sie konsequent, auch etwa bei der und die für die graphische unterscheidung je nach funktion plädieren, denn damit lassen sich gleichfalls solche verwirrungen erzielen:



Die, die die, die die dietriche erfunden haben, verdammen, tun unrecht.

Der, der der, der der der Erika gehörende Schmuck der der derzeit größten Eifersucht dienende Anlaß ist, helfen will, der schenkt der, der der der derzeit angemessenen Selbstkontrolle dienliche Blick dermaßen abhanden gekommen ist, ebenfalls solchen Schmuck.



Auch bezogen auf das für daß werden “Kulturverlust“ (so Hans Krieger 1992) und “Abschied von der Sprachkultur“ (Gerhard Mayer-Vorfelder, kultusminister von Baden-Württemberg, in den “Stuttgarter Nachrichten“ vom 5. november 1988) bemüht – so, als ginge es darum, die konjunktion abzuschaffen, nicht aber nur ihre ausnahmeschreibung mit ß. Wenn aber die deutsche (sprach)kultur mit der heutigen regelung das/daß, die vielen große schwierigkeiten macht, stünde und mit der neuregelung das auch für daß, die für den schreibenden eine erhebliche erleichterung ist und für den lesenden nicht von nachteil, fiele, dann wäre es um sie wohl nicht gut bestellt.

Egalisierung auf unterem Niveau?

Die gleichung rechtschreibreform=“Traditionsbruch“ und “Verlust der Sprachkultur“ begleitet das bemühen um eine vernünftige regelung der rechtschreibung nicht erst seit 1902. Sie ging und geht indes nicht auf.

Die regelung der rechtschreibung gehört zur sprache, ist aber nicht die sprache insgesamt. Sie betrifft einen der vielen aspekte der sprache, doch ist dieser sicherlich nicht der wichtigste. Sie ist eine konvention, die zum teil auf merkwürdige weise zustande kam und im verlauf der zeit in vielen punkten geändert, wenn auch dabei oft nicht verbessert wurde.

Nahezu stereotyp wird mit “Verlust der Sprachkultur“ eine wertung folgender art verknüpft: “... die Lernschwierigkeiten der Minderbegabten, Uninteressierten oder durch verkehrten Unterricht in passive Resistenz Getriebenen zum Maßstab aller Orthographie-Dinge (zu erheben)“ (Hans Krieger 1992) – das ist ein “Kniefall vor denjenigen, die mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuß stehen“ (Josef Kraus, Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes, in der “Frankfurter Allgemeinen“ vom 7. oktober 1992) und “die Tendenz nach einer Egalisierung auf unterem Niveau“ (Hans Maier, Kultusminister Bayerns, in der “Welt“ vom 20. mai 1984).

Auch die wertung “Schwachheit der Unwissenden“ hat ihre lange tradition, wie das zitat von Gottsched aus dem jahre 1762 zeigt. Das von Krieger 1992 eingebrachte argument, man vereinfache ja auch nicht das einmaleins, obwohl die meisten erwachsenen es nicht beherrschten, lässt außer acht, das die mathematik anderen gesetzen folgt als die graphische norm.

Diese dient den kommunikativen handlungen des schreibens und des lesens. Wenn änderungen der norm den umgang mit ihr beim schreiben erleichtern und beim lesen keine nachteile bringen, so ist dies ein hinreichender grund, sie durchzuführen – und dies ist ebenfalls kein neues Argument:



Die Hauptaufgabe unserer Schrift ist eine praktische. Sie hat dem ganzen Volk zu dienen.



Rudolf von Raumer, 1876.



Ein rückblick auf die lange geschichte der reformbemühungen zeigt, das seit 1901 zum ersten mal die reale chance besteht, die regelung der rechtschreibung in vernünftiger weise zu erneuern – und zwar nicht für ein volk, sondern für die gesamte sprachgemeinschaft. Alle an der diskussion beteiligten sollten sich um sachlichkeit bemühen, damit diese chance nicht vertan wird.

Auch nach einer reform werden die vermittlung, das lernen und die anwendung der orthographie nicht ohne schwierigkeiten sein. Doch nicht weniges wird einfacher sein.

Im selben jahr 1984, als Hans Maier vor “Egalisierung auf unterem Niveau“ warnte, unterzog sich Georg Gölter, sein damaliger amtskollege in Rheinland-Pfalz, einem recht kurzen diktat. Er machte sechs fehler, vier bei groß- und klein-, zwei bei getrennt- und zusammenschreibung. Würde jede(r), bevor sie oder er sich zum thema zu wort meldet, den gleichen mut aufbringen wie der minister – die diskussion verliefe wahrscheinlich anders als bis jetzt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1993, Seite 84
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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