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Reste von Ordnung im Unendlich-Dimensionalen

Der belgische Mathematiker Jean Bourgain hat die dem Nobelpreis an Renommee vergleichbare Fields-Medaille unter anderem für den Nachweis erhalten, daß es ausgedehnte Inseln der Ordnung im Chaos gibt - sogar in Systemen, über welche die klassische Theorie keine Aussage mehr machen kann.

Eigentlich sollte nur das Verschwimmen einer erkennbaren Struktur im Detail beobachtet werden. Enrico Fermi, besser bekannt als einer der Konstrukteure der amerikanischen Uran- und Plutoniumbomben, und seine Kollegen John Pasta und Stanislaw Ulam hatten Anfang der fünfziger Jahre im Nationallaboratorium von Los Alamos (New Mexico) einen der ersten Computer überhaupt, den MANIAC I, auf ein Problem angesetzt, dessen Lösung sie im Prinzip zu kennnen glaubten: Wie verhält sich eine Kette aus Massen, die durch Federn miteinander verbunden sind, wenn diese einem nichtlinearen Kraftgesetz gehorchen? Wenn das (lineare) Hookesche Gesetz gilt, wonach die Rückstellkraft der Auslenkung proportional ist, kann man sogar mit Bleistift und Papier die Antwort finden. Eine solche Masse-Feder-Kette verwenden die Physiker gern als Modell für eine (idealisierte) schwingende Saite, indem sie sowohl die Massenpunkte als auch die Federn zwischen ihnen beliebig – im Grenzfall unendlich – klein und entsprechend zahlreich machen.

Der Linearität verdankt das derart verfeinerte wie auch das grobe System die Superpositionseigenschaft: Man kann zwei verschiedene seiner Bewegungen einfach addieren und erhält wieder eine mögliche Bewegung des Systems. Mehr noch – es gibt gewisse bevorzugte Verhaltensweisen, aus denen sich alle überhaupt möglichen Bewegungen zusammensetzen lassen. Den Musikern sind sie als Grund- und Oberschwingungen geläufig; physikalisch zeichnen sie sich unter anderem dadurch aus, daß jede eine unveränderliche Frequenz und ihren eigenen Energiehaushalt hat. In einem ungedämpften System bleibt nicht nur die Gesamtenergie erhalten, sondern auch die jeder einzelnen Eigenschwingung ("Mode" im Physikerjargon) separat. Selbst wenn – wie in realen Systemen üblich – Reibung auftritt, tauschen sie keine Energie untereinander aus.

Diese Übersichtlichkeit geht verloren, sobald die Nichtlinearität ins Spiel kommt. Energie wandert dann in undurchschaubarer Weise von einer Frequenz zur anderen. Auf die Dauer, so die Erwartung von Fermi, Pasta und Ulam, würden diese Effekte sich ausmitteln, so daß wie in einem idealen Gas, bei dem die Wechselwirkung unter den Molekülen gleichfalls nichtlinear ist, die Energie sich gleichmäßig über alle Freiheitsgrade verteilen und insbesondere keine Spur vom Anfangszustand des Systems verbleiben würde.

Um so größer war die Überraschung, als das System in der Simulation ei-ne deutlich erkennbare Regelmäßigkeit zeigte. Es kehrte sogar der Anfangszustand, bis auf eine durch Rundungsfehler erklärliche Ungenauigkeit, in gleichen Zeitabständen wieder (Bild 1). Durch zahlreiche numerische Experimente mit den verschiedensten nichtlinearen Systemen stellte sich bald heraus, daß das nach den Initialen seiner Erstbetrachter benannte FPU-System keineswegs ein belangloser Sonderfall war. Wie ist das zu erklären?


Ordnung ohne Gesetz

Systeme mit solchen Eigenschaften sind die Domäne der KAM-Theorie (benannt nach ihren Schöpfern Andrej Kolmogorow, Wladimir Arnold und Jürgen Moser; siehe "Gesetz und Ordnung im Universum: die KAM-Theorie" von Barbara Burke Hubbard und John Hubbard, Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1994, Seite 86). Ein Gesetz wie das Superpositionsprinzip hat eine gewisse Wirkung über seinen unmittelbaren Gültigkeitsbereich hinaus auf Systeme, die zwar nicht mehr gesetzestreu, aber einem solchen hinreichend ähnlich sind. Man faßt das System, das einen eigentlich interessiert, als gestörte Version des geordneten auf. Die KAM-Theorie liefert dann die Aussage, daß unter gewissen Voraussetzungen eine Bewegungsform des ungestörten Systems die Störung überdauert, das heißt, im gestörten System im wesentlichen erhalten bleibt.

Beispielsweise hat die Gleichung für die lineare schwingende Saite dank dem Superpositionsprinzip eine Fülle von quasiperiodischen Lösungen; das sind additive Überlagerungen periodischer Lösungen, nämlich der genannten Eigenschwingungen. Nach der KAM-Theorie, die immerhin auf die Grobform des Systems anwendbar ist, überdauern unter den quasiperiodischen Lösungen zumindest diejenigen eine (nicht allzu große) Störung, bei denen sich das Problem der kleinen Nenner in kontrollierbaren Grenzen hält – physikalisch ausgedrückt: bei denen die Vielfachen der in der Lösung enthaltenen Frequenzen einander nicht so nahe kommen, daß Resonanz auftritt.

Insbesondere dürfen – im Gegensatz zu den von den Musikern geschätzten Saiten mit homogener Massenverteilung – die Frequenzen der Oberschwingungen nicht ganzzahlige Vielfache der Grundfrequenz sein; sonst wäre die durch Resonanz zwischen den Moden übertrage-ne Energie und damit das Gesamtverhalten des Systems nicht mehr abschätzbar. Das System muß also sozusagen verstimmt sein, und zwar in ganz besonderem Maße.

Diese Nicht-Resonanz-Bedingung ist unphysikalisch, denn es geht nicht nur um ganzzahlige, sondern allgemein um rationale Vielfache. Das läuft auf eine Unterscheidung zwischen rationalen und irrationalen Zahlen beziehungsweise irrationalen Zahlen verschiedener Art hinaus, was für physikalische – eben nicht unendlich genau bestimmbare – Größen sinnlos ist.

Gleichwohl kann man eine summarische Aussage gewinnen: Aus einem hinreichend großen, durch keinerlei besondere Bedingungen eingeschränkten Sortiment quasiperiodischer Lösungen überdauert ein großer Teil. Das läßt sich zum Beispiel an Teilchenstrahlen in Beschleunigern oder am Ringsystem eines Planeten direkt beobachten (Bild 2).

Wenn das ungestörte System, wie etwa bei Planetensystemen, bereits nichtlinear ist, kommt ein genügend reichhaltiges Sortiment von Frequenzen quasi von selbst zustande. Bei linearen Systemen hingegen hängen die Frequenzen nicht von der Amplitude ab und sind deswegen nicht ohne weiteres variabel; in diesem Falle verschafft man sich ein geeignetes Sortiment, indem man noch äußere, frequenzbeeinflussende Parameter hinzufügt.

Die Nicht-Resonanz-Bedingung hat eine merkwürdige Folge: Es ist schwieriger, die Störungen einer schlichten schwingenden Saite mathematisch zu beherrschen als die eines ganzen Planetensystems. Denn während man dessen Zustand durch endlich viele Zahlen – die Orte und Geschwindigkeiten der beteiligten Massenpunkte – erschöpfend beschreiben kann, benötigt man für die Saite deren Auslenkung mitsamt ihrer zeitlichen Änderung in jedem Punkt oder – äquivalent – die Intensität aller unendlich vielen möglichen Moden.

Das sind in jedem Fall unendlich viele Variable und, was noch lästiger ist, unendlich viele Frequenzen mit ihren jeweils unendlich vielen Vielfachen, die es zu meiden gilt. Das aber ist fast unmöglich, weswegen die klassische KAM-Theorie in diesem Falle kaum brauchbare Aussagen liefert.

Nun sind aber Systeme mit unendlich vielen Variablen – üblicherweise durch partielle Differentialgleichungen ausgedrückt – alles andere als exotisch. Prominente Beispiele sind die Wellengleichung, die Maxwellschen Gleichungen der Elektrodynamik und die Schrödinger-Gleichung der Quantenmechanik. Man findet sie fast zwangsläufig da, wo eine Größe – Auslenkung einer Saite, elektrische Feldstärke, Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Elektrons – sowohl räumlich als auch zeitlich variiert.

Im Gegensatz zu den genannten, sämtlich linearen Beispielen sind interessante partielle Differentialgleichungen häufig nichtlinear. Entsprechend groß ist das Interesse auch der Anwender, die umfangreichen, aber sehr inselartigen Kenntnisse über die linearen Systeme möglichst weit ins Nichtlineare auszudehnen.


Was hilft gegen kleine Nenner? Kleine Zähler

Dieses Unterfangen ist keineswegs aussichtslos, auch wenn man die KAM-Theorie nicht anwenden kann. Kleine Nenner bedeuten nur, daß man im Verlauf eines langen Rechenprozesses immer wieder durch sehr kleine Zahlen dividieren muß. Deswegen ist zu befürchten, daß das Ergebnis der Division groß ist, und zwar so groß, daß daran die nächsten Rechenschritte scheitern – es sei denn, der Zähler des Bruches mit dem kleinen Nenner wäre ebenfalls klein. Wie aber kann man das bewerkstelligen?

Es geht darum, Lösungen einer nichtlinearen Gleichung – mit unendlich vielen Unbekannten – zu finden. Dafür gibt es eine sehr leistungsfähige, wohletablierte Methode, das Newton-Verfahren. Statt die nichtlineare Gleichung direkt anzugehen, was ohnehin meistens unmöglich ist, löst man eine möglichst ähnliche lineare Hilfsgleichung. Deren Lösung ist immerhin eine Näherung an das, was man eigentlich haben will; man verwendet sie zur Konstruktion einer neuen linearen Hilfsgleichung, löst wiederum die, und so weiter. Auf diese Weise arbeitet man sich allmählich an das richtige Ergebnis heran.

Das Dividieren durch kleine Nenner bleibt einem zwar auch hier nicht erspart. Aber die Zähler sind jetzt nur noch so groß wie der sogenannte Defekt; der ist ein Maß dafür, um wieviel die genäherte Lösung die geforderte Gleichheit verfehlt, und strebt beim Newton-Verfahren sehr schnell gegen null.

Um diese Idee etwa auf das Problem der schwingenden Saite anzuwenden, bedarf es erheblicher Vorbereitung. Man muß sich darauf beschränken, solche Lösungen des linearen Systems zu stören, die nur endlich viele Frequenzen enthalten. Erst danach kann man die Gleichung in zwei Teile zerlegen, einen mit endlich und einen mit unendlich vielen Unbekannten; auf letzteren wendet man ein modifiziertes Newton-Verfahren an.

Zunächst ist aber der Defekt noch nicht klein; also kann man ihn nicht dem Zugriff der kleinen Nenner aussetzen. Vielmehr muß man für die ersten Schritte des Newton-Verfahrens den Effekt der kleinen Nenner unterdrücken. Man arbeitet also mit einer abgeänderten Hilfsgleichung, die aber trotzdem die Näherung verbessern hilft. Erst in dem Maße, wie der Defekt abnimmt, kann man die kleinen Nenner allmählich wieder zuschalten.

Diese Ideen haben in den letzten Jahren vor allem die amerikanischen Mathematiker Walter Craig und C. Eugene Wayne ausgearbeitet. Die Leistung Jean Bourgains bestand nun darin, deren noch relativ unhandliche Hilfsmittel so zurechtzumachen und zusammenzufügen, daß ein schlagkräftiges Werkzeug entstand. Das hat den Anwendungsbereich ihrer Idee wesentlich erweitert.

Um sicher zu sein, daß der Wettlauf der kleinen Zähler mit den kleinen Nennern ("wer strebt schneller gegen null?") nicht zugunsten der letzteren ausgeht, mußte Bourgain Aussagen über ihre Verteilung beweisen. Die unendlich vielen Terme, deren Größe es zu kontrollieren gilt, tragen zwei Nummern, die sich zum Beispiel auf zwei Moden beziehen, mit denen die gesuchte Lösung nicht in Resonanz geraten soll. Man kann sie sich in einem ebenen Gitter angeordnet denken, dessen Koordinaten gerade die beiden Nummern sind. Bourgain zeigte, daß die problematischen Terme sich an gewissen Stellen häufen; außerdem werden diese Häufchen mit zunehmender Größe und Gefährlichkeit immer seltener und liegen weiter voneinander entfernt.

Für diesen Beweis nutzte er Ergebnisse, die Jürg Fröhlich von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich und Thomas C. Spencer vom Institute for Advanced Study in Princeton (New Jersey) in einem gänzlich anderen Zusammenhang erhalten hatten: An deren Gitterplätzen saßen (gedachte) Atome, und es ging um die Bewegung eines Elektrons in einem derartigen – zufällig gestörten – Kristall.

Im Ergebnis ist es Bourgain gelungen, die Aussage der KAM-Theorie über deren Geltungsbereich hinaus auf eine Reihe von Systemen mit unendlich vielen Variablen zu übertragen, darunter Wellengleichungen und die Schrödinger-Gleichung in mehreren Raumdimensionen: Die durch gewisse Gesetze (zum Beispiel Erhaltungssätze) erzwungene Ordnung eines Systems strahlt auch auf benachbarte Systeme aus, für welche die Gesetze nicht mehr gelten.

Ist durch Bourgains Ergebnisse also das rätselhaft geordnete Verhalten des Fermi-Pasta-Ulam-Systems und seiner Varianten erklärbar geworden? Das weiß man noch nicht. Die Ordnung kann im Sinne der geschilderten Theorie von einem benachbarten System ererbt sein; vielleicht gibt es aber auch einen Satz noch unentdeckter Gesetze speziell für das FPU-System (oder ein anderes nichtlineares in seiner Nähe). Dann würde es möglicherweise zu einer Klasse nichtlinearer, unendlich-dimensionaler Systeme gehören (sogenannter integrabler Systeme), deren ungewöhnlich ordentliches Verhalten auf unendlich viele Erhaltungssätze zurückgeführt werden kann.

In jedem Falle würde Bourgain etwas zu der Frage beitragen können. Sein bisheriges Werk ist nämlich ungewöhnlich umfangreich und vielseitig, was wohl auch ein wesentlicher Grund für die Verleihung der Fields-Medaille war. Allein in seinem Vortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongreß in Zürich im vergangenen August ("Harmonic Analysis and Nonlinear Partial Differential Equations", erscheint demnächst in "Proceedings of the International Congress of Mathematicians 1994, Zürich" bei Birkhäuser) referierte er neuere Ergebnisse aus vier großen Arbeitsgebieten; nur eines davon konnte hier dargestellt werden. Unter den drei anderen ist auch die Erweiterung der hier beschriebenen Theorie auf nichtlineare integrable Systeme.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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