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Rettungsversuche an der Klinik

Die chirurgisch-medizinische Forschung in Deutschland befindet sich mitten in einem grundlegenden Strukturwandel. Um ihren befürchteten Niedergang und ihre Abwanderung in andere Länder zu verhindern, sollen sich Politik, Medizin, Industrie und Medien zu einem „Bündnis für Forschung“ zusammenschließen.

Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, der Hannoveraner Transplantationsexperte Rudolf Pichlmayr, sieht insbesondere die klinische Forschung in Gefahr: Die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Kliniken und Industrie werde in das Ausland verlegt, vor allem in die USA und nach Japan. Forschungsmittel und -kapazitäten, Innovationen und Forscher gingen damit verloren. Zusammen mit den Elektromedizinern im Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie und dem Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller (VFA) hat der Chirurgenverband in einer Pressekonferenz am 2. April in Bonn eine Gegenaktion gestartet, um die medizinische Forschung in Deutschland zu retten.

Bemerkenswerterweise nennt Pichlmayr unter den Hauptursachen dieser Abwanderungstendenz als erste zwei medizin-interne Punkte: unzureichende Forschungsstrukturen und -ausstattung in Kliniken und Krankenhäusern sowie zu geringe zeitliche Freiräume gegenüber der Lehre und der Krankenversorgung. Hinzu komme der Zwang, nach dem Gesundheitsstrukturgesetz und wegen der Sparmaßnahmen der Länder die Kosten zu reduzieren. Die Kliniker müßten deshalb der Krankenversorgung und den Verwaltungsaufgaben noch mehr Gewicht verleihen, wodurch sich die personellen und finanziellen Ressourcen für die Forschung verschlechterten.

Als Standortnachteile der pharmazeutischen Industrie zählt Pichlmayr die lange Dauer und das Fehlen interaktiver Beratung bei Genehmigungsverfahren sowie erschwerte Abläufe bei Studienplanungen und langwierige Verfahren der Ethikkommissionen auf. Der VFA macht unter anderem die hohen Kostenrisiken der Arzneimittelforschung – die Industrie investiere dafür noch rund 4,5 Milliarden Mark jährlich, davon ein Drittel in der klinischen Forschung – verantwortlich, die von den Behörden verursachte Planungsunsicherheit, die Restriktionen der Arzneimittelbudgets und der Festbeträge sowie den Markt, für den die Standortfaktoren in anderen Ländern besser seien. Öffentliche Mittel für Geräte-Investitionen blieben aus.


Hinderliche Rahmenbedingungen

Das von der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie vorgeschlagene "Bündnis für Forschung" verlangt von der Politik, weitere negative Auswirkungen des Gesundheitsstrukturgesetzes auf die Forschung zu vermeiden sowie Forschungsmittel bereitzustellen und zu garantieren. Die Industrie soll unter besseren Rahmenbedingungen die klinische Forschung in Deutschland und vor allem die europäische Zusammenarbeit verstärken. Öffentlichkeit, Gesellschaft und Medien sollen biomedizinische Forschung anerkennen.

In der Politik wird prinzipiell "eine Diskussion mit Industrie, Forschungsförderinstitutionen und Medizin über notwendige und geeignete Rahmenbedingungen zum Medizin-Forschungsstandort Deutschland" gefordert. Was unter ungünstigen Rahmenbedingungen für medizinische Forschung zu verstehen sei, hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) kürzlich in ihrer Denkschrift "Forschungsfreiheit" dargestellt (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Mai 1996, Seite 119).

Weil für die Embryonenforschung ein bundeseinheitliches Gesetz angewandt werden sollte, mußte es aus formalen Gründen in das Strafrecht übernommen werden. Damit seien aber die standesrechtlichen Regelungen der Ärzteschaft und die wissenschaftlichen Selbstverpflichtungen, die zum Embryonenschutz eigentlich ausgereicht hätten, kriminalisiert und jegliche Forschungsaktivität auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin erstickt worden, während andere Länder große Fortschritte etwa auf dem Gebiet der Präimplantations-Diagnostik machten. Die DFG fordert, die Selbstkontrolle und Selbstverantwortung der Wissenschaft zu stärken und staatlicher Kontrolle eine nur unterstützende Rolle zuzusprechen.

In der Gen- und Biotechnik sieht die DFG die einschränkenden gesetzlichen Regelungen trotz der Novellierung des Gentechnikgesetzes als noch zu groß und zu kompliziert an. Sie verlangt, "in Deutschland die gleichen Voraussetzungen wie in anderen Wissenschaftsnationen, insbesondere den USA und Japan, herzustellen, damit sich biomedizinische und biotechnologische Grundlagenforschung wieder mit dem unerläßlich nötigen Freiraum entwickeln kann".

Im Problemfeld "Tierversuche" akzeptierten die Wissenschaftler und ihre Organisationen grundsätzlich strenge Schutznormen. Aber Verwaltungsbehörden lehnten bestimmte wichtige Tierversuche ab oder genehmigten sie nur unter großen Schwierigkeiten. Manche von ihnen beachteten nicht einen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, wonach sie ihre sachliche Einschätzung der Bedeutung des Versuchszweckes nicht an die Stelle der Einschätzung des antragstellenden Wissenschaftlers setzen dürften. Großen Schaden erleide dadurch zum Beispiel die Hirnforschung an Primaten; sie werde aus Deutschland verdrängt.


Strukturreformen hängen nicht nur am Geld

Von der Medizin schließlich verlangt die Deutsche Chirurgische Gesellschaft "trotz der geforderten Einsparmaßnahmen in der medizinischen Gesamtversorgung größtmögliche Anstrengungen", die Forschungsstrukturen zu verbessern. Klinische Forschung, so Pichlmayr vor dem Deutschen Chirurgentag am 9. April in Berlin, werde in ihrer Methodik immer stärker grundlagenbezogen. Die Strukturverbesserung werde aber noch schwieriger, "wenn Leistungserbringung in der Krankenversorgung noch mehr im Vordergrund stehen muß". Das bedeutet freilich nicht nur mehr oder günstiger verteiltes Geld. Das zeigen die Ansätze und Versuche zu anderen Formen der Verbindung der medizinischen Universitätsforschung mit der Krankenversorgung als auch zu ihrer grundsätzlichen Umgestaltung.

Eine eingehende Analyse der Rolle, die Universitätskliniken in der Krankenversorgung spielen, und deren Finanzierung enthält der Bericht einer Arbeitsgruppe der Ständigen Konferenz der Kultusminister (KMK) "Überlegungen zur Neugestaltung von Struktur und Finanzierung der Hochschulmedizin", den die KMK am 29. September 1995 beschlossen hatte und der jetzt ernsthaft diskutiert wird. Er will unter anderem die "Gemengelage" zwischen Mitteln für Krankenversorgung und Forschung auflösen. Diese ist bis jetzt allerdings noch höchst unklar. "Anerkannte Grundsätze, wie der auf Forschung und Lehre tatsächlich entfallende Kostenanteil zu ermitteln ist, fehlen noch weitgehend", begründen die Bundesministerien für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) und für Gesundheit eine öffentliche Ausschreibung für ein Gutachten, wie die Kosten von Forschung, Lehre und Krankenversorgung in der klinischen Hochschulmedizin zu ermitteln seien. Angebote erwartet das BMBF bis 7. Juni 1996.

Die KMK-Arbeitsgruppe schlägt als Ausweg Teilbudgets der Universitätskliniken vor: für die Krankenversorgung im stationären und im ambulanten Bereich, für Forschung und Lehre sowie für sonstige Aufgaben. Folgen für die Rechtsform wären – im Gegensatz zur Krankenversorgung – für Forschung und Lehre an den Universitätskliniken Anstalten des öffentlichen Rechts. Eine Privatisierung der Kliniken sei auf absehbare Zeit nicht aktuell. Sehr wohl aber könne man auch an eine GmbH denken, an der die Kommunen beteiligt sind. Das Forschungsbudget soll nach Meinung des KMK-Berichts in eine sogenannte Grundausstattung für die laufenden Aufgaben der Einrichtungen und in einen "Forschungs- und Lehrfonds" für wechselnde Projekte unterteilt werden. Die Kriterien für die Bemessung der Grundausstattung und für die Verteilung der Mittel aus dem Forschungs- und Lehrfonds sollen die Fakultäten festlegen. Das heißt: An ihnen soll es künftig liegen, welches medizinische Forschungsprofil ihre Universität hat.

Das verlangt einen grundlegenden Sinneswandel. Hilfe in dieser Richtung geben die klinischen Forschergruppen, die von der DFG fachlich betreut und vom BMBF finanziert werden (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1993, Seite 110). Die dafür bei der DFG zuständige Referentin Beate Konze-Thomas versichert, dies sei ein geeignetes Instrument, um den Trend ins Negative aufzuheben. Sie bewertet die klinische Forschung und die medizin-orientierte Industrie in Deutschland recht positiv. Allerdings befänden sich auf dem Weg von der Grundlagenforschung in die Anwendung gewissermaßen noch einige Stolpersteine, die auszuräumen seien.

Offensichtlich haben aber die Chirurgen, von denen der jüngste Anstoß zur Verbesserung der medizinischen Forschung in Deutschland ausgeht, dieses Instrument bisher nicht ernst genommen. Unter den Anfang 1996 bestehenden 33 klinischen Forschergruppen sind bisher nur zwei – und zwar erst in letzter Zeit -an chirurgischen Abteilungen eingerichtet worden. Auch Pichlmayr ging in der Pressekonferenz am 2. April lediglich auf die Frage eines Journalisten hin darauf ein. Während vor allem die Innere Medizin diese strukturändernde Initiative lebhaft aufgegriffen hat, also offenbar forschungsfreudiger ist, schauen die Chirurgen eher auf die ökonomischen Bedingungen ihrer Arbeit und sehen in ihrer Begrenzung ein wichtiges Hindernis für die medizinische Forschung.

Auch der Wissenschaftsrat beurteilt das Programm der klinischen Forschergruppen als erfolgreich. Und die nach dreijähriger Vorbereitung endlich begonnenen Interdisziplinären Zentren für klinische Forschung in Hochschulkliniken, die das BMBF im Rahmen seines Programms "Gesundheitsforschung 2000" jetzt in Aachen, Köln und Leipzig, später auch in Ulm, Tübingen, Erlangen, Würzburg und Münster fördert, sollen "Strategien für ein optimales Miteinander von Wissenschaft, Versorgung und Lehre erarbeiten und Strukturen aufbauen, die vor allem für die klinische Forschung eine vorteilhafte Organisation bieten und beispielhaft für andere Hochschulkliniken sind".

Sollen Programme wie das der klinischen Forschergruppen und der Interdisziplinären Zentren auf Dauer strukturell wirken, müßte die Bereitschaft der betreffenden Länder und Universitäten, sie nach höchstens neunjähriger öffentlicher Förderung zu übernehmen, noch deutlicher werden. Die Fakultäten haben damit lange Zeit gezögert und es eher mit Mißtrauen beobachtet, daß an drei Universitäten auch ohne besondere Förderung solche Gruppen entstanden sind – ein Beispiel dafür, daß solche strukturellen Entwicklungen nicht unbedingt am Geld hängen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1996, Seite 117
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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