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Winters' Nachschlag: Rilke, Mann und die Tücken der Motorik

Lesen bildet, Sport hält fit - aber beides zusammen kann böse enden.
Als hätte ich es kraft meines gesunden Menschenverstands nicht längst geahnt: Lesen trainiert die Gehirnmuskeln! Wer dafür noch Belege brauchte: Der Artikel ab S. 14 listet eine Reihe gewichtiger Studien auf, die dem Schmökern einen günstigen Einfluss auf unseren Intellekt bescheinigen. Wie sehr sind da doch jene Multitasking-Athleten zu beneiden, die im Fitnessstudio gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, oder besser gesagt: zwei inneren Schweinehunden mit nur einem Fuß in den Hintern treten – indem sie beim Strampeln, Steppen oder Rudern scheinbar seelenruhig ein Buch oder eine Zeitschrift lesen.

"Kann ich auch!", dachte ich mir. Statt der Groschenromane, Klatschpostillen und Tattoo-Magazine meiner Trainingsgenossen würde ich meinen Geist aber gleich richtig fordern. So erklomm ich das Laufband mit einer gebundenen Gesamtausgabe der Werke von Rainer Maria Rilke und begann zu lesen: "Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?" Wie wahr, sinnierte ich, während ich geschmeidig einen Fuß vor den anderen setzte. Doch die erste Duineser Elegie hatte noch kaum Fahrt aufgenommen, da stolperte ich jäh und schlug mit dem Gesicht unsanft gegen den Haltegriff der Laufmaschine, bevor der graue Nadelfilz des Studiobodens meinen Sturz bremste. Lesen verändere die Struktur der neuronalen Hardware, heißt es in Christian Wolfs Artikel – ob damit auch die leichte Gehirnerschütterung gemeint war, die ich bei diesem Unfall davontrug?

Meine Fähigkeit, verschiedene Tätigkeiten gleichzeitig auszuführen, war offenbar bereits mangels geistiger Fitness verkümmert. Doch ich ließ mich durch das Fiasko meines ersten Selbstversuchs nicht entmutigen und zückte Plan B aus der Sporttasche. Beim Joggen durch den Stadtwald lauschte ich über riesige, gepolsterte Kopfhörer, die selbst im New Yorker Central Park als lächerliche Accessoires aufgefallen wären, Thomas Manns "Buddenbrooks" als Hörbuch – natürlich die ungekürzte, von Gert Westphal gelesene Fassung auf 22 CDs.

Diese Methode schien gegenüber dem Schmökern auf dem Laufband das Unfallrisiko zunächst beträchtlich zu senken; allerdings nur für mich, nicht für den hysterisch kläffenden Rehpinscher, den ich vor lauter Buddenbrooks überhörte und deshalb kurzerhand über den Haufen rannte. Ich ließ mich von diesem kleinen Zwischenfall jedoch nicht beeindrucken und lief Runde um Runde weiter, stolz darauf, meinen Körper endlich von Kopf bis Fuß zu ertüchtigen.

Die neue Technik barg allerdings noch eine andere Gefahr, deren ich mir womöglich bewusst gewesen wäre, hätte ich den G&G-Artikel sorgfältiger gelesen. Denn wie Experimente nahelegen, reagiert unser Gehirn auf Gelesenes in etwa so, als würden wir die beschriebenen Handlungen selbst vollführen!

Für jene seltene Spezies, die sowohl im Laufen als auch im Lesen geübt ist, stellt diese kurzzeitige Verwirrung in den motorischen Hirnarealen vermutlich kein Problem dar. Ich jedoch hatte meine Ausdauer ohnehin schon überstrapaziert und wollte "nur noch schnell das Kapitel zu Ende hören" – als ein Teil meines Körpers mitten im Lauf versuchte, eine Mittagsgesellschaft im Hause Buddenbrook nachzuspielen. Wie es genau zu dem Sturz kam, vermag ich nicht zu sagen, doch der Reaktion der Umstehenden nach zu urteilen, hatte er durchaus Unterhaltungswert.

Offenbar musste mein motorischer Kortex erst noch lernen, nicht jedes Stück Weltliteratur, das ihm unterkommt, auch gleich zu mimen. Alle weiteren Experimente verschob ich auf den Tag, an dem mir der Gips wieder abgenommen werden sollte. Bis dahin würde ich es mir mit Schokolade und Rotwein auf der Couch gemütlich machen und immer wieder genießen, wie sich Christian Buddenbrook und Aline Puvogel das Eheversprechen geben.

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