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Rolling Stones

Man kann auch dann sehr komfortabel vorankommen, wenn der Wagen mit eckigen Rädern ausgestattet ist – vorausgesetzt, die Straße hat die richtige Form.

Wenn die Geschäfte nicht bald wieder besser gehen, bin ich gezwungen, unsere Firmenstruktur schlanker zu machen." Otto Steinbeißer, Präsident der Hinkelstein GmbH & Co KG, saß depressiv auf einem Granitklotz in seinem Steinbruch. Dem Lehrling Fred Feuerstein war noch trübsinniger zumute, denn er wußte genau, was das hieß. Es war nie die Struktur des Managements, die schlanker wurde – ebensowenig wie sein mit Pfunden gesegneter Chef.

Die zweite Rezession innerhalb weniger Jahre war einfach zuviel. Anscheinend opferten die Priester die falschen Ziegen, oder sie opferten die richtigen Ziegen, aber dem falschen Gott, oder die richtigen Ziegen dem richtigen Gott, aber auf dem falschen Altar. Jedenfalls bescherten einem die Götter statt blühender Landschaften eine Wirtschaftskrise nach der anderen. Jeder konnte das sehen; nur die Priester waren immer noch überzeugt davon, daß eine letzte Beschwörung nach altem Ritus die Wende bringen würde. Einziger Effekt ihres Wirkens war eine Inflation der Ziegenpreise, was das gesamte Wirschaftssystem zusätzlich belastete.

"Wir müssen ein neues Produkt erfinden", sagte Fred.

"Schön und gut", erwiderte Steinbeißer, "aber ich stecke bis zum Hals in Zahlungsschwierigkeiten. Wenn du ein neues Produkt nicht wirksam auf den Markt drückst, kannst du dir den Aufwand für die Entwicklung gleich sparen. Und die Markteinführung kostet!"

Dumpfes Brüten. Plötzlich sagte Steinbeißer: "Wir müßten etwas aus dem Material zusammenflicken, das wir auf Lager haben. Was haben wir auf Lager?"

"Tausend quadratische Marmorplatten. Sie sind von dem Marktplatz-Projekt übriggeblieben. Ich hatte Ihnen geraten, nicht so viele herzustellen."

"Wer nicht spekuliert, der nicht akkumuliert", erwiderte Steinbeißer selbstgefällig.

"Ja. Sie haben spekuliert, und wir haben akkumuliert, nämlich massenhaft Steinplatten. Vollkommen nutzlos, jetzt, wo der Markt den Boden verloren hat."

"Auch wahr." Der Marktplatz war unerwartet im Morast versunken, weil die neu gepflasterten Steinplatten für den unsicheren Untergrund zu schwer waren.

"Wir könnten sie in der Mitte durchbohren und als Räder für schwere Streitwagen verkaufen", sagte Fred in dem verzweifelten Versuch, einen Witz zu machen. "Oder noch besser, wir könnten sie zu dreieckigen Rädern zersägen."

"Ist das besser?"

"Sie schlagen bei jeder Umdrehung einmal weniger auf."

"Ach so."

"Moment mal!" rief Fred und wurde plötzlich munter. "Quadratische Räder..." Der Lehrling sprang auf, hastete über den Platz und schleppte eine Platte herbei. "Passsen Sie genau auf", sagte er. "Ich rolle die Platte hier entlang, und Sie sagen mir, was sie macht."

"Wenn's der Wahrheitsfindung dient... Also, sie dreht sich um eine Ecke und schlägt dann mit einer ganzen Seite auf. Und das immer wieder."

"Wenn sich in der Mitte eine Achse befände, wie würde die sich bewegen?"

"Hmm. Sie würde eine Folge von Kreisbögen beschreiben, die sich nach unten öffnen, jeder 90 Grad" (Bild 1).

"Die Achse bewegt sich also auf und ab, mit scharfen Richtungsänderungen da, wo zwei Bögen aneinandergrenzen – immer dann, wenn eine Seite des Quadrats auf den Boden schlägt. Das macht die Fahrt unbequem."

"Gelinde ausgedrückt. Und?"

"Worin besteht also das Problem?"

"Sei nicht albern, Fred. Offensichtlich hat das Rad die falsche Form."

"Falsch. Die Straße hat die falsche Form."

"Hä?" Steinbeißer horchte auf.

"Stellen Sie sich vor, die Straße hätte jede Menge Schlaglöcher. Und zwar gerade so, daß die vertikale Bewegung der Achse kompensiert würde. Dann läuft der Wagen glatt und ruhig."

"Du meinst, man nimmt die Kurve der Achsbewegung, dreht sie um und formt die Straße nach diesem Vorbild? Ein viertelkreisförmiges Schlagloch am anderen? Hey! Pflastersteine für Straßen mit vorgefertigten Vertiefungen, das wäre ein neues Produkt! Man würde Tausende brauchen. Allein die Straße von hier ins Dorf..."

"Sie haben's erfaßt, Chef. Aber ich glaube, es ist nicht ganz so einfach. Die Rollbewegung der Räder auf der Straße ist ziemlich kompliziert, und ich wäre überrascht, wenn man nur die vertikale Komponente der Achsbewegung ausgleichen müßte. Was wäre mit der horizontalen?"

"Wahrscheinlich ist das zu kompliziert für uns, Fred. Ich fürchte..."

"Sie fürchten dasselbe wie ich?"

"Wir müssen zur Hexe."


Differentialgeometrie

Nur im äußersten Notfall begab man sich in die Nähe des Tote-Katzen-Sumpfs, wo die Mathematik-Hexe hauste. Ihre Rezepte galten allgemein als verschroben und unverständlich; aber meistens wirkten sie.

"Das ist ein sehr interessantes Problem", sagte sie. "Von euch Steineklopfern hätte ich so etwas gar nicht erwartet. Hmmm... Wenn ein Rad gegeben ist – na ja, eine irgendwie geformte Scheibe – und dazu ein fester Punkt des Rades, durch den die Achse geht; gibt es dann immer eine Straße, auf der das Rad so rollen kann, daß die Achse sich nur horizontal bewegt und nicht auf und ab? Wenn es eine solche Straße gibt, muß sich ihre Form periodisch wiederholen."

Sie wühlte in einem Haufen zu Knoten verschlungener Rattenschwänze, seltsamer Rüben mit drei Ausläufern – sie nannte sie Kubikwurzeln – und anderer Requisiten und brachte schließlich einen kleinen Sandkasten und einen Stock zum Vorschein. "Mein Taschenrechner. Er arbeitet im Hexendezimalsystem", erklärte sie, kippte den Sand auf den Boden und ließ ihn mehrmals durch ihre Finger rinnen. Allerlei Ungeziefer rannte eilig davon. "Man muß sie regelmäßig entfernen, sonst gibt es Rechenfehler", erklärte sie den staunenden Steinmetzen und schüttete den Sand zurück in den Kasten. "Man nennt es Debugging."

"Was wollen Sie denn berechnen?"

"Mir scheint, das einfachste Rad ist eine gerade Linie."

"Wie? Skier?"

"Nein, es soll nicht gleiten, sondern auf irgendeiner Kurve rollen. Welche Form muß die Kurve haben, wenn wir annehmen, daß die Achse einen gegebenen Abstand von der Geraden hat?"

"Was hat das mit quadratischen Rädern zu tun?"

"Ein Quadrat besteht aus vier Geradenstücken. Wir lassen eins von ihnen eine Weile rollen, dann das nächste und so weiter. Wenn ich eine Kurvenform finden kann, auf der eine Gerade abrollt, kann ich viele Exemplare davon so zusammenbasteln, daß sich eine Straße für das Quadrat ergibt." Sie kritzelte Runen in den Sand und staunte plötzlich: "Ich hätte nie..."

"Haben Sie etwas gefunden?"

"Ich hätte es niemals erraten. Es ist eine Kettenlinie" (Bild 2).

"Faszinierend..."

"Ja", sagte Fred unsicher. "Was ist bitte eine Kettenlinie?"

"Das ist die Form, die eine an zwei Enden aufgehängte Kette unter dem Einfluß der Schwerkraft annimmt. Aber diese muß man auf den Kopf stellen."

"Ach ja."

"Wenn ich ein geeignetes Stück der Kettenlinie ausschneide und viele Exemplare davon zusammensetze, so daß sie sich im rechten Winkel treffen, erhalte ich eine Straße für ein quadratisches Rad" (Bild 3 a).

"Echt super, alte Hexe!" entfuhr es Fred.

"Ich bin Numerosophin!" fauchte sie.

"Ich wußte doch, es würde aussehen wie Viertelkreise", sagte Steinbeißer.

"Ja. Nur sind es keine."

"Na ja, aber fast."

Die Hexe war ins Sinnen gekommen. "Ich schätze, verschiedene Kettenliniensegmente ergäben geeignete Straßen für jedes regelmäßige Vieleck. Fünfecke und Sechsecke zum Beispiel", murmelte sie (Bild 3 b und c). "Vielleicht sogar für unregelmäßige? Welcher allgemeine Zusammenhang besteht zwischen Straße und Rad?" Sie kritzelte wieder geheimnisvolle Zeichen in den Sand und fand heraus, daß beide Formen über eine einfache Differentialgleichung verknüpft sind (siehe Kasten).

Wenn man eine Form für die Straße und die Höhe der Achse vorschreibt, gibt es höchstens ein Rad, das so darauf rollt, daß sich seine Achse horizontal in der vorgeschriebenen Höhe bewegt. Indem man die Höhe der Achse verändert, erhält man viele verschiedene Radformen für dieselbe Straße. Beispielsweise rollt ein kreisförmiges Rad, dessen Achse am Umfang angebracht ist, glatt auf einer Straße, die halbkreisförmige Kuhlen mit doppeltem Radius hat (Bild 4 a).

"Die Differentialgleichung ist so einfach, daß man zahlreiche Lösungen explizit angeben kann. Und das ist sehr ungewöhnlich", sagte die Hexe befriedigt.

"Welche zum Beispiel?"

"Wenn die Straße eine Cosinuskurve ist, kann das Rad eine Ellipse sein, mit der Achse in einem Brennpunkt" (Bild 4 b). "Auf einer Parabel rollt eine Parabel. Und wenn die Straße eine abwärts führende gerade Linie ist, dann muß das Rad eine logarithmische Spirale sein."

"Eine was?"

"Eine Spirale, die durch jeden vom Ursprung ausgehenden Strahl unter dem gleichen Winkel geschnitten wird."

"Aha."

"Für eine sägezahnförmige Straße muß das Rad aus Segmenten einer solchen Spirale bestehen; für eine nach oben geöffnete Zykloide braucht man eine Kardioide oder auch Herzkurve – aber dabei gräbt sich das Rad ein bißchen in die Straße ein. Wenn man die Zykloide absenkt, könnte das Rad ein dreiblättriges Kleeblatt sein" (Bild 4).

"Schön", sagte Fred. "Geht es auch mit einem vierblättrigen Kleeblatt?"

"Ja. Man muß die Straße nur etwas mehr absenken – oder die Achse anheben, was auf dasselbe hinausläuft. Variation dieses Parameters ergibt verschiedene Radformen für dieselbe Straße."

"Die Leute würden sich gewiß gern einen Streitwagen mit glückbringenden vierblättrigen Kleeblatträdern zulegen", meinte Fred. "Das ist genial!"

"Na ja, es ist schon interessant..." sagte Steinbeißer zweifelnd.

"Aber sehen Sie denn nicht...?"

"Nein."

Fred blickte hilfesuchend zur Hexe. "Sagen Sie's ihm."

"Ist doch klar. Designer-Räder."

"Und Designer-Straßen! Eine für quadratische Räder, eine andere für fünfeckige... Wir müssen nur daran drehen, daß sich die Verkehrsmode alle paar Jahre ändert, dann können wir nicht nur die Räder bauen, sondern bekommen auch die Aufträge für die Straßen! Wir nennen sie... Autobahnen! Und das Schönste ist, daß jede Radform nur für eine Straßenform funktioniert!"

"Aber an den Kreuzungen ergeben sich Probleme, wenn verschiedene Straßenformen aufeinandertreffen."

"Ach was. Wir bauen riesige Brücken, die eine Straße über die andere hinwegführen. Ich nenne sie... Überführungen! Dann bauen wir Verbindungen zwischen Straßen verschiedener Sorten und dazwischen Werkstätten zum Radwechseln, wir vergeben für teures Geld die Lizenzen dafür... Chef, wir werden ein Vermögen verdienen!"

Steinbeißers sonst trübsinniges Gesicht hellte sich eine Sekunde lang auf. Aber dann verdüsterte es sich wieder. "Vergiß es, Fred. Die Priester werden sich nie für ein so absurd kompliziertes und kostspieliges Transportsystem erwärmen."

"Doch."

"Wie?"

"Man muß sie nur auf die Idee bringen, Maut zu erheben."

Literaturhinweise

- Roads and Wheels. Von Leon Hall und Stan Wagon in: Mathematics Magazine, Band 65, Seiten 283 bis 301, 1992.

– A Catalog of Special Plane Curves. Von J. D. Lawrence. Dover 1972.

– Die Zykloide. Von Klaus Treitz in: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht, Band 46, Heft 6, Seiten 327 bis 334, 1993.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1994, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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