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Schizophrenie. Ursachen, Diagnosen und Verlaufsformen


Irving I. Gottesman, Professor für Psychologie und Pädiatrie an der Universität von Virginia in Charlottesville und international anerkannter Fachmann auf dem Gebiet der Schizophrenie-Forschung, hat 1991 in den USA ein Buch zu seinem Lebensthema vorgelegt. Es gelingt ihm, auch kompliziertere Sachverhalte beispielsweise der Verhaltensgenetik – eines Schwerpunkts seiner wissenschaftlichen Arbeit – in einer klaren und flüssig lesbaren Sprache zu erläutern. Seine erklärte Absicht ist es, "das vielschichtige Wissen über die Schizophrenie, das aus unterschiedlichen Quellen stammt und die Grenzen der traditionellen wissenschaftlichen Fachgebiete durchbricht, einem größeren Publikum zugänglich und verständlich" zu machen (Seite XIV). Dies geschieht nicht nur durch die Darstellung der wichtigsten Forschungsergebnisse, sondern auch durch das Einfügen von Selbstbeschreibungen (ehemals) Erkrankter und ihrer Familien.

Der Übersetzerin der deutschen Ausgabe ist es gelungen, einen ebenso präzisen und gleichzeitig zum Lesen animierenden Sprachduktus zu finden. Der Herausgeber Gerd Huber, Ordinarius an der Universitäts-Nervenklinik Bonn, selbst durch zahlreiche Publikationen und Forschungsprojekte als Schizophrenie-Experte ausgewiesen, ergänzt die Darstellung durch einige, zum Teil auch kritische Kommentare aus der Sicht der kontinentaleuropäischen und deutschsprachigen Psychiatrie, deren Forschungsergebnisse in den USA kaum zur Kenntnis genommen werden.

Zur Darstellung gelangt die heute allgemein akzeptierte Diathese-Stress-Theorie. Gottesman leitet ausführlich die Bedeutung genetischer Faktoren aus den Ergebnissen der Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien der vergangenen 70 Jahre her. Demnach gehört die Schizophrenie zur selben Kategorie verbreiteter genetischer Störungen wie die koronare Herzkrankheit, die geistige Behinderung oder der Diabetes. Das bedeutet: "1) Das Erbmaterial ist (in einem ,Schizophreniesystemkomplex') zwar notwendig, um eine Schizophrenie zu verursachen, jedoch als solches nicht hinreichend. 2) Zusätzlich sind einer oder mehrere Umweltfaktoren notwendige Voraussetzung für eine Schizophrenie, sie sind jedoch nicht spezifisch für sie" (Seite 189). Gottesman schreibt also die grundlegenden Ursachen der Schizophrenie den genetischen Faktoren zu, er ordnet deren Bedeutung jedoch auf der Mitte der Skala zwischen den Erbkrankheiten (wie der Galaktosämie) und den umweltbedingten Krankheiten (wie den Masern) ein.

Für den erblichen Anteil favorisiert er eine multifaktoriell-polygene Theorie der Übertragung. Danach setzt sich die genetische Disposition aus bis zu zehn hypothetischen Genen zusammen, die in ihrer Gesamtheit die Schizophrenie-Anfälligkeit bedingen. So erklärt Gottesman, daß das Schizophrenie-Risiko von Verwandten mit steigendem Schweregrad der Erkrankung bei dem Probanden und mit steigender Anzahl erkrankter Verwandter zunimmt; umgekehrt verringert sich dieses Risiko mit steigender Anzahl gesunder Verwandter.

Doch selbst einige Genotypkombinationen mit hohem Risiko reichen nicht aus zur Entwicklung einer Schizophrenie; es müssen einer oder mehrere unspezifische Umweltfaktoren hinzukommen: Hirntraumen, demoralisierendes oder bedrohliches physisches Milieu, emotional grenzverletzende oder belastende Erfahrungen, affektive und emotionale Unterstimulation (Hospitalismus) oder eine Aufspaltung der Aufmerksamkeit durch Umweltsituationen. Diese Faktoren sind das psychische Äquivalent von Umweltgiften; Prävention und Rehabilitation erfordern ihre Abwesenheit.

In den zwölf aufeinander aufbauenden Kapiteln, die jeweils mit einer kurzen Zusammenfassung abgeschlossen werden, nehmen die im Hinblick auf die Genetik wichtigen Forschungsergebnisse – dem persönlichen wissenschaftlichen Interesse des Autors und zweifellos auch der derzeitig aktuellen wissenschaftlichen Mode entsprechend – den breitesten Raum ein. Demgegenüber ist die Rolle psychosozialer und umweltbedingter Stressfaktoren bei weitem nicht so differenziert dargestellt und kritisch reflektiert.

Zwei weitere Anmerkungen halte ich für wichtig. Erstens: Gottesman läßt Hinweise auf Forschungsergebnisse zu therapeutischen Maßnahmen zwar immer wieder in seine Darstellung einfließen, verzichtet aber – offensichtlich bewußt – auf eine explizite Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Therapie Schizophrener. Er mag gute Gründe dafür gehabt und eine zu große Ausweitung des Buches gefürchtet haben; aber dies mindert den Nutzen für Betroffene und Angehörige ebenso wie für Fachleute.

Der zweite Einwand ist grundsätzlicherer Natur: Das Diathese-Stress-Modell hat scheinbar die beiden feindlichen Lager im Anlage-Umwelt-Streit versöhnt – und Gottesman preist deswegen ausdrücklich seine Erfindung auf einer "bahnbrechenden Konferenz" in Dorado Beach (Puerto Rico) 1967 –, indem man sozusagen beiden Parteien recht gab und ein Additionsmodell schuf. Untergründig allerdings geht der Streit weiter unter der Frage, welcher Seite denn nun die zentrale Rolle zuzuschreiben sei. Gottesman sieht sie eindeutig in einer spezifischen genetischen Disposition.

Die viel bedeutendere Frage scheint mir jedoch zu sein, ob das linear-kausale Ursache-Wirkungs-Denken, das beiden Hypothesen zugrunde liegt, für ein Verständnis menschlichen Verhaltens noch ausreicht. Dieses klassische Denkschema ignoriert die hohe rekursive Verknüpfung von Anlage- und Umweltkomponenten sowie die offensichtliche Tatsache, daß die Wirkung zumindest von Umwelteinflüssen eher dem Vorbild nichtlinearer chaotischer Systeme folgt.

Offenbar gilt das starke Kausalitätsprinzip (ähnliche Ursachen haben ähnliche Wirkungen) nicht für die Entwicklung psychischer Störungen: Einerseits ergeben sehr unterschiedliche Ausgangskonstellationen ähnliche Krankheitsbilder; andererseits können minimale Fluktuationen in den intrapsychischen oder Umgebungsbedingungen eines Menschen völlig divergierende Folgezustände nach sich ziehen. Hierin dürfte auch der wahre Grund dafür liegen, daß spezifische Umwelteinflüsse für das Entstehen der Schizophrenie bisher nicht zu finden waren.

Nicht zuletzt aus diesem grundsätzlichen Einwand heraus kann ich mich der Sicht Gottesmans nicht anschließen, wir stünden an der Schwelle zu einem Verständnis der Schizophrenie. Gleichwohl ist das Buch all denen zu empfehlen, die sich insbesondere über den Forschungsstand im Kontext des Diathese-Stress-Modells informieren wollen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1994, Seite 141
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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