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Schrittmacher-Ionenkanäle in Spermien

Untersuchungen an Samenzellen des Seeigels führten auf das lange vergeblich gesuchte Gen für eine ungewöhnliche Membranpore, die unseren Herzschlag steuert, den Schlaf-Wach-Rhythmus reguliert und an der Wahrnehmung von Schmerzen beteiligt ist.


Wie das Spermium zur weiblichen Keimzelle findet, ist eine der spannendsten Fragen der Fortpflanzungsbiologie. Sie läßt sich besonders gut an Seeigeln untersuchen. Die Männchen dieser Stachelhäuterart produzieren sehr viele Spermien, die sie ins Meerwasser abgeben. Die Befruchtung der Eizelle außerhalb des weiblichen Körpers erleichtert die Untersuchungen ganz erheblich.

Letztlich beruht die Zielfindung der Seeigel-Spermien auf einer sogenannten Chemotaxis: Die Eizellen geben Signalmoleküle ins Meerwasser ab, die die Samenzellen anlocken. Unklar ist jedoch, wie die Spermien diese Lockstoffe wahrnehmen und mit einer zielgerichteten Bewegung darauf reagieren. Mit dieser Frage beschäftigen sich Renate Gauß und Reinhard Seifert in der Arbeitsgruppe von U. Benjamin Kaupp am Institut für Biologische Informationsverarbeitung des Forschungszentrums Jülich. Bei ihren Arbeiten machten sie nun eine überraschende Entdeckung, deren Bedeutung weit über die Fortpflanzungsbiologie hinausreicht.

Spektroskopische Messungen zeigen, daß die Anlagerung des Eizellen-Lockstoffs an die Spermien-Membran als Signal wirkt, das eine elektrische Erregung auslöst. Doch auf welche Weise geschieht das?

Im Ruhezustand ist die Membranhülle von Zellen innen gegenüber außen negativ geladen: Es herrscht eine elektrische Spannung von ungefähr -70 Millivolt. Physikalische und chemische Reize können dieses Ruhepotential ändern. Wird die Membranspannung weniger negativ, bezeichnet man das als Depolarisation; im umgekehrten Fall spricht man von Hyperpolarisation.

Beide Vorgänge beruhen auf dem Ein- oder Ausstrom geladener Teilchen. Als Schleusen dienen sogenannte Ionenkanäle: Poren in der Zellmembran, die sich öffnen oder schließen können. (Die Lipiddoppelschicht, aus der biologische Membranen bestehen, ist in reiner Form für geladene Teilchen undurchlässig.)

Mittlerweile kennt man eine Vielzahl von Ionenkanälen. Sie unterscheiden sich darin, welche Teilchen sie passieren lassen und was sie dazu bringt, sich zu öffnen (vergleiche "Künstliche Membranporen", Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1997, Seite 74). Zum Beispiel erlauben einige Kanäle nur positiv geladenen, andere dagegen bevorzugt negativ geladenen Ionen den Durchtritt. Außerdem öffnet sich ein Teil der Schleusen bei Änderung der Membranspannung, während andere auf ein Signalmolekül (einen "Liganden") reagieren, das innen oder außen andockt. Man spricht deshalb von spannungsabhängigen beziehungsweise ligandengesteuerten Kanälen.


Membranpotential und Ionenkanäle



Als die Jülicher Forscher ihre Untersuchungen begannen, war bekannt, daß das Spermium nach dem Eintreffen eines Eizellen-Lockstoffs als erstes bestimmte eigene Signalmoleküle ("sekundäre Boten") in seinem Inneren bildet: zyklisches Adenosin- und Guanosinmonophosphat (cAMP und cGMP). Unter ihrer Mitwirkung öffnet sich schließlich ein Ionenkanal. Unklar war jedoch, um welchen es sich dabei handelt.

Ionenkanäle sind Proteine, deren Bauanleitung (in Form einer bestimmten Abfolge von "Buchstaben" oder Nucleotiden) im Erbgut verankert ist. Über das gesuchte Exemplar wußten die Jülicher Forscher nur soviel: Es mußte über eine Bindestelle für zyklische Nucleotide verfügen. Inzwischen hat man eine recht genaue Vorstellung davon, wie solche Andockstellen aussehen und aufgebaut sind – und damit auch, wie die Bauanleitung dafür im Genom beschaffen ist. Entsprechend fahndeten Renate Gauß und Reinhardt Seifert nach dieser genetischen Anweisung. Dafür benutzten sie eine passende Sonde, die sich genau an die gesuchte "Buchstabenfolge" heftet. Dann isolierten sie das Gen, an das sich die Sonde gebunden hatte, bauten es in die Erbsubstanz leicht zu kultivierender Wirtszellen ein und ließen von diesen den zugehörigen Ionenkanal in großer Menge produzieren. Damit konnten sie ihn genauer unter die Lupe nehmen und so schließlich identifizieren.

Dabei erlebten sie eine große Überraschung: Was sie aufgespürt hatten, war keiner der üblichen Kanäle, sondern ein ziemlich ausgefallenes Exemplar. Er gehört zu einem besonderen Typ von Schleusenmolekülen, die so ungewöhnliche Eigenschaften aufweisen, daß ihre Entdecker sie als "queer" oder "funny" ("seltsam" oder "komisch") apostrophierten. Diese Ih-Kanäle, wie sie etwas nüchterner heißen, sind sowohl ligandengesteuert als auch spannungsabhängig – mit der weiteren Besonderheit, daß sie sich nicht wie das Gros der spannungsabhängigen Poren bei einer Verringerung des Membranpotentials (hier wie im folgenden als Absolutbetrag betrachtet), sondern bei einer Erhöhung öffnen.

Dadurch verleihen sie bestimmten Zellen die faszinierende Fähigkeit, in regelmäßigen Abständen elektrische Impulse (Aktionspotentiale) zu produzieren (siehe Kasten). Wenn die Membranspannung nämlich eine bestimmte Schwelle überschreitet, öffnen sich die Ih-Kanäle und lassen Natrium-Ionen einströmen. Dadurch sinkt die Spannung, und die Poren schließen sich wieder. Allerdings bewirkt die Depolarisation, daß sich nun verschiedene "normale" spannungsabhängige Kanäle öffnen und ein Aktionspotential auslösen: eine rasche weitere Depolarisation, durch die sich das Vorzeichen der Spannung umkehrt. Der Ausstrom von Kalium-Ionen läßt das Membranpotential schließlich wieder negativ werden und im Betrag steigen. Sobald dabei der Schwellenwert für Ih-Kanäle erreicht wird, beginnt das Wechselspiel von vorn.


Lebenswichtige Schrittmacher



Das resultierende rhythmische Erregungsmuster ist für viele lebenswichtige Vorgänge von entscheidender Bedeutung. Zum Beispiel bestehen die Schrittmacherzentren des Herzens aus wenigen modifizierten Muskelzellen, die regelmäßig im Sekundentakt Aktionspotentiale erzeugen. Diese Erregung breitet sich über den gesamten Herzmuskel aus, der daraufhin kontrahiert und das Blut durch den Körper pumpt. Rhythmische Aktivität tritt auch in vielen Nervenzellen auf und ist beispielsweise in einem bestimmten Zwischenhirnabschnitt, dem Thalamus, an der Regulation von Wach- und Schlafphasen beteiligt. Ih-Kanäle spielen dabei eine wichtige Rolle. Überdies bestimmen sie in den Schmerz-Rezeptor-Zellen, den sogenannten Nozizeptoren, die Reizempfindlichkeit.

Wegen dieser großen physiologischen Bedeutung wurden Schrittmacher-Kanäle intensiv erforscht. Weil Zellen viele verschiedene Ionenkanäle besitzen, ist es jedoch oft schwierig, einen bestimmten Typ in seiner natürlichen Umgebung ungestört zu untersuchen. Ein möglicher Ausweg besteht darin, die interessierende Membranpore von genetisch veränderten Wirtszellen in großer Menge produzieren zu lassen. Dazu muß aber das entsprechende Gen bekannt und isoliert sein. Und genau da lag das Problem. Allen Bemühungen zum Trotz ließen sich die Gene der Ih-Kanäle lange Zeit einfach nicht auffinden.

Entsprechend groß war die Begeisterung der Jülicher Forscher, als sie bei den Untersuchungen über Seeigel-Spermien zufällig auf ein solches Gen stießen. Damit bestand nun erstmals die Möglichkeit, ausreichende Mengen dieser seltsamen Poren in Wirtszellen produzieren zu lassen, um ihre elektrophysiologischen und pharmakologischen Eigenschaften im Detail erforschen zu können.

Wie es der Zufall wollte, vermochten allerdings praktisch gleichzeitig auch zwei andere Arbeitsgruppen Gene für Ih-Kanäle zu isolieren und zu sequenzieren (die komplette "Bauanleitung" zu entziffern): eine um Martin Biel von der Technischen Universität München und die andere um Gareth R. Tibbs von der Columbia-Universität in New York. Beide Teams untersuchten Mäuse und entdeckten allein bei diesem Tier insgesamt vier verschiedene Schrittmacher-Kanäle. Sie finden sich in sehr vielen Zelltypen, insbesondere in verschiedenen Gehirnarealen und im Herzen. Überraschenderweise haben Ih-Kanäle eine sehr ähnliche Struktur wie gewöhnliche spannungsabhängige Poren (Bild).

Als nächstes gilt es nun zu klären, welche Sorte von Ih-Kanal in welchen Zellen vorkommt und worin sich die einzelnen Typen funktionell unterscheiden. Dies dürfte tiefere Einblicke in die biologische Rolle dieser Poren vermitteln. Auch für die pharmazeutische Forschung eröffnen sich vielversprechende Möglichkeiten. An isolierten Ih-Kanälen läßt sich die Wirkung von Arzneimitteln nun viel genauer studieren als bisher. Damit wird es wesentlich leichter, Substanzen zu entwickeln, welche die Schrittmacherfunktion in gezielter und spezifischer Weise beeinflussen. Sie wären die Grundlage neuer Medikamente, mit denen sich Herzrhythmus- oder Schlafstörungen, Schmerzen und vielleicht sogar bestimmte Formen der Unfruchtbarkeit behandeln lassen. Zwar kennt man schon länger Stoffe, die den Ih-Strom modifizieren. Sie zeigen jedoch so starke Nebenwirkungen, daß sie in der klinischen Praxis nicht einsetzbar sind.

Welche Funktion Ih-Kanäle in Spermien erfüllen, ist freilich immer noch rätselhaft. Einen gewissen Anhaltspunkt liefert die Feststellung, daß sie nur in den Schwänzen der Samenzellen und nicht in den Köpfen vorkommen. Denkbar wäre, daß sie an den rhythmischen Schlagbewegungen beteiligt sind, die das Spermium vorantreiben. Zu klären bleibt jedoch, wie die Wechselwirkung mit den Lockstoffen der Eizellen die Richtung dieser Bewegung bestimmt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1999, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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