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Schrödingers Kätzchen oder wie groß ist die Quantenwelt?

Erstmals ist es gelungen, ein einzelnes Atom zuerst in eine Überlagerung zweier quantenmechanischer Zustände zu versetzen und diese dann räumlich zu separieren. Damit konnte an der Grenze zwischen Mikro- und Makrowelt im Prinzip ein berühmtes Gedankenexperiment der Quantentheorie verwirklicht werden.

Im Gedankenexperiment des österreichischen Physikers Erwin Schrödinger (1887 bis 1961, Nobelpreis 1933) muß eine Katze zusammen mit einem Giftfläschchen und einer schwach radioaktiven Substanz in einem fensterlosen Kasten ausharren. Mit einer gewissen quantenmechanischen Wahrscheinlichkeit tritt ein radioaktives Zerfallsereignis ein und setzt über einen klassisch-makroskopischen Mechanismus das tödliche Gift frei; wenn ein Beobachter den Kasten öffnet, findet er darum die Katze entweder lebendig oder tot vor. Gemäß der Standardinterpretation der Quantenmechanik läßt sich nicht sagen, in welcher Verfassung die Katze bis dahin war: Solange der Kasten geschlossen ist, bleibt sie in einem gespenstischen Zwischenzustand zwischen Leben und Tod.

Nach dem Willen ihres Erfinders sollte Schrödingers Katze verdeutlichen, daß die Quantentheorie nicht der Weisheit letzter Schluß sein könne. Quantenphysikalische Mikro-Objekte (im Gedankenexperiment das radioaktive Atom) verharren, solange sie nicht mit einem makroskopischen Meßgerät oder Beobachter wechselwirken, in einer Superposition mehrerer möglicher Zustände (das Atom kann sowohl zerfallen als auch nicht). Erst der Beobachtungsvorgang zwingt dem Quantenobjekt gleichsam die Entscheidung für die eine oder andere Möglichkeit auf (man beobachtet entweder einen Zerfall oder nicht). Mit diesem subjektiven Moment der sogenannten Kopenhagener Deutung der Quantentheorie – erst beim Eintritt der Information in das Bewußtsein des Beobachters entscheide sich der Ausgang des Experiments – war Schrödinger überhaupt nicht einverstanden.

Darum wird in seinem Gedankenversuch das mikrophysikalische Zerfallsereignis zwar mit dem Zustand eines makroskopischen Objekts korreliert (oder verschränkt, wie Schrödinger sagte), doch letzteres ist raffinierterweise so gewählt, daß es schwerlich die Rolle des Beobachters zu übernehmen vermag. Einerseits erleidet die Katze die kausalen Folgen des radioaktiven Ereignisses genauso passiv und unbewußt wie ein Stück Wand, das von einem Zerfallsteilchen getroffen wird, oder wie ein Teilchendetektor; andererseits ist sie ein Lebewesen, das wir uns – ebenso wie einen Menschen – schwerlich als Teil einer quantenphysikalischen Zustandsüberlagerung zwischen Tod und Leben vorstellen können.

Ungeachtet verschiedener Nuancen in der Deutung der Quantenmessung – sie wird je nachdem eher als subjektives Bewußtwerden oder als objektiver Meßvorgang interpretiert – bleibt es eine interessante Frage, ob sich nach dem Prinzip von Schrödingers Gedankenexperiment eine Verschränkung zwischen überlagerten Mikro- und separaten Makrozuständen herstellen läßt. Eben dies scheint Chris Monroe und David Wineland vom National Institute of Standards and Technology (NIST) in Boulder (Colorado) jüngst gelungen zu sein – freilich beileibe nicht mit einer ausgewachsenen Katze, sondern anhand eines einzelnen Atoms ("Science", Band 272, Seiten 1131 bis 1136).


Die Ein-Atom-Katze

Zunächst präparierten die Forscher ein einzelnes Beryllium-Atom, indem sie es ionisierten, in eine elektromagnetische Ionenfalle sperrten und dort per Laserkühlung fast vollständig zum Stillstand brachten. Diese Technik hat man am NIST zu großer Perfektion entwickelt und damit zum Beispiel kürzlich erstmals ein sogenanntes Bose-Einstein-Kondensat aus Rubidium-Atomen fabriziert (Spektrum der Wissenschaft, September 1995, Seite 32).

Im zweiten Schritt wurde das fixierte Atom nun mit Laserstrahlung passender Wellenlänge in eine Superposition von zwei sogenannten Hyperfeinzuständen versetzt, das heißt in eine Überlagerung zweier Anregungszustände, die dem Spin-aufwärts- beziehungsweise dem Spin-abwärts-Zustand eines Hüllen-Elektrons entsprachen. (Die Hyperfeinstruktur der Energieniveaus eines Atoms rührt von der Wechselwirkung seiner Hüllen-Elektronen mit den elektromagnetischen Kernmomenten her.)

Nun kam der entscheidende Schritt: Die Superposition der beiden internen Zustände wurde mit einer Schaukelbewegung des gesamten Atoms in der Ionenfalle korreliert. Zu diesem Zweck stimmten die Forscher zwei interferierende Laserstrahlen variabler Frequenz so ab, daß sie zuerst nur den einen und dann nur den anderen Hyperfeinzustand des Atoms zu räumlicher Schwingung anregten. Dadurch führte nun ein und dasselbe Atom zugleich zwei Pendelbewegungen unterschiedlicher Phase aus. Monroe vergleicht dies mit einem Kind auf einer Schaukel, das hin und her schwingt, zugleich aber auch her und hin. Eine Momentaufnahme dieser verdoppelten Pendelbewegung würde das Atom, so Monroe, zur selben Zeit an zwei verschiedenen Orten zeigen – entsprechend den beiden internen Hyperfeinzuständen.

Um die räumliche Aufspaltung zu messen, machten die Forscher durch gezieltes Variieren der Laserfrequenzen die Gegenschwingungen wieder rückgängig und errechneten daraus einen Abstand von rund 80 Nanometern (millionstel Millimetern). Das Atom hatte sich gewissermaßen um diesen Betrag von sich selbst entfernt – immerhin um einige Größenordnungen mehr als sein Durchmesser.

Damit meinen Wineland und Monroe eine winzige Version von Schrödingers Katze realisiert zu haben. Dabei entspricht die quantenmechanische Hyperfeinstruktur dem radioaktiven Atom im Gedankenexperiment, und die beiden simultanen räumlichen Schwingungen in der Ionenfalle spielen die Rolle der lebenden beziehungsweise toten Katze.

Auch wenn man dieser Interpretation nicht ganz folgen mag – die Auslenkung ist mit 80 Nanometern nicht gerade makroskopisch groß, und die Aufspaltung der Ortsfunktion des Atoms läßt sich nicht ohne weiteres einer rein klassischen Doppelschaukel gleichsetzen –, scheint das ingeniöse Experiment eine Antwort auf die Frage anzudeuten, wo die Quantenwelt mit den typischen Zustandsüberlagerungen in die vertraute Alltagswelt übergeht, in der nun einmal Kinder entweder hier oder dort sind (unabhängig davon, ob die Eltern es wissen) und Katzen entweder am Leben oder tot.


Dekohärenz und Quanten-Computer

Das wesentliche Kriterium ist offenbar der räumliche Abstand, bei dem eine räumlich separierte Überlagerung kohärenter Quantenzustände sich eine nennenswerte Zeit lang aufrechterhalten läßt: Je größer die Distanz der gekoppelten Teilzustände, desto schneller tritt Dekohärenz ein, und die Superposition zerfällt. Insofern scheinen die Abmessungen des geschilderten Versuchs (die Forscher sprechen von seinen mesoskopischen Dimensionen zwischen Mikro- und Makrowelt) einen recht guten Kompromiß zwischen Zustandsseparation und Kohärenzdauer zu markieren. Falls es jemals funktionierende Quanten-Computer geben sollte (die sich quantenmechanischer Superpositionen bedienen würden, um unzählige Aufgaben auf einen Schlag zu lösen), dürften ihre innere Struktur und ihre Datenauflösung wohl nicht gröber sein als einige Nanometer (siehe Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1995, Seite 62).

Demnach könnte auch eine Schrödinger-Katze höchstens mesoskopische Dimensionen erreichen. Somit hätte ein Bote aus der Quantenwelt, der die eigentümlichen Zustandsverschränkungen des Mikrokosmos in unseren gewöhnlichen Alltag mitbringt, wegen seiner Nanometergröße weder Leben noch Bewußtsein.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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