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Schweiz - Innovation in Geldnöten

In der anwendungsorientierten Forschung geht die Schweiz einen für sie neuen Weg. Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und der Rat der Eidgenössischen Technischen Hochschulen fördern seit 1992 ein nationales Programm mit sechs Forschungsschwerpunkten. Seine erste Periode wurde Ende 1995 abgeschlossen, ab 1996 wurde es auf sieben Schwerpunktprogramme erweitert. Es soll die Schweizer Wissenschaft in verschiedenen Schlüsseltechnologien wettbewerbsfähig machen und den Wissenstransfer von den Universitäten in die Industrie beschleunigen.

Die Schweiz teilt das Schicksal vieler europäischer Länder, auch Deutschlands: Sie scheint in der Hochtechnologie ins Hintertreffen zu geraten. Pro Kopf der Bevölkerung beantrage sie zwar mehr Patente als jedes andere Land, ihr Technologieportefeuille habe aber "nicht mit dem Wandel Schritt gehalten, zumal in den Technologiefeldern mit den weltweit höchsten Zuwachsraten", stellt der jüngste OECD-Bericht zur Wissenschafts- und Technologiepolitik fest (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1995, Seite 122). Wohl hat eine Studie Defizite in der Technologiepolitik aufgezeigt, die der Staat schließen sollte; doch die daraufhin für die Zeit von 1992 bis 1995 gewählte Strategie, vorrangig sechs Programme – in den Gebieten Umwelt, Biotechnologie, Informatik, Werkstoffe, Optik sowie dem für die Schweiz besonders wichtigen Bereich Leistungselektronik, Systemtechnik und Informationstechnologie – zu fördern, mußte im Rahmen der Sanierung der Bundesfinanzen drastisch von 357 Millionen auf 220 Millionen Schweizer Franken reduziert werden. Die geplante Zukunft dieses Programms sieht ebenfalls finanziell recht düster aus.

Die Ausgaben der schweizerischen Bundesregierung für Forschung und Entwicklung betrugen 1994 mehr als zwei Milliarden Franken; davon entfielen 1,2 Milliarden auf die direkte Forschungsförderung der Bundesstellen und des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF). Für die ersten vier Jahre der Schwerpunktprogramme (SPP) bis 1995 sollten der SNF ursprünglich insgesamt 206 Millionen, der ETH-Rat 151 Millionen Franken erhalten; doch diese Mittel wurden massiv auf 111 und 101 Millionen gekürzt. Für die Periode 1996 bis 1999 haben beide Organisationen dann 177 und 228 Millionen Franken beantragt. Das Bundesparlament bewilligte nur 123 und 110 Millionen. Weil die Schweiz aber auch am 4. Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union teilnehmen will, werden die Schwerpunktmittel nur noch 104 und 43 Millionen Franken betragen.

Innovative Strategien

Doch trotz dieser finanziellen Schwierigkeiten haben die sechs Schwerpunkte nach einer dem Parlament vorliegenden Evaluation gut abgeschnitten, so daß das Programm mit einigen Änderungen weitergeführt werden kann. Die vom Wissenschaftsrat berufene internationale Expertenkommission hat unter anderem "teilweise unterschiedliche Führungskulturen" festgestellt: Der ETH-Rat pflegte ein striktes Top-down-Management, in dem ein einziges Expertengremium aus Vertretern von Wissenschaft, Verwaltung und Wirtschaft den Rat beriet; der Nationalfonds, der mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu vergleichen ist, glich die SPP seiner übrigen Programmforschung an.

Diese Unterschiede werden als positiv beurteilt. Doch gefehlt habe bei allen SPP ein im voraus klar definiertes und transparentes programmspezifisches Vergabekonzept. Deshalb soll das Eidgenössische Departement des Inneren dafür sorgen, daß künftig die Art der Ausschreibung eines Projekts, der gewünschte Wettbewerb und zu erwartende Kooperationsansätze festgelegt werden. In der industrienahen Forschung sollen Projekte vorgesehen sein, die ausschließlich von den interessierten Anwendern finanziert und genutzt werden. Die SPP sollen als Instrument der Forschungspolitik fest verankert, gegenüber den Nationalen Forschungsprogrammen abgegrenzt und den spezifisch schweizerischen Bedürfnissen angepaßt werden.

Darunter ist insbesondere ein intensiverer Wissens- und Technologietransfer vor allem in die Klein- und Mittelunternehmen zu verstehen. Doch zum Beispiel in der Biotechnologie profitieren auch die Forscher an Universitäten von den Erkenntnissen in der Großindustrie. Der Bericht 1995 über die SPP des ETH-Rates versucht auch, in die Auseinandersetzung zwischen Grundlagen-, angewandter und orientierter Forschung einzudringen. Basis für Innovationsstrategien für die Zukunft müsse ein marktwirtschaftliches Verständnis von Forschungs- und Technologiepolitik sein, zwischen staatlicher und unternehmerischer Verantwortung sei mithin klar zu trennen.

Die drei Schwerpunktprogramme des ETH-Rates konzentrierten sich in den letzten vier Jahren auf den Bereich Leistungselektronik, Systemforschung und Informationstechnologie (LESIT) sowie auf die Schwerpunkte Werkstoff-Forschung und Optik. Letztere werden weitergeführt, LESIT wurde 1995 beendet. An seine Stelle tritt der Schwerpunkt Mikro- und Nanotechnik (MINAST).

Die Schwerpunkte des Schweizerischen Nationalfonds waren bisher Umwelt, Biotechnologie und Informatik. Besonders stolz ist er auf die Erfolge in der Biotechnologie: Aus diesem Bereich stammen 19 Patentanmeldungen. In enger Zusammenarbeit mit Industriepartnern, die bis zu 60 Prozent der Mittel für die einzelnen Projekte aufbringen, wurden nicht nur viele Forschungsergebnisse überhaupt erst erzielt, sondern vor allem in praktische Anwendungen und Produkte umgesetzt. In der biomedizinischen Technologie etwa haben Wissenschaftler an der Universität und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne mit neuen Verfahren, deren Grundlagen aus einem chemischen Unternehmen stammen, spezielle Antikörper des Immunglobulins sIgA hergestellt; sie werden zur Zeit klinisch geprüft und können möglicherweise zum passiven Schutz von Kleinkindern vor Lungenentzündung angewandt werden.

Die ETH Lausanne verfügt auch über die Schlüsselpatente für einen in diesem Schwerpunkt entwickelten Typ von Biosensoren, der in der pharmazeutischen Wirkstoff-Forschung verwendet wird. In der Bioverfahrenstechnik wurden Fortschritte bei der Analyse von Proteinstrukturen und -verteilungsmustern erzielt. Für die in der Schweiz bisher nur in Ansätzen vorhandene biologische Sicherheitsforschung wurden 15 Projektteams aufgebaut. Bei der Identifizierung und Auffindung wichtiger Marker und Resistenzgene bei Nutzpflanzen sind Fortschritte zu verzeichnen.


Neues Programm "Zukunft der Schweiz"

Um das neue, anspruchsvolle sozialwissenschaftliche SPP "Zukunft der Schweiz", das einer Empfehlung des Schweizerischen Wissenschaftsrates von Anfang 1994 entspricht (Spektrum der Wissenschaft, April 1994, Seite 113), stritten der Bundesrat (Bundesregierung) und der Nationalrat (Bundesparlament) bis zuletzt. Die Finanzierung wurde erst in der Woche vor Weihnachten 1995 geregelt, damit es im Januar 1996 ausgeschrieben werden konnte. Es soll einerseits die offenkundigen strukturellen Defizite in den schweizerischen Sozialwissenschaften beheben, andererseits zum besseren Verständnis des sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Wandels der schweizerischen Gesellschaft beitragen.

Zwei Drittel der Mittel sollen für Projekte in fünf thematischen Schwerpunkten (Modulen) ausgegeben werden:

- gesellschaftliche Ungleichheiten und Konflikte (grundsätzliche Aspekte, Entwicklung des Konfliktpotentials Ungleichheit, Artikulation von Ungleichheit, Regulation von Konflikten),

- Dynamik der Arbeitswelt (Arbeitsvolumen, Struktur, Verteilung, Wert der Arbeit),

- Individualität, zwischenmenschliche Beziehungen und Sozialstruktur (Individualität und Solidarität sowie Veränderungen der Formen zwischenmenschlicher Beziehungen, der Familie und im Lebenslauf),

- Wissensproduktion und Wissenstransfer (Strukturen der Wissensproduktion, Einfluß von Politik und Gesellschaft auf Wissensproduktion und -transfer, Auswirkungen sozialwissenschaftlichen Wissens auf Politik und Gesellschaft) sowie

- Kommunikation und Information in der Mediengesellschaft (Funktionsweise der Medien sowie die drei Bereiche Medien und Demokratie, soziokultureller Wandel und soziale Konstruktion der Wirklichkeit).

Zwei Arbeitsgruppen sollen die Umsetzung der strukturellen Ziele des Programms vorbereiten. Sie betreffen erstens gezielte Aus- und Weiterbildungsprogramme, welche die personelle Situation der Sozialwissenschaften verbessern sollen. Zweitens werden eine Vernetzung und interdisziplinäre Kooperation sowie der Dialog der Sozialwissenschaften mit gesellschaftlichen Instanzen intensiviert. Schließlich ist vorgesehen, eine gesellschaftliche Dauerbeobachtung als Voraussetzung für empirische Sozialforschung zu institutionalisieren. Das ebenfalls geplante Swiss Institute for Advanced Studies in the Social Sciences (SWIASS), an das große Hoffnungen geknüpft wurden, kann jedoch aus Geldmangel zunächst nicht realisiert werden.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1996, Seite 111
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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