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'Sieben Hügel – Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts'

Eine Großausstellung in Berlin bietet eine Vision des Lebens, Denkens und Begreifens vor dem Reichtum alten und zukünftigen Wissens und künstlerischen Schaffens.


Mehr als 80 Prozent aller je in der Geschichte des Menschen tätigen Wissenschaftler leben heute. Dies mag eine der äußeren Ursachen für das enorm zunehmende Tempo sein, mit dem sich unser Wissen vermehrt und unser technisches Umfeld weiterentwickelt. Die Philosophen halten dafür eine tiefgründigere Erklärung parat: Der Mensch müsse zwar nicht alles machen, was er kann, aber er werde alles daran setzen, es doch zu tun, da er es nämlich nicht ertrage, wenn der kleinste Zweifel darüber bestehen bliebe, ob er es auch wirklich könne.

Nach allen Seiten dringt die Forschung in wissenschaftliches Neuland vor. Mit Großprojekten wie dem Kontinentalen Tiefbohrprogramm gelingt es, die Erdkruste bis in 9000 Meter Tiefe zu untersuchen. Teilchenbeschleuniger simulieren im Labor die Bedingungen des Urknalls. Riesige Detektoren machen Jagd auf Neutrinos, die mysteriösen, womöglich masselosen Teilchen, die zuhauf im Universum entstehen, sich aber fast völlig der Beobachtung entziehen. Genforscher werden in wenigen Jahren das Human-Genom – die gesamte Erbinformation des Menschen – entschlüsselt haben.

Doch nach wie vor ist die Faustsche Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, noch nicht beantwortet. Rolle und Ursprung der Neutrinos im Plan der Natur bleiben rätselhaft. Auch die genetische Information sagt noch nichts über die eigentlichen Mysterien des Lebens aus. Was "Denken" wirklich ist, wissen wir nicht, obschon wir es täglich vollziehen und mit bildgebenden Verfahren der Medizin in Modellen zu fassen suchen. Ebenso steht die Erklärung der völligen Privatheit unseres bewussten Erlebens – des Ich-Seins – noch aus.

Es zeigt sich: "Je größer die Insel unseres Wissens, desto größer das Ufer unseres Nicht-Wissens." So beschrieb der amerikanische Kernphysiker John A. Wheeler das Paradox der modernen Wissenschaft. Demgegenüber verglich der französische Biochemiker Jacques Monod in seinem 1970 erschienenen Werk "Zufall und Notwendigkeit" das Verhältnis der Industriegesellschaft zur Wissenschaft mit dem eines nach Drogen Süchtigen. Wissenschaftliches Arbeiten zwingt heute zum Nachdenken über Konsequenzen des eigenen Tuns.

Um diesen zentralen Punkt kristallisiert sich das Leitmotiv der Ausstellung "Sieben Hügel – Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts" in Berlin: Was lässt sich durch Naturwissenschaft herausfinden, und wohin führt dies den Menschen?

Der Titel der Ausstellung nimmt Bezug auf die in vielen Kulturen als mystisch angesehene Zahl sieben, ferner auf die sieben Hügel, auf denen Rom, die Ewige Stadt, erbaut wurde. Zugleich sind die "Hügel" die Themenbereiche, in die sich die Schau gliedert: Um den "Kern" im Lichthof des Martin-Gropius-Baus sind die Bereiche "Dschungel", "Weltraum", "Zivilisation", "Glauben", "Wissen" und "Träumen" gruppiert. Jeder dieser "Hügel" wurde von einem anderen Gestalter konzipiert und in Szene gesetzt. Der von dem Londoner Film-Architekt Ken Adam gestaltete "Kern" eröffnet den Besuchern einen Panoramablick auf die vielfältige Wissenslandschaft der Zukunft.

Komplexe Apparaturen, ausgestattet mit raffinierter Sensorik, lassen die erstaunlichen Leistungen der Robotik erahnen. Der von der Firma Honda entwickelte Humanoid-Roboter P3 – hier erstmals in einer europäischen Ausstellung zu sehen – ähnelt einem Astronauten in voller Montur. Er vermag sich selbsttätig zu orientieren und zum Beispiel Treppen zu steigen. Problemlos finden sich solche künstlichen Gebilde im Gedränge des Museums zurecht und führen Besucher von Exponat zu Exponat. Zumindest äußerlich dürften Roboter in Bälde menschenähnlicher werden, denn Experimente mit künstlichen Muskeln haben längst begonnen.

"Wenn die Roboter", so schrieb Goethe einst, "es dahin bringen könnten, Langeweile zu haben, so könnten sie Menschen werden." Die fußballspielenden Roboterhunde der Firma Sony, deren Programme speziell für die Berliner Ausstellung entwickelt wurden, sind davon aber noch ein gutes Stück weit entfernt. Ihnen bereitet es noch große Probleme, sich in natürlichen Gegebenheiten zurechtzufinden.

Die Initiatoren des RoboCup 1997 in Nagoya (Japan), der ersten Weltmeisterschaft fußballspielender Roboter, haben sich dennoch das ehrgeizige Ziel gesetzt, innerhalb der nächsten 50 Jahre den amtierenden Fußballweltmeister mit einer Robotermannschaft zu schlagen. In den "Sieben Hügeln" sind die künstlichen Hunde aber noch so programmiert, dass sie die Besucher nicht wahrnehmen können, damit ihre Farbsensorik nicht irrtümlich einen bunten Pullover für das Tor hält oder mit dem Ball verwechselt.

Dass Neutrinos (wörtlich: "kleine Neutrale") in fortwährenden Prozessen des Werdens und Vergehens gleichermaßen Erde und Mensch ungehindert durchdringen, lässt sich bisher nur mit aufwendigen Apparaturen messen. Nach erfolgreichen Versuchen mit Neutrinoteleskopen 1994 im sibirischen Baikalsee erwarten Wissenschaftler jetzt von einem Projekt mit dem klangvollen Namen Amanda (Antarctic Muon And Neutrino Detector Array) präzisere Daten. In Glaskugeln befindliche Fotomultiplier werden dabei mittels 80 Grad Celsius heißen Wassers bis zu zwei Kilometer tief in das Eis der Antarktis eingebracht. Für das Jahr 2002 ist der Ausbau dieses Projektes zu einem riesigen Icecube – die Bestückung von rund einem Kubikkilometer Eis mit Messgeräten – geplant, der dann den Neutrinohimmel erforschen soll.

Beseitigten die Bohrungen des Kontinentalen Tiefbohrprogramms in Windischeschenbach durch den überraschenden Nachweis frei beweglicher Gase und Flüssigkeiten in einer Tiefe von neun Kilometern die bis dahin gültige Vorstellung einer durch hohen Gesteinsdruck völlig abgedichteten tieferen Erdkruste, so liefern Gesteinsproben aus Tiefseebohrungen wichtige Erkenntnisse zum Verständnis der Dynamik der Erde. Erst zweimal weltweit gelang das schwierige Unterfangen, mineralische Schornsteine von mehr als einer Tonne Gewicht aus Tiefen von 2000 bis 3000 Metern vom Meeresgrund zu heben.

Neue Erkenntnisse zum Phänomen der Kontinentaldrift und plattentektonischer Prozesse sowie die Erforschung des erdmagnetischen Feldes (Prognosen sagen eine erneute Umpolung des Magnetfeldes in den nächsten 700 bis 1000 Jahren voraus) haben zu der Einsicht geführt, dass der Lebensraum Erde nur als System zu verstehen ist – also im Zusammenwirken von Geosphäre, Kryosphäre, Hydrosphäre, Atmosphäre und Biosphäre. Derartige Überlegungen bewegen sich in erstaunlicher Nähe zu idealistischen Naturbetrachtungen der Romantiker, die ihre Forschungen gerne in poetischen Fragmenten mitteilten. So schrieb der Physiker Johann Wilhelm Ritter – ein Freund des Dichters Novalis – im Jahre 1802, die Wahrnehmung des eigenen Körpers sei eine Art von "Hell-Sehen [Clairvoyance]" und wir würden, indem wir sehen, "schon Teile unseres Inneren" erblicken, wobei das Ziel sei, "unsern Körper bis in seine kleinste und feinste Organisation und Struktur [zu] erkennen und [zu] sehen".

Der Versuch der Neurowissenschaften, Bewusstsein oder Denkprozesse zu verstehen, führt mitunter zu eindrucksvollen Visualisierungen des menschlichen Geistes – wenn dieser auch bisher nur in pathologischen Fällen sichtbar zu sein scheint und nicht geklärt ist, was Gefühle sind. Modelle wie dasjenige neuronaler Netze sowie – damit verbunden – das Postulat paralleler Reizverarbeitung weisen allerdings auf assoziative Funktionsweisen des Gehirns. Solche Vorstellungen zielen interessanterweise wieder in Richtung einer auch immateriellen Betrachtung der Natur, wobei Programme, wie etwa "BrainLab", die Möglichkeit bieten, Gehirntätigkeit zu simulieren.

Die in greifbare Nähe gerückte Entzifferung des menschlichen Genoms, das aus rund drei Milliarden einzelnen Basenpaaren besteht, die sich auf 24 verschiedene Chromosomen verteilen, hat nicht nur eine Goldgräber-Stimmung unter den Genforschern ausgelöst, sondern zugleich Fragen bezüglich des internationalen Patentrechtes aufgeworfen. Inzwischen erörtern mehrere Gremien – darunter auch die für Bildung, Wissenschaft und Kultur zuständige Organisation der Vereinten Nationen, die Unesco – die Frage, ob Naturstoffe generell patentierbar seien und die Rechtsauffassung geistigen Eigentums gelten könne.

Die Ausstellung "Sieben Hügel – Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts" blickt teilweise auch weit in die Vergangenheit zurück. Vor den Besuchern entfaltet sich in insgesamt 40 Ausstellungsräumen in epischer Breite eine fantastische Archäologie des Wissens. Hunderte aussagekräftiger Exponate figurieren neben multimedialen Installationen und zahlreichen Kunstwerken als geistes- und naturwissenschaftliche Denk-Ikonen – der Schädel des Philosophen René Descartes beispielsweise oder die 1964 in Berlin gegossene Skulptur "Atom Piece" des britischen Künstlers Henry Moore und das Gehirn des Zoologen und Naturphilosophen Ernst Haeckel. In der thematischen Reduzierung auf sieben Bereiche ermöglicht die Ausstellung eine fruchtbare Auseinandersetzung mit den im 21. Jahrhundert relevanten Fragen. Dazu zählt die Überwindung der Trennung von Wissenschaft und Kunst ebenso wie die sokratische Einsicht von der Bedeutung unseres Nicht-Wissens.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2000, Seite 94
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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