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Siliciumstreifen-Detektoren

Diese hochgenauen und vielseitigen Nachweiselemente – hergestellt mit den bekannten Verfahren der Halbleitertechnik – halfen, das top-Quark zu entdecken. Sie erlauben aber nicht nur die präzise Registrierung von Elementarteilchen, sondern lassen sich auch in der Astrophysik und der Röntgendiagnostik einsetzen.

Silicium – das Element, das die revolutionären Entwicklungen in der Elektronik ermöglichte – ist schon seit langem als außerordentlich vielseitiges Material bekannt. Aber selbst heute, fast 50 Jahre nach Entdeckung der grundlegenden Eigenschaften von Halbleitern, mit der das Zeitalter der Nachrichtentechnik, der Solarzellen und der inzwischen allgegenwärtigen Computer begann, ist das Potential dieses Werkstoffes keineswegs voll ausgeschöpft. In wenigen Jahren werden wohl mikroelektronische Schaltkreise direkt mit menschlichen Nervenzellen kommunizieren und winzige Maschinen mikrochirurgische Operationen durchführen.

Eine weitere vielversprechende Anwendung ergibt sich für den Nachweis geladener Elementarteilchen, wobei eine Art Mikroskop den Wissenschaftlern einen Einblick ins Innerste der Materie ermöglicht. Mittels Siliciumstreifen-Detektoren, deren Entwicklung vor etwa 15 Jahren begann, läßt sich die Position eines Teilchens auf weniger als zehn Mikrometer (tausendstel Millimeter) genau bestimmen. Mit dieser Präzision – die diejenige herkömmlicher Nachweistechniken um mindestens das Zehnfache übersteigt – ergeben sich sowohl in der Teilchenphysik als auch in anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen völlig neue experimentelle Möglichkeiten.

Solche Detektoren – gleichsam Schnittpunkt von Hochtechnologie und Hochenergiephysik – haben bereits zum Nachweis des langgesuchten top-Quarks beigetragen. Auch zahlreiche andere Fragestellungen der Grundlagenforschung wären ohne diese Halbleiterelemente nur unter erheblich größeren Schwierigkeiten anzugehen. Besonders hervorzuheben ist dabei die Suche nach dem Higgs-Boson, jenem mysteriösen Teilchen, von dem die Physiker glauben, daß es der Materie Masse verleiht.

Die Anwendungsmöglichkeiten reichen jedoch weit über die Elementarteilchenphysik hinaus. Wegen der Vielseitigkeit der zugrundeliegenden Silicium-Technologie lassen sich neue Detektortypen in zahlreichen Forschungsgebieten einsetzen, von der Röntgen- und Gamma-Astronomie bis hin zur medizinischen Bildgebung; an entsprechenden Ausführungen wird gegenwärtig gearbeitet. Der Streifendetektor ist gewissermaßen Teil einer tiefgreifenden Revolution auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Abbildung, in dem moderne Halbleitertechnologien zum Nachweis von sichtbarem Licht, Röntgenstrahlen, geladenen Teilchen und sogar neurophysiologischen Signalen eingesetzt werden. Er ist damit ein Beispiel für eine gelungene Symbiose zwischen Wissenschaft und Technik.


Funktionsprinzip

In einem Siliciumstreifen-Detektor dienen Dioden zum Nachweis der Teilchen. Diese Elektronikbausteine lassen einen elektrischen Strom nur in einer Richtung passieren; in der anderen sperren sie. Diese Gleichrichterwirkung ist gerade ihr großer Vorteil, denn ohne sie würden statistische Fluktuationen im Stromfluß die vergleichsweise schwachen Signale der zu registrierenden Partikel überdecken.

Die Dioden werden mit den üblichen Verfahren zur Herstellung integrierter Schaltkreise auf der Oberfläche von Siliciumscheiben – den sogenannten Wafern – aufgebracht. Wenngleich sie nahezu jede beliebige Form und Anordnung aufweisen können, werden sie gewöhnlich als parallele, jeweils mehrere Zentimeter lange Streifen hergestellt. Der Abstand zweier Dioden beträgt in der Regel 25 Mikrometer; die Fehlertoleranz liegt weit unter einem Mikrometer.

Ein geladenes Teilchen, das die Siliciumscheibe durchdringt (oder ein Röntgen-Photon, das in ihr absorbiert wird), erzeugt in einigen benachbarten Streifen ein elektrisches Signal. Aus diesem läßt sich auf einen Bruchteil des Streifenabstandes genau die Koordinate des Durchstoßpunktes quer zum Streifenmuster errechnen. Bei einem Streifenabstand von 25 Mikrometern beträgt die erreichbare Auflösung fünf bis zehn Mikrometer. Bei den meisten größeren Experimenten werden inzwischen Detektoren eingesetzt, bei denen die Wafer beidseitig mit Diodenstreifen versehen sind, deren Orientierung sich um einen gewissen Winkel unterscheidet (zuweilen klebt man statt dessen zwei einseitig behandelte Siliciumscheiben aufeinander). Solche beidseitig strukturierten Streifendetektoren liefern pro nachgewiesenem Teilchen zwei Koordinaten und definieren somit gemeinsam mit der Position der Scheibe einen Punkt im Raum.

Die für die Herstellung solcher Präzisionsinstrumente verwendeten Wafer aus kristallinem hochreinem Silicium haben einen Durchmesser von etwa zehn Zentimetern und sind zumeist 300 Mikrometer dick. Die Kristallstruktur dieses Halbleiters ist dieselbe wie von Diamant: Jedes Atom hat vier äquidistante nächste Nachbarn, mit denen es jeweils eines seiner vier äußeren Elektronen teilt.

Um die elektrischen Eigenschaften des Siliciums in gewünschtem Maße zu verändern, dotiert man es durch Zugabe geringer Mengen von Fremdatomen (eines pro etwa 50 Milliarden Siliciumatomen). Baut man beispielsweise Phosphor ein, das fünf äußere Elektronen besitzt, so werden vier davon für die Bindung mit den Silicium-Nachbaratomen benötigt. Das überzählige Elektron kann leicht freigesetzt werden und dient dann als elektrischer Ladungsträger für den Stromtransport. In solchen Fällen spricht man von n-Dotierung, wobei das n für die negative, vom freien Elektron transportierte Ladung steht.

Auf dem so vorbehandelten Silicium-Wafer erzeugt man mit den bekannten Verfahren der Halbleitertechnik – beispielsweise Photolithographie und Ionenimplantation – hunderte oder gar tausende von Streifen, die jeweils fünf bis zehn Mikrometer breit sind und etwa 0,05 Mikrometer tief mit dreiwertigen Fremdatomen wie etwa Bor dotiert werden. Weil diesen das vierte für eine vollständige Bindung im Kristallgitter erforderliche Elektron fehlt, entsteht eine Bindungslücke, ein sogenanntes Loch. Dieses wird zwar durch ein anderes Elektron aufgefüllt, dafür fehlt dann an anderer Stelle im Gitter ein solcher negativer Ladungsträger. Das Loch vermag somit ähnlich wie ein Elektron frei im Gitter zu driften und dabei formal positive Ladung entgegengesetzt zur Elektronenbewegung zu transportieren. Deshalb bezeichnet man das Einbringen von Fremdatomen mit nur drei äußeren Elektronen als p-Dotierung.

Jeder der streifenförmigen n-dotierten Bereiche bildet mit der darunterliegenden p-dotierten Zone eine Diode. Durch die Grenzschicht zwischen ihnen (den p-n-Übergang) diffundieren Elektronen aus der n-dotierten Zone in die p-dotierte und werden dort von Löchern neutralisiert; umgekehrt treten einige Löcher aus dem p- in das n-dotierte Gebiet über. Auf beiden Seiten des Übergangs bleiben die jeweiligen – im Kristallgitter fest eingebauten – Fremdatome als Ionen zurück (positiv geladene in der n- und negativ geladene in der p-dotierten Zone). Dadurch entsteht ein elektrisches Feld, das wie eine Barriere wirkt und das weitere Driften von Löchern auf die n-Seite und von Elektronen auf die p-Seite verhindert. Als Folge davon bildet sich um den p-n-Übergang herum eine dünne ladungsträgerarme Zone, über die ein starkes elektrisches Feld wirkt. In Mikrostreifen-Detektoren dienen diese Sperrschichten (nach geeigneter Vergrößerung) als Sensor für den Nachweis von Elementarteilchen oder Röntgenstrahlen.

In beiden Fällen sollte die Sperrschicht so dick wie möglich sein. Für geladene Teilchen nimmt nämlich das Signal mit der Wegstrecke, die sie beim Durchgang durch die Siliciumscheibe durchqueren, zu; und für Röntgenstrahlen erhöht sich die Nachweisempfindlichkeit, weil mehr Material zur Absorption zur Verfügung steht. Verbindet man die p-Zone mit dem negativen und die n-Zone mit dem positiven Pol einer Gleichspannungsquelle, werden die Ladungsträger von der Grenzschicht weiter fortgezogen, und die Dicke des ladungsträgerarmen Bereichs vergrößert sich.

Eine solche in Sperr-Richtung geschaltete Diode läßt sich nun als Teilchendetektor einsetzen. Wenn ein geladenes Partikel eindringt, gibt es über die elektrische Coulomb-Wechselwirkung Energie an das Kristallgitter ab und hinterläßt entlang seiner Bahn Elektron-Loch-Paare. Das von den ionisierten Fremdatomen hervorgerufene elektrische Feld zieht die Ladungsträger auseinander, wobei die Löcher auf die p-dotierten Streifen zudriften. Diese Bewegung erzeugt in einem oder mehreren benachbarten Streifen ein elektrisches Signal, das wegen der geringen Länge des zurückgelegten Weges nur etwa 20 Milliardstel Sekunden andauert (Bild 2).

Zur Verstärkung und Speicherung derartiger Signale dienen spezielle Auslese-Chips. Sie bestehen aus einer Anordnung von Verstärkerschaltkreisen, die ebenso dicht angeordnet sind wie die Streifen auf der Detektorscheibe. Mit einer speziellen Ultraschall-Verkabelungstechnik wird jeder Streifen auf dem Detektor mit einem Verstärker auf dem Auslese-Chip verbunden. Der dazu verwendete Aluminiumdraht ist viermal so dünn wie ein menschliches Haar (Bild 1).

Auf all diesen Eigenschaften beruht die außerordentlich hohe räumliche Auflösung von Mikrostreifen-Detektoren. Bis zu ihrer Einführung in den achtziger Jahren wurden Teilchenbahnen anhand von ionisierten Gasatomen verfolgt, deren Signale von Drähten aufgenommen und elektronisch ausgewertet wurden. Auch künftig werden solche gasgefüll-ten Vieldraht-Proportionalkammern ein wichtiger Bestandteil aller Experimente auf dem Gebiet der Hochenergiephysik sein; für ihre Erfindung vor 27 Jahren erhielt Georges Charpak 1992 den Physik-Nobelpreis (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1992, Seite 26). Mikrostreifen-Detektoren haben jedoch eine zehnmal größere Auflösung.


Anwendungen in der Teilchenphysik

Inzwischen ist das Anwendungsspektrum von Siliciumstreifen-Detektoren weit breiter als anfangs vermutet. Ursprünglich wurden sie für den Nachweis und die Untersuchung von Teilchen entwickelt, die das charm-Quark enthalten. Dem Standardmodell der Physik zufolge ist jenes einer der Grundbausteine der Materie, die aus insgesamt sechs Quarks (up, down, charm, strange, top und bottom) und sechs Leptonen sowie den jeweiligen (insgesamt also zwölf) Antiteilchen besteht.

Die Lebensdauer der Partikel mit einem charm-Quark – im folgenden Charm-Teilchen genannt – beträgt nur eine Pikosekunde (billionstel Sekunde). Sie werden in hochenergetischen Stoßprozessen erzeugt und fliegen – abhängig von Typ und Energie – einige Millimeter weit, bevor sie in mehrere andere Teilchen zerfallen. Ihr Entstehungsort heißt in der Sprache der Hochenergiephysiker Primär-, ihr Zerfallsort Sekundärvertex. Eines der wichtigsten Erfordernisse beim Nachweis von Charm-Teilchen und bei der Bestimmung ihrer Eigenschaften ist, Primär- und Sekundärvertex zu unterscheiden.

Man findet diese Vertices, indem man die Flugbahnen der aus einer Kollision hervorgehenden Teilchen aufzeichnet. Dazu werden in der Nähe des Kollisionspunktes zahlreiche Detektoren aufgebaut. Wenn zwei gegenläufige Teilchenstrahlen in der Wechselwirkungszone des Beschleunigers zusammentreffen, besteht die Detektoranordnung gewöhnlich aus in konzentrischen Schichten angeordneten Siliciumstreifen-Vertexdetektoren, um die herum einige gasgefüllte Vieldraht-Proportionalkammern aufgestellt sind. Damit registrierte Spuren werden zurück bis in die Nähe des Primärvertexes extrapoliert. Die Flugbahnen der aus dem Zerfall eines Charm-Teilchens hervorgehenden Partikel gehen von einem Sekundärvertex aus, der – wenn alles funktioniert hat – nicht mit dem Primärvertex identisch ist.

Zum Unterscheiden der beiden Vertices sollte die noch auflösbare Distanz bei der Bestimmung der Flugbahnen viel kleiner sein als die Wegstrecke, die das Teilchen zwischen Entstehung und Zerfall zurückgelegt hat (deren Wert entspricht der Lebensdauer des Teilchens multipliziert mit der Lichtgeschwindigkeit). Für Charm-Teilchen liegt die erforderliche Genauigkeit bei einigen zehn Mikrometern – kein Problem für Siliciumstreifen-Vertexdetektoren.

Zufällig haben zwei weitere Teilchenarten eine ähnliche Lebensdauer wie die Charm-Teilchen. So zerfällt das Tau-Lepton, das schwerste bekannte Mitglied der Lepton-Familie, innerhalb von 0,3 Pikosekunden. Bottom-Teilchen (also jene, die ein bottom-Quark enthalten), haben eine Lebensdauer um 1,5 Pikosekunden. Siliciumstreifen-Vertexdetektoren eignen sich hervorragend für den Nachweis und die Untersuchung solcher Teilchen.


Bottom-Teilchen

Der Nachweis von Teilchen, die ein bottom-Quark enthalten, ist von besonderer Bedeutung für die Hochenergiephysik und daher eine der wichtigsten Aufgabenstellungen sowohl für die gegenwärtig eingesetzten als auch für geplante Mikrostreifen-Detektorsysteme. Zum einen vermutet man, daß diese Partikel sich anders verhalten als ihre Antiteilchen, so daß ihre Untersuchung wichtige Erkenntnisse über die sogenannte CP-Verletzung – eine subtile Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie – liefern könnte. Des weiteren sollten Partikel, die ein top-Quark enthalten, nahezu ausschließlich in Bottom-Teilchen zerfallen. Mehr noch: Das Higgs-Boson zerfällt vermutlich – sofern es nicht zu schwer ist – zumeist in ein Bottom-Antibottom-Teilchenpaar. Somit hängen drei der drängendsten experimentellen Fragestellungen der modernen Physik mit Bottom-Teilchen und folglich auch mit Mikrostreifen-Detektoren zusammen.

Ein effektives Verfahren zur Erzeugung und Untersuchung von Bottom-Teilchen besteht darin, zwei hochenergetische Strahlen aus Elektronen und Antielektronen (Positronen) frontal aufeinanderzuschießen. Dabei können bei geeigneter Wahl der Strahlenergien Z0-Bosonen entstehen, die dann in Bottom- und Antibottom-Teilchen zerfallen. (Das Z0 bildet zusammen mit dem W+ und dem W- die Familie der Eichbosonen; diese vermitteln die schwache Kraft, die beim radioaktiven Zerfall maßgeblich ist.) Solche Kollisionsexperimente werden beispielsweise am Elektron-Positron-Speicherring (Large Electron-Positron Collider, LEP) durchgeführt, der zum CERN, dem Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik, in der Nähe von Genf gehört und in einem 27 Kilometer langen Ringtunnel unmittelbar an der französisch-schweizerischen Grenze untergebracht ist (Spektrum der Wissenschaft, September 1990, Seite 92). Dort laufen vier Experimente, darunter Aleph, an dem wir zusammen mit 400 anderen Physikern arbeiten.

Im Zentrum von Aleph befindet sich ein Vertexdetektor. Dieser besteht aus einer zylindrischen Anordnung doppelseitiger Siliciumstreifen-Detektoren, die am Kollisionsort in zwei konzentrischen Schichten um das Strahlrohr angeordnet sind (Bild 1). Um ihn herum sind zahlreiche weitere Teilchendetektoren angebracht, darunter zwei gasgefüllte, von einem supraleitenden Magneten umschlossene Vieldraht-Proportionalkammern. Mittels dieses komplexen Detektorsystems werden die beim Zerfall eines Z0 aus dem Kollisionsgebiet austretenden Teilchen identifiziert und ihr Impuls gemessen.

Das Z0 zerfällt in 70 Prozent aller Fälle in einige wenige (zumeist zwei) eng gebündelte Schauer aus Teilchen ("Jets" genannt), die vom Kollisionsort wegstreben. Bei etwa 20 Prozent dieser Ereignisse enthält einer der Jets ein Bottom-, der andere das zugehörige Antibottom-Teilchen. Nach im Mittel wenigen Millimetern Flugstrecke zerfällt das Bottom-Teilchen, wobei zumeist ein Charm- und ein oder mehrere andere Partikel entstehen (Bild 3).

Mittels der von den einzelnen Dioden aufgenommenen Signale erzeugt der Vertexdetektor des Aleph-Experiments ein vergrößertes Bild des Ereignisses von bislang unerreichter Schärfe. Dabei werden sowohl der Primärvertex (in dem das Z0 zerfällt und die Bottom-Teilchen entstehen) als auch der Sekundärvertex (in dem sich das Bottom- in ein Charm-Teilchen umwandelt) abgebildet. Selbst ein Tertiärvertex (der Zerfallsort des Charm-Teilchens) ist erkennbar.

Aus dieser in unzähligen Ereignissen gesammelten Detailinformation lassen sich einige grundlegende Eigenschaften von Bottom-Teilchen ableiten. Ihre Lebensdauer, die ein Maß für die schwache Wechselwirkung des bottom-Quarks ist, ergibt sich aus der Zerfallslänge – also dem Abstand zwischen Primär- und Sekundärvertex. Diese Größe spielt auch eine Rolle bei der Messung der Wahrscheinlichkeit, mit der sich das neutrale Bottom-Teilchen in sein Antiteilchen umwandelt – ein faszinierendes Beispiel für die Transformation von Materie in Antimaterie.


Das top-Quark und das Higgs-Boson

Siliciumstreifen-Detektoren trugen wesentlich zum Nachweis des lange gesuchten top-Quarks (des schwersten der sechs Quarks) bei, und sie werden auch bei der Fahndung nach einem bislang nur hypothetischen Teilchen der Hochenergiephysik, dem Higgs-Boson, eine wichtige Rolle spielen. Anfang März dieses Jahres bestätigten Forscher des Fermi National Accelerator Laboratory in Batavia (US-Bundesstaat Illinois) die Existenz des top-Quarks; sie führten ihre Experimente mit dem Tevatron durch, dem zur Zeit weltweit stärksten Teilchenbeschleuniger, in dem Protonen mit einer Energie von 900 Milliarden Elektronenvolt frontal auf Antiprotonen derselben Energie prallen (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1995, Seite 16).

In sehr seltenen Fällen entstehen bei den Proton-Antiproton-Kollisionen top-Quarks. Nahezu alle von ihnen zerfallen in ein Bottom-Teilchen und ein geladenes Eichboson (ein W+ oder ein W-). Indem mit einem Siliciumstreifen-Vertexdetektor nur die Ereignisse mit Bottom-Zerfällen für die Analyse ausgewählt wurden, separierte man die Top-Ereignisse von Hintergrundsignalen und erhöhte so deren relative Ausbeute.

Noch schwieriger aufzuspüren ist das Higgs-Boson, das nach mehr als drei Jahrzehnten theoretischer und experimenteller Forschung noch immer sozusagen der Gral der Teilchenphysik ist. Man nimmt an, daß es allen fundamentalen Teilchen – den Quarks, den ladungstragenden Leptonen und den Eichbosonen Z0, W+ und W- – Masse verleiht (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1987, Seite 52).

Am LEP ist die Suche nach dem Higgs-Boson bislang erfolglos geblieben. Seine Masse muß folglich so groß sein, daß es bei den mit diesem Beschleuniger erreichbaren Kollisionsenergien zu selten entsteht, um nachgewiesen werden zu können. Schon bald jedoch, wenn die LEP-Energien nahezu verdoppelt und verbesserte Siliciumstreifen-Vertexdetektoren eingebaut sind, wird man erneut nach Bottom-Zerfällen suchen, aus denen sich Hinweise auf das Higgs-Teilchen ableiten lassen.

Möglicherweise ist aber auch ein noch leistungsfähigerer Beschleuniger erforderlich. Man hofft, das Higgs-Boson – und vielleicht sogar über das Standardmodell hinausgehende physikalische Gesetzmäßigkeiten – mit dem am CERN geplanten Großen Hadronen-Collider (Large Hadron Collider, LHC), der im LEP-Tunnel aufgebaut werden soll, entdecken zu können. Mit einer achtfach höheren Strahlenergie als im Tevatron sollen dann Protonen auf Protonen geschossen werden; damit würde die Suche nach dem Higgs-Boson in Energiebereiche ausgedehnt, die weit jenseits des mit heutigen Geräten Erreichbaren liegen.

Aber selbst in dem neuen LHC werden Higgs-Bosonen nicht gerade häufig entstehen. Als Ausgleich dafür erhöhen die Forscher die Zahl der Wechselwirkungen drastisch – auf fast eine Milliarde pro Sekunde. Dies wiederum erschwert jedoch die Auswertung, denn die interessierenden, aber sehr seltenen Ereignisse müssen aus einer unvorstellbar großen Menge unbrauchbarer Stoßvorgänge herausgefiltert werden. Zudem sind Detektoren und Elektronik dabei infolge des starken Teilchenbeschusses einer enormen Belastung ausgesetzt.

Eines der wichtigsten technischen Hilfsmittel wird der Siliciumstreifen-Detektor sein. Seine Schnelligkeit und der geringe Abstand der Detektorelemente ermöglichen den Wissenschaftlern, Ereignisse im Gefolge der einzelnen Teilchenzusammenstöße voneinander zu trennen und die wenigen wichtigen Spuren herauszufiltern. Er ist so präzise, daß selbst aus der geringen Bahnkrümmung extrem hochenergetischer Teilchen in einem Magnetfeld ein genauer Impuls errechnet werden kann.


Weitere Anwendungen

Die durch Siliciumstreifen-Detektoren eingeleitete Revolution bei der präzisen Vermessung von Spuren hochenergetischer Teilchen und Strahlen greift inzwischen auch auf andere Forschungsgebiete, insbesondere die Astrophysik und die Röntgenologie, über. So eröffnen sich für die Gammastrahlen-Astronomie neue Möglichkeiten. An der Universität Stanford (Kalifornien), dem Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching sowie in anderen Einrichtungen in den USA, Europa und Japan arbeiten Forscher bereits am Entwurf eines entsprechenden Teleskops, das von der Erdumlaufbahn aus den Himmel mit bislang unerreichter Präzision und Empfindlichkeit nach galaktischen und extragalaktischen Gammaquellen durchmustern soll.

In dem Teleskop werden Siliciumstreifen-Detektoren mit dünnen Metallplatten kombiniert, die einen Teil der einfallenden hochenergetischen Gammastrahlen in Elektron-Positron-Paare umwandeln. Die Flugbahnen dieser beiden Teilchen werden jeweils in den Schichten des Mikrostreifendetektors aufgezeichnet und erlauben somit Rückschlüsse auf die Einfallsrichtung des Gammastrahls.

Dennoch sind solche Nachweisgeräte nicht perfekt. So kann ein doppelseitig strukturierter Detektor mit seinen voneinander unabhängigen, rechtwinklig zueinander angeordneten Siliciumstreifen nie mehr als ein Ereignis zur selben Zeit nachweisen. Ein einzelnes einfallendes Teilchen erzeugt auf jeder Seite des Detektors ein Signal – zusammen können diese dann eindeutig einem Punkt in der Ebene zugeordnet werden. Mehrere gleichzeitig einfallende Teilchen lassen sich jedoch nicht mehr zweifelsfrei identifizieren, denn einem auf der einen Detektorseite erzeugten Signal können mehrere der anderen Seite zugeordnet werden.

Für viele Anwendungen, darunter die Abbildung von Röntgenstrahlen, ist jedoch die eindeutige Lokalisierung jedes einfallenden Teilchens erforderlich – auch wenn es gleichzeitig mit einem anderen auftrifft. Diese Fähigkeit haben sogenannte Pixeldetektoren, die gegenwärtig entwickelt werden. Am CERN, aber auch an anderen Forschungsinstituten, konzentriert man sich auf die Entwicklung einer speziellen Variante dieser Nachweisgeräte, des Hybrid-Pixeldetektors. Der darin verwendete Detektorchip ähnelt zwar grundsätzlich dem eines Streifendetektors, doch sind die einzelnen Dioden nicht als Streifen, sondern als Rechtecke oder Quadrate mit einer Seitenlänge von 50 bis 500 Mikrometern ausgebildet (Bild 4 links). Er wird mit einen zweiten Chip, der eine entsprechende Anordnung von Verstärker- und Signalverarbeitungselementen enthält, in Kontakt gebracht, wobei Erhöhungen aus leitfähigem Material die elektrische Verbindung zwischen jeweils zwei zusammengehörigen Elementen herstellen (Bild 4 rechts).

Wenn die Experimente am LHC beginnen, sollen Pixeldetektoren die innersten Schichten des Nachweissystems für geladene Teilchen bilden. Weil die Partikeldichte in unmittelbarer Nähe zum Kollisionsgebiet außerordentlich hoch ist, eignet sich dieser Detektortyp mit seinem großen räumlichen Auflösungsvermögen am besten.

Ein weiteres potentielles Anwendungsgebiet für Pixeldetektoren, das sich allerdings erst in einem frühen Entwicklungsstadium befindet, sind Röntgenaufnahmen in der medizinischen Diagnostik, insbesondere in der Mammographie. In einem Pixeldetektor absorbierte Röntgenstrahlen erzeugen Signale, die in Bilder umgewandelt und per Computer ohne Zeitverlust dargestellt, ausgewertet und gespeichert werden können. Die bei der Arbeit mit herkömmlichen Filmen unvermeidbaren Zeitverluste und Lagerungsprobleme entfallen somit ganz.

Siliciumstreifen-Detektoren sind ein gutes Beispiel dafür, wie befruchtend die Zusammenarbeit zwischen Ingenieuren und Technikern auf der einen und Wissenschaftlern auf der anderen Seite sein kann. Versuche, die Naturgesetze zu ergründen, haben häufig die Entwicklung neuer Technologien und Geräte zur Folge, woraus sich mitunter völlig neue Industriezweige bilden. Neuartige Geräte wiederum ermöglichen neue Experimente und begünstigen somit den wissenschaftlichen Fortschritt.

So entstand beispielsweise in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts aus dem Versuch, den Aufbau der Atome zu verstehen, die Quantenmechanik. Aus ihr ergaben sich tiefere Einsichten in das physikalische Verhalten von Festkörpern, was unter anderem im Jahre 1947 die Erfindung des Transistors ermöglichte. Ohne diesen wären die rasanten Fortschritte in der Elektronik und Datenverarbeitung nicht möglich gewesen; er bildet den Grundstein der Halbleiterindustrie, deren Technologien heute zur Herstellung von Streifendetektoren eingesetzt werden. Erst diese Nachweiselemente erlauben nun, einige der dringendsten Fragen der Grundlagenphysik zu klären, darunter die Eigenschaften von top-Quark und Higgs-Boson.

Grundlagenforschung und technologischer Fortschritt sind wie in diesem Falle oft unmittelbar miteinander verwoben und können zwei verschiedene Facetten ein und desselben großartigen Musters darstellen.

Literaturhinweise


– Semiconductor Devices: Physics and Technology. Von Simon M. Sze. John Wiley and Sons, 1985.

– Gamma Large Area Silicon Telescope (GLAST): Applying Silicon Strip Detector Technology to the Detection of Gamma Rays in Space. Von W. B. Atwood in: Nuclear Instruments and Methods in Physics Research A, Band 342, Heft 1, Seiten 302 bis 307, 15. März 1994.

– Heavy Flavour Physics at Colliders with Silicon Strip Vertex Detectors. Von Andreas S. Schwarz in: Physics Reports, Band 238, Heft 1-2, Seiten 1 bis 133; März 1994.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1995, Seite 54
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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