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Simulation eines molekularen Erkennungsvorgangs

Viele biochemische Prozesse werden durch hochspezifische Bindungen zwischen exakt aufeinander abgestimmten molekularen Partnern vermittelt. Gestützt auf kraftmikroskopische Experimente konnten wir mit Computersimulationen Einblicke in den atomaren Mechanismus solcher selektiven Wechselwirkungen gewinnen.

Wie unterscheidet das Immunsystem Fremdstoffe von körpereigenem Gewebe? Wie gelingt es Enzymen, gezielt ein bestimmtes Substrat anzulagern und selektiv eine chemische Reaktion darin auszulösen? Wie übermitteln Botenstoffe (Hormone oder Neurotransmitter) ihre Nachricht?

Im Mittelpunkt all dieser Leistungen steht die molekulare Erkennung, und die entscheidende Rolle spielen dabei jeweils hochspezialisierte Makromoleküle, meist Proteine. Jede dieser kompliziert gefalteten Aminosäureketten vermag ein ganz bestimmtes Molekül, seinen Liganden, von allen anderen zu unterscheiden. Dies geschieht, indem es eine feste (meist durch elektrostatische Anziehung vermittelte) Bindung mit ihm eingeht, während es andere Moleküle lediglich schwach oder gar nicht festhält. Bildlich läßt sich dieser Vorgang mit dem bekannten Schlüssel-Schloß-Prinzip umschreiben: Nur ein einziger Schlüssel paßt in ein gegebenes Schloß.

Freilich sagt dieses Prinzip nichts über den genauen Mechanismus des Einrastens aus, also darüber, welche molekularen Vorgänge die meist außerordentlich hohe Bindungsspezifität bewirken. Dies zu wissen wäre jedoch überaus nützlich. Viele Krankheiten beruhen nämlich auf Fehlern bei der molekularen Erkennung. Entsprechend greifen Medikamente häufig in solche Erkennungsvorgänge ein, wobei oft gar nicht genau bekannt ist, wie sie dies bewerkstelligen. Auch der Bau von Biosensoren, die gezielt auf bestimmte Moleküle ansprechen sollen, erfordert die Konstruktion geeigneter, auf die zu erkennenden Stoffe spezialisierter Bindungsstellen.

Einige wenige molekulare Schlösser sind recht gut untersucht, etwa das in Bakterien vorkommende Protein Streptavidin, ein naher Verwandter des im Hühnereiweiß enthaltenen Avidins. So kennt man seine Gensequenz und damit die Abfolge der 159 Aminosäuren, aus denen es aufgebaut ist. Ferner weiß man, wie schnell, stark und selektiv Streptavidin den zugehörigen Schlüssel, das Vitamin H oder Biotin, bindet; tatsächlich handelt es sich um die stärkste bekann-te Protein-Ligand-Bindung überhaupt. Schließlich ist die räumliche Struktur des Komplexes zwischen beiden Partnern, also die genaue Lage eines jeden einzelnen der 1135 Protein- und Biotin-Atome, vermessen worden.

Kürzlich ist es unserem Münchner Kollegen Hermann Gaub und seinen Mitarbeitern gelungen, mit einem Rasterkraftmikroskop einzelne Streptavidin-Biotin-Komplexe auseinanderzureißen (Bild 1 links) und die dafür erforderliche Kraft zu messen ("Science", Band 264, Seiten 415 bis 417); der gefundene Wert von 252 Pikonewton ist für molekulare Systeme sehr hoch, obwohl er, makroskopisch betrachtet, nur etwa dem Gewicht eines vierzigmillionstel Gramms entspricht.


Simulation der Streptavidin-Biotin-Trennung

Damit bietet der Streptavidin-Biotin-Komplex denkbar günstige Voraussetzungen, um durch eine Computersimulation den Mechanismus der Protein-Ligand-Bindung genauer zu erforschen. Diese Gelegenheit wollten wir uns in der Arbeitsgruppe Theoretische Biophysik am Institut für Medizinische Optik der Ludwig-Maximilians-Universität München nicht entgehen lassen. Wir haben deshalb den Kern des kraftmikroskopischen Experiments – das Auseinanderreißen eines einzelnen Streptavidin-Biotin-Komplexes – mittels sogenannter Molekulardynamik-Simulationen nachvollzogen (Bild 1 Mitte).

Dazu erstellten wir zunächst ein Computermodell, das den Komplex in seiner experimentell ermittelten Struktur beschreibt und zusammen mit den vielen Wassermolekülen, die ihn umschließen, insgesamt 10969 Atome enthält (Bild 1 rechts). Die zwischen diesen wirkenden Kräfte sind weitgehend bekannt, und so konnten wir die Bewegung jedes einzelnen Atoms im Modell berechnen.

Die Molekulardynamik-Simulation ist eine inzwischen häufig angewandte Methode zum theoretischen Studium des Verhaltens von Makromolekülen (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Juni 1986, Seite 108). Bei unseren Untersuchungen gingen wir allerdings einen Schritt weiter: Wir vollzogen ein vollständiges Experiment in atomarem Detail auf dem Computer nach. Außerdem gelang es uns zum ersten Mal, ein derart umfangreiches Vielteilchensystem über einen hinreichend langen Zeitabschnitt mit der erforderlichen Genauigkeit zu simulieren; möglich machten dies der Einsatz eines Hochleistungsparallelrechners sowie selbstentwickelter effizienter Rechenverfahren (Algorithmen). Dennoch benötigten wir ungefähr drei Monate Rechenzeit.

Dabei konnten wir die Güte unserer Simulation einem praktischen Test unterziehen, indem wir gleichfalls eine Abreißkraft ermittelten und sie mit dem experimentellen Wert verglichen. Erfreulicherweise stimmten beide innerhalb der Fehlergrenzen hervorragend überein – ein Indiz, daß das Modell die tatsächlich ablaufende Bindungstrennung zuverlässig nachbildet. Einschränkend anzumerken ist allerdings, daß das reale und das simulierte Experiment auf sehr unterschiedlichen Zeitskalen ablaufen: Während die Bindungstrennung mit dem Kraftmikroskop einige tausendstel Sekunden dauert, konnten wir wegen des hohen Rechenaufwands nur Zeitspannen von wenigen milliardstel Sekunden simulieren. Deshalb mußten wir den Komplex entsprechend schneller auseinanderziehen.

Um die Auswirkung dieses Unterschieds abschätzen zu können, haben wir außer der eigentlichen Trennung auch untersucht, ob und wie sich die berechnete Abreißkraft ändert, wenn der Komplex noch schneller auseinandergezogen wird. Dabei ergab sich ein linearer Anstieg mit der Trennungsgeschwindigkeit (bis zu einem bestimmten Sättigungswert); diese Kurve läßt sich auf den experimentellen Wert extrapolieren.


Einblicke in den Trennungsmechanismus

Nach diesem erfolgreichen Test analysierten wir die Simulation im Detail, um Einblicke in den Mechanismus der Trennung von Streptavidin und Biotin zu gewinnen. Der Ligand wird im gebundenen Zustand durch ein komplexes Netz aus Wasserstoffbrückenbindungen und Wasserbrücken in der Bindungstasche des Proteins festgehalten (Bild 2 links). Bei letzteren handelt es sich um Wassermoleküle, die als Bindeglied zwischen dem Liganden und dem Protein fungieren.

Ein unerwartetes Ergebnis unserer Untersuchungen war, daß diesen Wasserbrücken eine überraschend große Bedeutung zukommt. Als wir im Computerexperiment begannen, das Biotin aus der Bindungstasche zu ziehen, beobachteten wir, daß als erstes genau die Wasserstoffbrücken brachen, die bisher als entscheidend für den Zusammenhalt gegolten hatten. Dagegen blieben viele Wasserbrücken intakt und hielten das Biotinmolekül weiterhin fest. Erst als auch sie brachen, schnellte der Ligand aus der Bindungstasche heraus. Diese wie Klebstoff wirkenden Wassermoleküle leisten demnach den Hauptbeitrag zur gemessenen Bindungskraft.

Als weiteres unerwartetes Ergebnis unserer Simulationen zeigte sich, daß sich besonders gegen Ende des Trennungsprozesses noch einmal einzelne Wasserstoff- und eine Reihe von Wasserbrücken bilden und wieder brechen (Bild 2 rechts). Insgesamt legte das Biotin beim Ablösen eine Strecke von mehr als einem Nanometer (millionstel Millimeter) zurück. Diese Entfernung, die auch experimentell bestätigt werden konnte, übertrifft die Reichweite typischer Einzelbindungen um ein Vielfaches.

Gerade darin aber liegt offenbar das Besondere der molekularen Erkennung. Es genügt nicht, daß eine Reihe spezifischer Bindungen den fertigen Komplex stabilisiert, vielmehr wird auch der Andockvorgang selbst (der dem Zurückspulen unserer Simulation entspricht) durch eine spezifische Abfolge sich bildender und wieder lösender Bindungen gesteuert – vergleichbar mit einem Abtasten des Liganden. Viele Moleküle scheitern wohl bereits an dieser Hürde; nur die wenigen, denen es gelingt, den Vorfilter zu passieren, erhalten überhaupt Zutritt zur Bindungstasche.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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