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Simulationsgestützte Planung zur Wartung von ICE-Zügen

Eine dynamische Rechnersimulation für die Instandhaltung von Hochgeschwindigkeitszügen soll den Fahrzeug- und Werkstattbedarf realistischer ermitteln sowie Stillstandszeiten minimieren. Ein erstes Ergebnis sind neuartige Werkskonzepte und eine Bestimmung zusätzlich erforderlicher Standorte.

Mit dem InterCityExpreß (ICE) etablierte die damalige Deutsche Bundesbahn 1991 den Hochgeschwindigkeitsverkehr (HGV) in Deutschland. Entsprechend den technischen Besonderheiten der Züge wurden zur Instandhaltung eigens Werke in Hamburg und München eingerichtet. Nur so ließ sich gewährleisten, daß die Passagiere täglich sicher, zuverlässig und komfortabel reisen.

Entsprechende Arbeiten – die Deutsche Bahn spricht von Behandlungen und Instandhaltungen – sind beispielsweise die Inspektion der Klima- und Kücheneinrichtungen oder des Ölstandes und Reparaturen wie der Wechsel von Radsätzen. Sichtkontrollen fallen in regelmäßigen Intervallen an, dabei sind die Züge auch innen wie außen zu reinigen, Frischwassertanks zu füllen und Fäkalien zu entsorgen. Reparaturarbeiten hingegen sind nur bei Bedarf erforderlich.

Während dieser Tätigkeiten steht der Zug dem Linienverkehr nicht zur Verfügung; man sucht dafür ohnehin gegebene Stillstandszeiten zu nutzen. So fällt beispielsweise auf der Strecke Hamburg – München zweimal täglich eine Innenreinigung an: Bei der Wende in München erfolgt eine auf das Wichtigste beschränkte, während der Nachtabstellung in Hamburg eine ausführliche. Auch die Kontrolle des Laufwerks nach jeweils 3500 Kilometern läßt sich in dieser Zeit zusätzlich bewerkstelligen. Dagegen erfordert eine nach rund 60000 Kilometern anfallende umfassendere Instandhaltung mehr als 16 Stunden; dann ist ein zusätzlicher Zug erforderlich.

In den nächsten Jahren wird der Hochgeschwindigkeitsverkehr sukzessive ausgebaut. Dazu sollen weitere Linien und neue Generationen von Zugsystemen mit neuen Techniken in Betrieb genommen werden (beispielsweise kürzere, koppelbare Züge, Verteilung der Antriebe auf alle Wagen statt Konzentration auf die Triebwagen, Neigungstechnik für das schnelle Durchfahren von Kurven); zudem wird man das deutsche an das europäische Hochgeschwindigkeitsverkehrsnetz anbinden. Das bestehende Behandlungs- und Instandhaltungssystem wird dann nicht mehr genügend Kapazität aufweisen beziehungsweise bei einer einfachen Erweiterung zu hohe Kosten verursachen. Benötigt werden weitere Standorte, aber auch neue Werkskonzepte, um Kapazität und Flexibilität bei geringsten Investitionen zu steigern.

Dazu entwickelten die Deutsche Bahn und das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung im Rahmen des Projekts "ICE-Werk der Zukunft" ein umfassendes Simulationswerkzeug, das erstmals das Zusammenspiel von Fahrplan, Liniennetz und künftigen Zugtypen bei der Bedarfsermittlung berücksichtigt. Aufbauend darauf ließen sich Standort, Struktur, Größe und technische Ausgestaltung der künftig erforderlichen Werke erarbeiten.


Neue Werkskonzepte

Die zu berücksichtigenden Arbeiten können oberhalb, seitlich, unter- oder innerhalb des Zuges anfallen (Bild 1). Entsprechende Arbeitsebenen muß ein Werk aufweisen, und diese Flexibilität bestimmt wesentlich die baulichen Investitionen. Durch Kombination unterschiedlicher technischer Lösungen für alle durchzuführenden Tätigkeiten ließen sich im Rahmen des Projekts allein 100 Gestaltungsvarianten für Gleise unterscheiden und in einem Lösungskatalog als Module der simulationsgestützten Werksplanung zusammenstellen.

Die Arbeiten selbst lassen sich ebenfalls systematisieren: Inhalt und Umfang hängen davon ab, ob sie inner- beziehungsweise außerhalb des Fahrplans durchführbar sind und ob sie sich hinsichtlich des Aufwands für Zeit und Betriebsmittel wesentlich unterscheiden. Bei aufwendigen Reparaturen ist meist ein zusätzlicher Zug erforderlich, während sich Inspektionen und Reinigungen im wesentlichen während der Nacht und beim Wenden an Linienendpunkten erledigen lassen.

Bislang werden alle diese Arbeiten in den speziell für den HGV konzipierten, mit hohen Investitionen verbundenen Werken in Hamburg-Eidelstedt und München durchgeführt. Doch läßt sich ein Teil der anfallenden Tätigkeiten nach der geschilderten Systematisierung technischen Lösungen mit geringerem Kapitalaufwand zuordnen (etwa hinsichtlich der erforderlichen Gleise). Man erhält einen Katalog von Bausteinen, aus denen sich die technische Ausgestaltung bestehender wie künftiger Werke neu konzipieren läßt:

- Werkstätten wie die in Hamburg und München sind sehr aufwendig ausgerüstet; während aller Tätigkeiten steht der komplette Zug auf einem Gleis. Um weitere Investitionen gering zu halten, sollte man diese Werke vorrangig für fahrplanunabhängige, hochwertige Behandlungen nutzen. Noch zu bauende lassen sich im Hinblick auf die Einführung kürzerer Triebzugsysteme auf eine Hallenlänge von 220 statt bislang 440 Metern auslegen.

- Neu ist der Technische Service-Punkt (TSP), gedacht für Inspektionen und Reparaturen, die innerhalb fahrplanbedingter Stillstandszeiten zu erledigen sind. Trotzdem wird es ein speziell ausgestattetes Gleis für aufwendige Reparaturen (etwa den Tausch von Stromabnehmern oder das Wechseln eines Radsatzes) geben, um den Zug nicht in die nächstliegende Werkstatt überführen zu müssen. Indem man nacheinander Wagen für Wagen bearbeitet, läßt sich die Hallenlänge auf 40 bis 60 Meter verkürzen.

- Behandlungsgleise im Freien werden den beiden anderen Werkstypen je nach Bedarf angegliedert oder alleinstehend aufgebaut. Sie sind für solche Behandlungen vorgesehen, die sowohl für die Außenanlagen als auch für die Maschinentechnik einen nur geringen Aufwand erfordern, also insbesondere für Innenreinigungen.


Dynamische Planung

Bislang ließ sich nur anhand von Erfahrungswerten und konstanten Vorgaben planen, und die Berechnungen ergaben lediglich Durchschnittswerte. Sie berücksichtigten nur in geringem Umfang die Dynamik im Zusammenspiel von Fahrplan, Liniennetz und Zugtypen. Wie oft und wo welche Instandhaltungsarbeiten abhängig von den gefahrenen Kilometern anfallen, läßt sich so nur eingeschränkt ermitteln. Insbesondere erhöht der flächendeckende Ausbau des HGV die Komplexität von Standortwahl und Ausgestaltung neuer Werke. Allein ein simulationsgestütztes Planungssystem vermag die Zeitpunkte und Aufenthaltsorte der Züge zu berücksichtigen und so die Belastung der Werke im Tagesverlauf zu berechnen.

Für das Simulationsmodell wurden alle bahnspezifischen Elemente wie ICE-Zugeinheit, Gleis, Weiche und Bahnhof als Module entwickelt und die in den Lösungskatalogen enthaltenen Werksbausteine implementiert. Daraus ließ sich das geplante Streckennetz des Jahres 2000 mit vorhandenen und geplanten Werken zusammensetzen, testen und immer wieder neu konfigurieren (Bild 2). Bausteine mit Ablaufsteuerungen und menügeführte Benutzungsoberflächen ergänzen das System.


Standortwahl und Ausgestaltung neuer Werke

Die Simulationsergebnisse zeigen – anders als die statischen Rechnungen – nicht nur den Gesamtbedarf an Werkskapazitäten für die Instandhaltung der ICE-Züge auf, sondern auch, an welchen Orten und zu welchem Zeitpunkt dieser Bedarf in welcher Höhe entsteht.

Durch unterschiedliche Kombination der so identifizierten potentiellen neuen Standorte mit den bereits im Netz vorhanden vermochte man verschiedene Szenarien abzuleiten, das Simulationsmodell entsprechend anzupassen und weitere Berechnungen durchzuführen. Die Szenarien wurden anhand verschiedener Kriterien bewertet, beispielsweise Werksauslastungen, Überschreiten von Grenzwerten für die zwischen den Arbeiten maximal zurückgelegten Kilometer sowie Bedarf an zusätzlichen Überführungsfahrten.

Es zeigte sich dabei, daß für das Betriebsprogramm im Jahr 2000 außer einem für Frankfurt am Main geplanten Werk ein weiterer Standort im süddeutschen Raum erforderlich sein wird. Auch im Raum Köln/Düsseldorf müssen weitere Kapazitäten bereitgestellt werden.

Anschließend erfolgten in einem zweiten Simulationsschritt für jedes Werk eines Standortszenarios weitere Rechenläufe, um die erforderlichen Kapazitäten in den neuen Werken genau festzulegen beziehungsweise die in vorhandenen zu prüfen. Dabei variierten jeweils Anzahl und Typen der eingesetzten Werksbausteine, bis die optimale Konfiguration aus Abstell-, Behandlungs-, TSP- beziehungsweise Werkstattgleisen ermittelt war. Dazu wurden die Tagesganglinie des Arbeitsaufkommens (Bild 3), Dauer und Häufigkeit eventuell auftretender Blockierungen und Verspätungen sowie die Höhe des Reservezugbedarfs am Standort herangezogen. Das bestätigte beispielsweise die Planung für den neuen Standort Frankfurt am Main mit zwei Werkstattgleisen in einer 200 Meter langen Halle und einem Behandlungsgleis im Freigelände.

Im letzten Simulationsschritt erfolgten weitere Berechnungen mit den konfigurierten neuen Standorten, um die für jeden Zugtyp erforderliche Anzahl und die Verteilung von zusätzlichen Zügen im Netz zu ermitteln. Diese werden insbesondere in Zeiten des Spitzenbedarfs herangezogen.


Weichen stellen für die Zukunft

Der Nutzen des Simulationsprojekts liegt in der erreichbaren Planungssicherheit, vermag man damit doch reale Gegebenheiten und das Zeitverhalten des HGV direkt abzubilden. So lassen sich gegenüber der herkömmlichen Verfahrensweise Sicherheitsreserven in der Kapazitätsauslegung der einzelnen Werke reduzieren. Durch den Einsatz des Technischen Service-Punkts, die optimale Wahl der Standorte und Konfiguration der Werke sowie durch die Minimierung der Reservezug-Anzahl werden sich Investitionen in mehrstelliger Millionenhöhe sparen lassen – der Nutzen des Projekts übertrifft den Aufwand somit um mehr als das Hundertfache.

Das simulationsgestützte Planungssystem ist zudem langfristig angelegt: Der modulare Aufbau erlaubt die schnelle Anpassung an veränderte Bedingungen in künftigen Betriebsprogrammen und mit anderen Zugsystemem.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1996, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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