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Interview: Sind Expertenurteile glaubwürdig?

Interview mit Hans Mohr, geführt von Dieter Beste und Marion Kälke; Illustrationen von Axel Weigend

Wissenschaftler sind häufig uneins – derzeit zum Beispiel darüber, in welchem Maße und mit welchen Auswirkungen der Mensch das Klima verändert, welchen Nutzen und welche Gefahren wir von der Gentechnik zu erwarten haben oder ob es so etwas wie Elektrosmog überhaupt gibt; vor allem streiten sie, was jeweils zu tun sei. Herr Professor Mohr, was hat Sie als Biologen motiviert, sich von einem Lehrstuhl berurlauben zu lassen und die Tätigkeit in einem Sonderforschungsbereich aufzugeben, um sich mit Technikfolgenabschätzung zu beschäftigen? Besonders reizvoll war die Chance, in der Politikberatung neue Akzente zu setzen – in einer unabhängigen Institution. Ich empfinde es als sehr positiv, daß wir wissenschaftsgebunden arbeiten, daß uns niemand sagt, welche Themen wir behandeln sollen, und erst recht schreibt uns niemand vor, welche Ergebnisse wir zu liefern haben. Wir sind dem Land Baden-Württemberg gegenüber lediglich verpflichtet, die Themen, die den Menschen auf den Nägeln brennen, sorgfältig aufzunehmen und zu prüfen. Die Bürger generell wie auch die Politiker, die Entscheidungen für das Gemeinwesen zu treffen haben, kommen in der heutigen komplexen Gesellschaft nicht mehr ohne fachliche Unterrichtung und Beratung aus. Können die Experten noch eine verläßliche Basis für allgemeine Vorstellungen über wünschbare Entwicklungen und für politisches Handeln bieten? Wir gewinnen immer mehr den Eindruck, daß die zunehmende Komplexität den Handelnden überfordert. Außerdem sieht die Bevölkerung die modernen Technologien vielfach nicht als Wohltat, sondern vornehmlich als Bedrohung und Risiko. Dies hängt insbesondere damit zusammen, daß die moderne Welt insgesamt als undurchschaubar empfunden wird. Der Mangel an Transparenz ist der Preis für die rasche Einführung neuer komplexer Technologien, aber auch die wesentliche Ursache ihrer Ablehnung. Um so mehr kommt es darauf an, den unerläßlichen Konsens darüber, welche der vielfachen potentiellen Varianten bei der Nutzung moderner Technologie zu wählen sei, auf Sachinformation zu gründen. Kann denn Sachinformation immer angemessen vermittelt werden? Wenn sich Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen kaum mehr verstehen, wie soll dann der Laie die Vorteile und Risiken neuer Technologien richtig einschätzen oder auch nur einigermaßen vorurteilsfrei abwägen können? Richtig ist, daß technische Risiken und mögliche gesundheitliche Konsequenzen sich selbst in wissenschaftlicher Terminologie nicht leicht fassen lassen. Die Diskussion wird zusätzlich erschwert, wenn sie in nicht-wissenschaftlicher Sprache geführt werden muß und sich im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Wissenschaft abspielt. Die Intention des Politikers ist zuerst, politischen Erfolg zu haben. Das kann ihn leicht dazu verführen, auch bei der Beurteilung von Technologien in der Öffentlichkeit auf eine Weise zu argumentieren, die wissenschaftlichen Ergebnissen oder auch nur einem fundierten nüchternen Abwägen von Pro und Kontra nicht mehr entspricht. Und der wissenschaftliche Experte, der beratend die politische Bühne betritt, ist frei von dem Druck, dem Wähler dieser oder jener politischen Einstellung oder bestimmten Interessengruppen zu gefallen? Die Wissenschaft hat spätestens seit der Aufklärung von der Vorstellung gelebt, daß es eine gemeinsame Verpflichtung auf das wissenschaftliche Ethos gibt. Ich muß mich darauf verlassen können, daß mir ein Wissenschaftler nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit sagt, sonst gibt es keine Wissenschaft. Aber wissenschaftliche Erkenntnis bedarf der Vermittlung. Ja, sie ist nicht unmittelbar praxisfähig. Es ist der Experte, der im Rahmen seiner fachlichen Kompetenz aus Forschungsergebnissen und theoretisch-kognitiver Erkenntnis Verfügungswissen formt und in die Praxis einbringt. Diese Praxis umfaßt nicht nur Wirtschaft, Industrie und Politik, sondern auch das Gespräch mit der Öffentlichkeit. An sich müßten die Bürger die Experten unter ihnen hochschätzen; aber viele Indizien deuten darauf hin, daß das öffentliche Vertrauen in Experten erschüttert ist. Sie werden nicht mehr als neutrale Sachverständige betrachtet, sondern als voreingenommene – vielleicht sogar käufliche – Interessenvertreter, die mit Halbwahrheiten operieren. Obwohl wir alle uns tagtäglich nahezu selbstverständlich auf die Kompetenz von Wissenschaftlern und Ingenieuren verlassen, haben sich viele Menschen den Luxus angewöhnt, dem Experten von vornherein zu mißtrauen. Das können wir uns in dieser Phase zivilisatorischer Umstrukturierung schon gar nicht leisten! Wir verschleißen in diesem Lande zu allgemeinem Schaden die Experten genauso wie die guten Politiker. Hat ein solches auf Mißtrauen gegründetes Image indes nicht auch seine Ursache in verwirrenden Meinungsdifferenzen der Experten selbst? Differenzen liegen häufig in der Natur der Sache. Ein Gutachten über die Konjunktur ist aus triftigen Gründen weniger zuverlässig als eines über die Thermodynamik einer Verbrennungsmaschine. Die Vorhersage des Wetters in drei Tagen ist aus prinzipiellen Gründen weniger genau als die einer Sonnenfinsternis in drei Monaten. Aussagen über das AIDS-Virus sind, soweit man mit seiner Untersuchung gekommen ist, präziser als Aussagen über die künftige Epidemiologie der Krankheit, selbst wenn man das bisherige Geschehen gut zu überblicken vermag. Das heißt, auch die abgestufte Reichweite und die Belastbarkeit der Aussagen dürfen der Öffentlichkeit nicht unterschlagen werden: Was in der Phantasie des Experten stimmig ist, zum Beispiel die nachhaltige Energieversorgung mit solar erzeugtem Wasserstoff, ist noch lange kein reifes Konzept auf dem Papier; und was auf dem Papier geht, funktioniert noch lange nicht in der Praxis. Der verantwortungsbewußte, also vertrauenswürdige Experte wird auch unter öffentlichem Erwartungsdruck keinen Zweifel daran lassen, was nach den Standards der Wissenschaft bewiesen ist, was ihm nach gegenwärtiger wissenschaftlicher Erkenntnis als gesichert erscheint, was möglich ist und was vielleicht möglich sein dürfte. Darüber, daß zwei mal zwei vier ist, wird niemand streiten. Wo fängt denn nun das Dilemma unterschiedlicher Stellungnahmen an? Das Dilemma fängt schon bei dieser Rechenaufgabe an! Der eine sagt: "Zwei mal zwei ist vier." Der andere sagt: "Etwa zwei multipliziert mit etwa zwei ergibt wohl ungefähr vier." Das liegt daran, daß der eine denselben Sachverhalt unter anderen Bedingungen betrachtet als der andere. In der Klima-Debatte zum Beispiel gibt es exzessive Differenzen, was die Menschen momentan völlig irritiert. Und dummerweise stützen sich beide Seiten auf die gleichen Daten. Die Kontrahenten unterscheiden sich lediglich bei den Extrapolationen. Dies kann der Außenstehende schwerlich nachvollziehen. Es dürfte weithin bekannt sein, daß die Prognostik zwar große Fortschritte gemacht hat, aber ihre Aussagen nach wie vor mehr oder weniger wahrscheinliche Ereignisse und Entwicklungen betreffen. Das sollte an sich noch nicht beunruhigen. Gut, bleiben wir im Rahmen der beweisfähigen Wissenschaft. Zu einem Projekt werden verschiedene Gutachten eingeholt, die zu widersprüchlichen Resultaten kommen. Die Öffentlichkeit gewinnt bei einer solchen Sachlage leicht den Eindruck, wissenschaftliche Rationalität sei eine höchst fragwürdige Instanz. Widersprüche zwischen Wissenschaftlern, die als Sachverständige auftreten, hat es allerdings immer gegeben. Wenn es sich eben um beweisfähige Wissenschaft handelt, kann ein solcher Widerspruch nur dadurch zustande kommen, daß mindestens einer der Kontrahenten mehr behauptet, als er aufgrund des Forschungsstandes zu beweisen vermag. Das Problem wird in der Wissenschaft üblicherweise dadurch gelöst, daß die Experten, von denen entgegengesetzte Gutachten vorliegen, zur Zusammenarbeit – zum Beispiel zu einem Punkt-für-Punkt-Vergleich – veranlaßt werden mit dem Ziel, die Prämissen zu verdeutlichen und die Gründe für die Diskrepanzen aufzudecken und zu diskutieren. Solange nur fachlich kompetente und moralisch integre Personen in die Kontroverse verwickelt sind, wird sich stets eine Lösung finden – und sei es der Verzicht auf eine Aussage aus Unkenntnis oder wegen prinzipieller Erkenntnisgrenzen; schließlich weiß jede solche Partei, daß in der Wissenschaft einander entgegengesetzte Aussagen nicht gleichzeitig wahr sein können. Nun wird man nicht in jedem Falle ein Gutachten und ein Gegengutachten einholen, um dann zwei Kontrahenten an einen Tisch zu bringen. Gewiß nicht. Andere neue Methoden, das Dilemma der Unsicherheit zu lösen, sind überlappende Gutachten, Delphi-Verfahren, Konvergenzstrategien, die Meta-Analyse. Bei der Meta-Analyse etwa geht es darum, ganze Gruppen verwandter, aber unabhängiger Studien quantitativ zu evaluieren. Selbstverständlich ist auch eine Meta-Analyse kein Allheilmittel, aber das formalisierte Verfahren stellt eine wesentliche, ja entscheidende Verbesserung gegenüber den bislang üblichen Reviews im Erzählstil dar. Die Methoden der Meta-Analyse erlauben dem erfahrenen Experten die bestmögliche Annäherung an den jeweiligen Stand der Erkenntnis. Im Prinzip geht es um eine quantitative Bewertung der Vertrauenswürdigkeit einer wissenschaftlichen Aussage über die vergleichende Bewertung der relevanten Studien. Es versteht sich, daß eine statistische Technik keine schlechte Forschung zu korrigieren vermag, aber sie kann den Einfluß schlechter Forschung eliminieren oder zumindest dämpfen und Schlußfolgerungen aus den verläßlichen Studien in den Vordergrund rücken. Was ist nun, wenn das Dilemma doch über beweisfähiges Wissen hinausgeht? Wann fängt Wissenschaft an, politisch zu werden? Aufgabe des Wissenschaftlers ist es, für die Güte der Expertise einzustehen. Aufgabe des Politikers ist es, für die Güte der Entscheidung einzustehen. Wir sollten uns hüten, uns in Entscheidungsprozesse unter den Bedingungen der Politik direkt einzumischen, weil wir sie in aller Regel nicht beherrschen. Ich kenne nur wenige Wissenschaftler, die im Parlament bestehen könnten. Und Wissenschaftler, die sich politisch nach dem Winde drehen oder sogar die Wahrheit so verbiegen, wie das jeweilige Publikum sie gerne hätte, sind nicht mehr Mitglieder der Scientific Community. Wie sehen denn, zum Beispiel bei Aufträgen an die Akademie für Technikfolgenabschätzung, die Empfehlungen der Experten an die Politik aus, wenn Wissenschaftler frei, unabhängig, unpolitisch sind? Die Empfehlungen bestehen in begründeten Wenn-dann-Sätzen. Ein Beispiel ist die Landwirtschaft: Wenn wir die Gentechnik in Deutschland weiterhin verhindern, dann wird die deutsche Landwirtschaft wahrscheinlich vollends ins Abseits geraten; sie wird sich in Europa nicht halten können. Setzen Sie sich mit einer so klaren und entschiedenen Aussage nicht dem Verdacht aus, Sie betrachteten die Gentechnik nur von der wirtschaftlichen Seite? Hier liegt sozusagen das Laien-Dilemma: Ich sagte eben, daß solche Wenn-dann-Sätze begründet seien; nur kann nicht jedermann die Begründung vom Beginn der Analysen bis zur Schlußfolgerung mitvollziehen. Wir haben im Falle von Landwirtschaft und Gentechnik von der Wissenschaft bis hin zur Wirtschaft alle Facetten behandelt. Gute Wissenschaft ist lernfähig. Das zeigt die wissenschaftsinterne Risikoanalyse. Bei der Risikoabschätzung in der Gentechnik haben wir kaum noch Differenzen. Die Risikoanalyse betrifft hier ja nur hypothetische Risiken. Reale Risiken sind eher geringer als bei der Einführung konventioneller Erzeugnisse. Gerade bei der Gentechnik gibt es einen wissenschaftlichen Konsens, wie wir ihn bei sonst keiner modernen Technologie jemals erreicht haben. Trotzdem scheint sich in der Öffentlichkeit wie in der Politik darüber kein vertrauensvoller Konsens zu entwickeln. Gibt es bei bestimmten Technologien etwa auch besonders schwierige Kommunikationsprobleme? Es gibt ein Experten-Dilemma, das uns wirklich sehr zu schaffen macht – wir nennen es Experten-Dilemma zweiter Art. Es entsteht an solchen Nahtstellen zwischen Wissenschaft und Politik, an denen eben ein hoher politischer Handlungsbedarf besteht, und wo Fehlentscheidungen in der Regel mit weitreichenden Konsequenzen verbunden sind. Zugrunde liegen zwei gravierende Mißstände. Einmal wird in der politischen Praxis die Expertise häufig als selektives Instrument benutzt, um bereits getroffene Entscheidungen oder Glaubensakte nachträglich zu legitimieren. Ein besonders instruktives Beispiel dafür ist die Forderung zum Ausstieg aus der Kernenergie. Man hat es geschafft, ein Thema wie die zivile Nutzung dieser Energiequelle so zu zerreden, daß wir heute nicht mehr darüber sprechen können, ohne daß rationale Argumente mit emotionalen und irrationalen vermengt würden. Es hat sich zweitens die Praxis herausgebildet, daß Interessengruppen und Politiker damit rechnen können, zu jeder Sachfrage die gewünschte, als wissenschaftliches Gutachten bezeichnete Stellungnahme zu bekommen. Diese zynische Praxis wird dadurch begünstigt, daß die Nutzung neuer Technologien auf vorgeprägte, hochpolarisierte Präferenzen in der Bevölkerung stößt. Auch Wissenschaftler werden in diese Polarisierung hineingezogen, und manche von ihnen lassen sich darum zu Äußerungen hinreißen, die sie sachlich nicht mehr verantworten können. Das schadet dem Leitbild des Experten sehr. Nun steht mitunter auch ein seriöser Wissenschaftler unter Druck. Die Öffentlichkeit verlangt etwa vom Chemiker eines Konzerns eine offene, ehrliche Erklärung eines Störfalls; die Firma aber verlangt von ihm Loyalität und Schweigen. Tragen nicht solche Interessenkollisionen zum herrschenden Mißtrauen bei? Das hat in der Vergangenheit der Wissenschaft sicherlich geschadet. Termini wie "unabhängige Wissenschaft" entstanden ja gerade deshalb. Aber wir sind heute in aller Regel darüber hinaus. Die Schwierigkeiten entstehen eher dadurch, daß Experten gegeneinander ausgespielt werden. Dem idealtypischen Leitbild zufolge ist man dann ein Experte, also ein Fachmann für Verfügungswissen, wenn man sich auf einem bestimmten Fachgebiet durch Erfahrung, Leistung und wissenschaftliches Verhalten ausgewiesen hat und wenn diese Kompetenz von renommierten Fachkollegen auch international bestätigt wird. Das nachdrückliche Beharren der Scientific Community auf diesem idealtypischen Leitbild hat gleichwohl nicht verhindert, daß sich in der Öffentlichkeit Experten etablierten, die innerhalb der Community kaum etwas oder nichts gelten. Als Gegenexperte eines seriösen Wissenschaftlers ist schon akzeptabel, wer sich einigermaßen auskennt und ins politische Kalkül einer Interessengruppe paßt. Nicht selten genügt das Engagement für ein vermeintlich höheres Ziel. Fundierte Sachkenntnis ist dabei eher hinderlich und wird gelegentlich zu einem negativen Wert. Bedenklich ist vor allem die Anpassung mancher vorgeblicher oder auch durchaus sachkundiger Experten an die nachgerade paradoxe – um nicht zu sagen neurotische – Risikomentalität der Wohlstandsgesellschaft. Schon seit Jahren gilt ein Fachmann in der Öffentlichkeit als um so glaubwürdiger, je höher er das jeweilige Risiko einschätzt. Man beobachtet demgemäß auch in den Reihen der fachlich kompetenten Wissenschaftler eine opportunistische Überbewertung von Risiken in der öffentlichen Diskussion. Dieselben Wissenschaftler, die im fachlichen Disput jede Behauptung sowohl kritisch als auch selbstkritisch daraufhin bewerten, wie begründet und gerechtfertigt sie ist, sind im öffentlichen Disput zu Konzessionen an den Zeitgeist bereit und höhlen damit die konsistente und rationale Risikodebatte aus. Ist dieses Experten-Dilemma zweiter Art also vor allem ein Problem von Dramatisierung und Profilierungssucht? Müßte es dann nicht einfach sein, Unredlichkeit nach wissenschaftsinternen Kriterien zu demaskieren? Die meisten Experten sind vertrauenswürdig; aber die wenigen, die es nicht sind, bestimmen das Bild. Vor der Öffentlichkeit – insbesondere in den Massenmedien, die Reflexion scheuen, Meinung und Information nicht säuberlich trennen und mit griffigen Schlagzeilen operieren – ist es viel einfacher, fünf gerade sein zu lassen, als jedes Wort aus wissenschaftlichen Skrupeln mehrfach umzudrehen, bevor ein Satz herauskommt. Das Ethos des Wissenschaftlers zieht nicht automatisch ein entsprechendes Ethos des Experten nach sich. Mit der Professionalisierung des Expertentums hat sich bislang keine ethische Fundierung entwickelt, die es an Verbindlichkeit mit der wissenschaftlichen aufnehmen könnte. Gesinnungsorientierte Experten verlieren vielleicht im Wissenschaftssystem an Reputation; dies wird aber nicht selten überkompensiert durch die Belohnung solch fragwürdiger Loyalität durch die Gesinnungsgemeinschaft. Ich gebe auch noch einmal zu bedenken, daß die Probleme unserer Zivilisation, die wir zu bewältigen haben, immer schwieriger werden. Dies hat mit der zunehmenden Komplexität der modernen Lebenswelt zu tun. Gravierende Fehlentscheidungen, fürchte ich, werden sich mit steigender Komplexität der Lebensumstände häufen, solange sich die streitenden Parteien nahezu beliebig auf interessengebundenen Sachverstand ihrer jeweiligen Experten berufen können. Wie verhält sich die Akademie für Technikfolgenabschätzung in dieser Situation? Kann sie Interessen, die hinter einem Gutachten stecken, erkennen und publik machen? Unsere Aufgabe ist es, nach wissenschaftlichen Standards und unbeirrt von äußeren Rücksichten herauszufinden, was der Fall ist, und dies nach außen zu bekennen. Es ist nicht unsere Aufgabe, jemanden bloßzustellen. Unser Ziel ist die Güte der Expertise. Deshalb müssen wir Mittel und Wege finden, das Gutachten-Dilemma erster Art aus der Welt zu schaffen. Dies scheint möglich, denn das Experten-Dilemma erster Art kann es ja definitionsgemäß nur in solchen wissenschaftlichen Bereichen geben, die beweisfähiges Wissen bieten. In den eher hermeneutischen Fächern, in denen es um das Verstehen und das Deuten von Sinnzusammenhängen geht, kann ich nicht erwarten, daß zwei Menschen zu genau den gleichen Resultaten kommen. Wenn in den Geistes- und Sozialwissenschaften zwei Leute unterschiedlicher Meinung sind, ist das kein Dilemma. Wie sieht es denn mit Konsequenzen Ihrer Politikberatung aus? Auch die Akademie ist, zum Beispiel mit ihrer Studie über die Wirkung des Ozons, der zufolge es keine Belege für eine kanzerogene Wirkung beim Menschen gibt, auf Unverständnis seitens der Politik und der Medien gestoßen. Das war ein echtes Gutachter-Dilemma erster und zweiter Art. Das Dilemma erster Art haben wir inzwischen sorgfältig aufgearbeitet; hier haben wir die Meta-Analyse angewendet. Wir haben die Literatur gesichtet und sind, von der ursprünglichen Expertenstudie völlig unabhängig, zu entsprechenden Ergebnissen gekommen, nämlich daß es keinerlei Belege für den Verdacht gibt, Ozon löse in umweltrelevanten Konzentrationen, also unter 300 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft, beim Menschen Krebs aus. Bringen Sie das aber einmal einem politisch voreingenommenen Publikum bei! Sollte sich dann nicht Ihrer Meinung nach die Politikberatung doch mehr als Meinungsbildner verstehen? Wenn wir in der Akademie für Technikfolgenabschätzung zum Beispiel merken, daß sich die Politik in eine Richtung bewegt, die von der wissenschaftlichen Erfahrung nicht mehr gedeckt ist, greifen wir mit entsprechenden Expertisen ein, unbeirrt von äußeren Rücksichten. Unsere Stellungnahmen zum Elektrosmog und zum troposphärischen Ozon gehören eben genau in diese Kategorie. Voraussetzung für eine proaktive Politikberatung ist eine entsprechende wissenschaftliche Absicherung. Ohne die Rückendeckung durch die jeweiligen Experten können wir nicht tätig werden. Wenn uns ernsthafte sachliche Fehler unterlaufen oder wenn wir argumentativ über unseren Horizont hinausgreifen, hört uns bald keiner mehr zu. Man hat Ihnen mehrfach vorgehalten, Sie würden bei umstrittenen Nutzungen moderner Technologien nicht genügend Verständnis für die Notwendigkeit eines öffentlichen Diskurses aufbringen und statt dessen die formalen Strukturen des politischen Systems vorschieben. Ich anerkenne durchaus die Auffassung, daß die formale Struktur des politischen Systems durch ein System informeller Institutionen ergänzt werden muß, zu dem vor allem auch die Öffentlichkeit als Arena politischer Entscheidungsvorbereitung gehört, aber ich lege Wert darauf, daß meine Präferenz zugunsten der verfassungsgemäß definierten Institutionen ebenfalls respektiert wird. Hinter meiner Loyalität gegenüber den formalen Strukturen des politischen Systems – im Klartext: gegenüber Verfassung, Recht und parlamentarischer Demokratie – steckt lehrreiche Lebenserfahrung: Ich habe es noch erlebt, wie man seinerzeit in aller Öffentlichkeit im Namen des Volkes die Demokratie abschaffte. Anspruchsvolle, neue Wege der Partizipation sollte man durchaus prüfen, zum Beispiel die von uns praktizierten Bürgerforen oder die sogenannte informierte öffentliche Debatte im Stil der in Dänemark und England neuerdings etablierten Konsensuskonferenzen. Aber die Bemühungen um angemessene Formen der Teilhabe informierter Laien können weder den Workshop der Experten noch die legitime politische Entscheidung ersetzen. Auf jeden Fall kann Partizipation nur auf der Basis von Information gelingen, und diese liefern letztlich die Experten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1996, Seite 37
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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