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SOCRATES und LEONARDO - Neuauflage der europäischen Bildungsprogramme

Um die Qualität der Aus- und Weiterbildung durch verstärkten europäischen Austausch und engere Zusammenarbeit zu verbessern, hat die Europäische Union (EU) ihre bisherigen Förderaktivitäten in zwei neuen Bildungsprogrammen zusammengefaßt und durch weitere Initiativen ergänzt. Damit soll die „europäische Dimension“ auch in den Sektor der allgemeinen und beruflichen Bildung hineingetragen werden.

Während die EU seit je die wirtschaftliche Entwicklung und die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa fördert, hat sich eine Zusammenarbeit in der Bildungspolitik nur zögerlich entwickelt. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), den die sechs Montanländer Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik im März 1957 unterzeichneten, bot nur geringe rechtliche Grundlagen für gemeinsame bildungsbezogene Maßnahmen. Er sah vor, "allgemeine Grundsätze" – freilich auf den Bereich der beruflichen Bildung beschränkt – aufzustellen, die der "Durchführung einer gemeinsamen Politik" und diese wiederum "einer harmonischen Entwicklung sowohl der einzelnen Volkswirtschaften als auch des gemeinsamen Marktes" dienen sollten.

Hinter dieser diffusen Vereinbarung verbarg sich die grundlegende Auffassung der EWG-Mitgliedstaaten, daß der Bildungsbereich ein genuiner Sektor der Bewahrung nationaler Zuständigkeiten und kultureller Vielfalt sei. Nachdem im April 1963 die "allgemeinen Grundsätze" schließlich verabschiedet wurden, kam es in der Folge dennoch zu manchen Auslegungsgegensätzen, die durch Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof geklärt werden mußten. Diese Institution entschied unter anderem, daß die Hochschulbildung weit überwiegend dem Bereich der beruflichen Bildung zuzuordnen sei (was der EU weitergehende Kompetenzen übertrug) und gemeinschaftliche Aktionsprogramme, wie sie erstmals 1976 begründet wurden, sowie andere Handlungsmöglichkeiten als Mittel zur Verwirklichung einer "gemeinsamen Politik" zulässig seien; die Entscheidung bestätigte aber auch, daß die "Bildungspolitik als solche" nicht zu den Materien gehöre, die der EWG-Vertrag in die Zuständigkeit der Gemeinschaft gegeben habe, und einzelne Programme lediglich "gemeinsame Informations- und Fördermaßnahmen" festlegen könnten, welche die Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit verpflichteten.

Erst mit der Ratifizierung des Vertrags über die Europäische Union (Vertrag von Maastricht) im Spätherbst 1993 wurden deren Tätigkeiten auf den Bereich der allgemeinen Bildung ausgeweitet und explizite rechtliche Grundlagen dafür geschaffen. Die Hochschulen, bis dahin der beruflichen Bildung zugeordnet, wurden zu einem eigenständigen Feld für Maßnahmen der EU. Zu den vertraglich fixierten bildungspolitischen Zielen und Zuständigkeiten der Union gehören nun unter anderem die Förderung der Mobilität von Studierenden und Lehrenden sowie der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Bildungseinrichtungen der Mitgliedsländer, die weiterhin die primäre Zuständigkeit für ihre Bildungspolitik behalten. Weil zudem 1994 die Laufzeit fast aller laufenden Aktionsprogramme endete und der Rat der EU dann über deren Weiterführung zu entscheiden hatte, wurden zugleich Überlegungen berücksichtigt, wie man die Programme rationalisieren und effizienter machen sowie bessere Synergieeffekte zwischen ihnen erzielen könne.

Auf Vorschlag des für Bildung zuständigen Kommissars Antonio Ruberti legte die EU-Kommission 1994 Entwürfe für zwei übergreifende Programme vor, die jeweils eine Anzahl der bisherigen Initiativen sowie neuer Pilotprojekte unter ihrem Dach vereinigen und in einigen Fällen neue Zuordnungen schaffen: Socrates faßt nun entsprechend Artikel 126 des Maastrichter Vertrags die unterschiedlichen Aktivitäten im Bereich der Hochschule und der allgemeinen schulischen Bildung zusammen, während Leonardo sich – wie in Artikel 127 festgelegt – auf die berufliche Bildung bezieht.


SOCRATES

Das nach dem griechischen Philosophen Sokrates (um 470 bis 399 vor Christus) benannte Programm wurde am 14. März 1995 vom Europäischen Parlament und vom EU-Ministerrat verabschiedet. Es führt die bewährten Austauschprogramme ERASMUS, das die Mobilität von Studierenden und Lehrenden förderte, und LINGUA (Aktion II), das der Förderung der Fremdsprachenkenntnisse diente, weiter und vereinigt sie mit weiteren Aktivitäten wie etwa dem Bildungsinformationsnetz der Gemeinschaft namens Eurydice (Bild 2). Das Programm gilt für alle 15 EU-Mitgliedstaaten sowie für Liechtenstein, Norwegen und Island im Rahmen des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum. Seine Laufzeit ist zunächst bis Ende 1999 befristet; für diesen Zeitraum stehen 850 Millionen ECU (etwa 1,5 Milliarden Mark) zur Verfügung.

Der größte Teil dieses Budgets entfällt auf die Hochschulbildung, das erste von drei Kapiteln, in die SOCRATES gegliedert ist. Dieses Kapitel behält den Namen ERASMUS bei und fördert wie dieses frühere Einzelprogramm insbesondere die Mobilität von Studierenden und Lehrenden, damit möglichst viele von ihnen einen Teil ihres Studiums beziehungsweise ihrer Lehrtätigkeit an einer Partnerhochschule im europäischen Ausland absolvieren können (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, November 1992, Seite 159); allerdings werden nach wie vor keine Stipendien, sondern nur Zuschüsse gewährt, mit denen die auslandsbedingten Mehrkosten abgedeckt werden sollen. Zugleich soll die Anerkennung von in einem Partnerland erbrachten Studien- und Prüfungsleistungen verbessert werden, indem das sogenannte European Credit Transfer System (ECTS) erweitert wird; langfristiges Ziel dieser Initiative ist, gemeinsame Studiengänge zu entwickeln, so daß entweder ein anerkannter Doppelabschluß oder die Absolvierung von größeren Teilen des Studiums an einer Gasthochschule im Ausland möglich wird.

Für die im früheren ERASMUS-Programm eingerichteten multilateralen Zusammenschlüsse von Fachbereichen an Hochschulen, die sogenannten Hochschulkooperationsprogramme (HKP), werden nun neue Prioritäten gesetzt. Vermehrt stehen hier Fördermittel zur Einführung einer "europäischen Dimension" in das Studienangebot der Hochschulen zur Verfügung, um auch diejenigen Studierenden zu erreichen, die nicht mobil sein können oder wollen. Diese Maßnahme greift Teile der Aktivitäten im Rahmen der erstmals im akademischen Jahr 1990/91 durchgeführten Aktion Jean Monnet auf, durch die Hochschulen bei der Entwicklung von Lehre und Forschung im Bereich der europäischen Integration unterstützt wurden. Anfängliche Überlegungen zur Einbeziehung der Aktion Jean Monnet in SOCRATES ließen sich aus Gründen der Zuständigkeit unterschiedlicher Generaldirektionen der EU-Kommission nicht verwirklichen.

Das zweite Kapitel von SOCRATES berücksichtigt erstmals eine europäische Zusammenarbeit in der Schulbildung. Das neue Programm Comenius enthält Fördermaßnahmen in den Bereichen der Vorschulerziehung sowie der Grundschul- und Sekundarschulbildung, wobei vorrangig Schulpartnerschaften, Fremdsprachenbildung sowie Chancengleichheitsmaßnahmen für Mädchen und für benachteiligte Kinder gefördert werden; auch ein Austausch im Rahmen der Mobilität von Lehrkräften und deren Weiterbildung werden unterstützt.

Das dritte Kapitel bezieht sich auf alle Stufen der Allgemein- und der Hochschulbildung. Es ist in drei Aktionen unterteilt, von denen die erste Fördermaßnahmen im Bereich des Fremdsprachenlehrens und -lernens (LINGUA) enthält, die zweite den Ausbau des flexiblen Lernens und des Fernunterrichts (open and distance learning, ODL) fördert und die dritte Mittel für den Austausch von Informationen und Erfahrungen (Eurydice), für Pilotprojekte zur Verbesserung der Qualität der Lehre und zu deren Evaluation sowie für den Austausch und die Kooperation von Bildungsfachleuten (ARION) zur Verfügung stellt. Im Rahmen der dritten Aktion werden zudem die Zusammenarbeit der nationalen Zentren zur Anerkennung akademischer Leistungen und Abschlüsse (National Academic Recognition Information Centres, NARIC) sowie die Einführung einer europäischen Dimension in die Erwachsenenbildung gefördert.


LEONARDO

Das zweite der beiden neuen übergreifenden Programme ist nach dem italienischen Künstler und Universalgelehrten Leonardo da Vinci (1452 bis 1519) benannt und bezieht sich auf den Bereich der beruflichen Bildung (Bild 3). Es umfaßt die bisherigen Einzelprogramme COMETT, FORCE, EUROTECNET, IRIS und PETRA sowie weitere auf den Bereich der beruflichen Aus- und Weiterbildung bezogene Maßnahmen. LEONARDO hat wie SOCRATES eine Laufzeit von fünf Jahren und wurde für diesen Zeitraum mit insgesamt 670 Millionen ECU (etwa 1,2 Milliarden Mark) ausgestattet.

Das von 1987 bis 1994 durchgeführte COMETT-Programm suchte die berufliche Aus- und Weiterbildung im Bereich der Technologie zu verbessern und förderte dazu Maßnahmen zur Kooperation zwischen Hochschulen und der Wirtschaft. Es wird nun im Rahmen von LEONARDO fortgesetzt, wobei allerdings die einzelnen Fördermaßnahmen neu zusammengefaßt und strukturiert sind. Die Zuordnung von COMETT zu LEONARDO läßt noch die Auslegung des Europäischen Gerichtshofes durchscheinen, der die Hochschulbildung zu Beginn der achtziger Jahre der beruflichen Bildung zugeordnet hatte, um damit eine Grundlage für entsprechende Fördermaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft in diesem Bereich zu schaffen.

Seitens der deutschen Akteure für die Abstimmung, Verwaltung und Durchführung der europäischen Bildungsprogramme ist zum Teil bedauert worden, daß die neue Generation der die Hochschulen betreffenden Programme nicht gänzlich im Rahmen von SOCRATES durchgeführt wird. Die Europäische Kommission hatte bei der Strukturierung der einzelnen Maßnahmen jedoch spezifische Rationalisierungsabsichten, die insbesondere im LEONARDO-Programm umgesetzt wurden. Zudem war die neue Struktur der EU-Förderprogramme im Bildungsbereich mit Vorschlägen für eine Verwaltungsreform der zuständigen Kommissionsdienststellen und eine neue Zuschneidung der Aufgabenteilung zwischen der Kommission und den technischen Unterstützungsbüros für die Programme verbunden.

Die ehemalige Task Force "Humanressourcen, allgemeine und berufliche Bildung, Jugend", die als Dienststelle der EU-Kommission für die allgemeinen bildungs- und jugendpolitischen Aufgaben zuständig war, ist zu einer neuen Generaldirektion (GD XXII) aufgewertet worden, die – verglichen mit der Task Force – eine verstärkte Zentralisierung der Kompetenzen und einen größeren Einfluß auf die Umsetzung der Programme beansprucht. So ist zum Beispiel das ERASMUS-Büro in Brüssel, an das früher die Einzelanträge gerichtet wurden, aufgelöst worden, und die Hochschulen müssen nunmehr im Rahmen der HKP, an denen sie beteiligt sind, nur noch einen einzigen Gesamtvertrag – den Hochschulvertrag – abschließen und diesen direkt bei der neuen Generaldirektion XXII einreichen. Inwieweit die Rationalisierungs- und Reformmaßnahmen den Anspruch auf nationale Zuständigkeit für Bildung nicht indirekt erodieren und zugleich eine verbesserte und rationellere Durchführung der Programme in den Mitgliedstaaten ermöglichen, muß die Praxis noch erweisen.

Allgemeine Beschreibungen der gesamten SOCRATES- und LEONARDOProgramme hat die EU jeweils in einem eigenen "Vademecum" zusammengefaßt; zu jedem Programmteil gibt es zusätzlich einen Leitfaden für Antragsteller, in dem sich nähere Informationen über die Antragsverfahren und die Auswahlkriterien befinden. Diese Unterlagen lassen sich auf elektronischem Wege vom Europa-Server der EU abrufen (http://www.cec.lu/en/comm/dg22/progr.html). Informationen erteilt auch das Akademische Auslandsamt der jeweiligen Hochschule. Unterlagen über das LEONARDO-Programm können zudem bei der in Deutschland federführenden Koordinationsstelle, dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), Fehrbelliner Platz 3, 10707 Berlin, angefordert werden.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1996, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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