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Sofia Kowalewskaja. Ein Leben für Mathematik und Emanzipation


Das Leben der Mathematikerin Sofia Kowalewskaja (1850 bis 1891) verlief außergewöhnlich. Sie war eine Frau, die ihrer Zeit voraus war und unter deren Verhältnissen besonders zu leiden hatte. Aufgewachsen in einer Familie des russischen Landadels, stieß sie mit ihren wissenschaftlichen Interessen auf zahlreiche Hindernisse, die ihr als Frau in den Weg gelegt wurden.

Um der väterlichen Gewalt zu entfliehen und überhaupt studieren zu können, ging sie eine Scheinehe mit Wladimir Kowalewskij ein. In Berlin nahm sie Privatstunden bei dem Mathematiker Karl Weierstraß (1815 bis 1897), weil Frauen nicht für alle Vorlesungen zugelassen waren. Sie promovierte 1874 in Göttingen als Externe – mit Auszeichnung. Zehn Jahre später wurde sie in Stockholm die erste Frau im Professorenrang, was der Dramatiker August Strindberg (1849 bis 1912) als "Ungeheuerlichkeit" bezeichnete. Ein Höhepunkt ihrer Karriere war Weihnachten 1889 die Verleihung des Prix Bordin, einer der höchsten Auszeichnungen, die in der Mathematik vergeben werden.

Mehr noch: Sie war auch literarisch tätig und galt als begabte Schriftstellerin. Stoff genug also für eine spannende Biographie und kritische Analyse.

Eben das ist aber den Autoren nicht gelungen. Wilderich Tuschmann, Mathematiker an der Universität Bochum, und Peter Hawig, Germanist und Studienrat in Recke (Westfalen), haben ohne Zweifel sehr gut recherchiert und eine Fülle von Material zusammengetragen. Warum kann ihr Werk trotzdem nicht überzeugen?

Die Autoren stehen ihrer Heldin zwiespältig gegenüber und übertragen diesen Zwiespalt auf den Leser. Nicht daß sie verpflichtet wären, von ihr begeistert zu sein; aber es fehlt ihnen sogar die Fähigkeit, sich in die Person Sofia Kowalewskajas hineinzuversetzen. Im letzten Kapitel fällt dies besonders auf: "Was ihr Leben insgesamt, und nicht nur ihre Mathematik, kennzeichnet, ist Bruchstückhaftigkeit... So wie ihr Leben abrupt endet mit noch nicht 41 Jahren, so hat das, was sie gewollt hat, den Charakter des Unvollendeten. Mathematisch bewegte sie sich immer im Orbit von Weierstraß, ihre Arbeiten sind... ,epigonal'. Sie bleibt erinnernswert als einer der bedeutenderen Weierstraß-Schüler. Literarisch ist sie in Ansätzen steckengeblieben. Vollgültig sind nur die ,Jugenderinnerungen'. Hätte man sie also nur als Mathematikerin oder nur als Literatin zu würdigen, so wäre diese Biographie kaum geschrieben worden. Als gesellschaftliche Vorkämpferin... ist sie ebenfalls nicht anzusprechen" (Seite 145).

So scheint also der wesentliche Anlaß für diese Biographie Sofia Kowalewskajas Vielseitigkeit zu sein. Genau diese aber ist den Autoren unverständlich oder wird von ihnen gar als Schwäche ausgelegt: "Die Wandlungsfähigkeit Kowalewskajas – oder besser gesagt: ihre Vielgesichtigkeit – bleibt erstaunlich. Ihr ganzes Leben wird von diesen Wechselbädern durchzogen sein. Mit der gleichen Konsequenz wird sie später Gesellschaftsdame sein, Ehefrau und Mutter, Geschäftsfrau und wieder Wissenschaftlerin – und jedesmal meint man, eine andere Person vor sich zu haben" (Seite 48). "Sie wollte immer mehreres auf einmal, und so erreichte sie auf all ihren Betätigungsfeldern nie das, was sie hätte erreichen können, würde sie sich für eines entschieden haben" (Seite 145). "Gerade weil sie nicht das erreichte, was sie hätte erreichen können, erlangt ihr Fall symptomatischen und paradigmatischen Rang und hätte schon ob seiner Tragik ein Anrecht auf respektvolle Rückschau" (Seite 147).

Merkwürdig; denn gleichzeitig geht aus vielen Beschreibungen in der Biographie hervor, daß der "tragische Fall" zu Lebzeiten eine berühmte, anerkannte und sehr geschätzte Persönlichkeit war. Ihrem schwierigen Lebensweg zum Trotz war sie durchaus keine Randfigur – im Gegenteil, sie nahm rege und temperamentvoll am öffentlichen Leben teil, wie auch noch ausgiebig im Buch selbst belegt ist.

Wenn es denn nun um den "Fall Kowalewskaja" geht, so hätte man besser die soziale Situation der Frauen ihrer Zeit, die wie sie ihren Platz in Wissenschaft und Gesellschaft zu erobern versuchten, dargestellt und analysiert. Das war aber wohl nicht die Absicht der Autoren. Warum haben sie sich dann überhaupt diese Frau für eine Biographie ausgesucht?

Die Darstellung des mathematischen Teils ist ebenfalls zwiespältig. Tuschmann und Hawig stellen die Arbeiten Sofia Kowalewskajas selbst zwar sehr interessant und anschaulich dar; ihre Vielseitigkeit innerhalb der Mathematik beurteilen sie jedoch sehr negativ. Nach ihrer Auffassung gehört die Gründung einer wissenschaftlichen Schule in einem Fachgebiet zu den Merkmalen des besseren Wissenschaftlers. Das hat Sofia Kowalewskaja nicht getan. Auch gehörte sie nicht zu den wenigen Titanen ihres Fachs. In ihrer Blickverengung auf die großen Meister verkennen Tuschmann und Hawig jedoch, welchen bedeutenden Beitrag Wissenschaftler leisten, die – wie ihre Protagonistin - über den Tellerrand ihres Fachgebietes hinausschauen. Diese Offenheit ist in jeder Wissenschaft dringend notwendig, wird aber von den Autoren geringgeschätzt: "Ihr Talent verwandte sie nicht ausschließlich auf Fragestellungen einer bestimmten Disziplin, sondern eine Vielzahl von Einzelphänomenen, die aus den verschiedensten Gebieten stammten: partielle Differentialgleichungen, Saturnringe, Lamégleichungen, Kreiselproblem. Mit diesem ,Stückwerk' ließ sich keine Schule gründen, was sie ansonsten in Stockholm vielleicht vermocht hätte."

Immerhin kommen die Biographen nicht daran vorbei, daß sie "trotzdem" bedeutende Resultate geliefert hat: "Das Cauchy-Kowalewskaja-Theorem ist heute noch zentral für die Theorie (analytischer) partieller Differentialgleichungen" (Seite 140).

Für ihre anderen Schaffensbereiche und ihr Privatleben fällt das Urteil der Biographen ähnlich aus. Aber genau diese so abgewerteten Eigenschaften haben die Persönlichkeit Sofia Kowalewskajas ausgemacht und sie zu ihren Lebzeiten so berühmt und beliebt gemacht.

Warum dieser Zwiespalt? Es scheint, als stünden die Biographen der Modernität Sofia Kowalewskajas selbst in heutiger Zeit noch hilflos gegenüber.

Das ist schade, denn die zahlreichen interessanten Informationen, die in diesem Buch stecken, werden durch die unglückliche Darstellung überdeckt. So hat mich zum Beispiel dieses Buch dazu bewegt, Sofia Kowalewskajas "Jugenderinnerungen" zu lesen, die ich jedem (wie es auch Tuschmann und Hawig tun) nur empfehlen kann.

Leider haben die Autoren aber in dem Bemühen um Objektivität die Inhalte ihres eigenen Buches totrelativiert und Widersprüche erzeugt. Das letzte Kapitel ist überschrieben: "Was bleibt?" Nichts, hat man den Eindruck. Und das war sicherlich nicht ihre Absicht.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1994, Seite 137
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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