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Spezialisten für kostenlose Mahlzeiten

Beim Erschließen von Nährstoffquellen scheint der Erfindungs-reichtum des Lebens unbegrenzt. So können neu entdeckte Bakterien Erdöl-Kohlenwasserstoffe zu Methangas abbauen oder von Stickstoffverbindungen in Abwässern leben.

In Meeren, Seen oder Sümpfen sinkt unablässig totes organisches Material in die Tiefe und lagert sich am Boden ab. Es bildet die Nahrungsgrundlage für zahllose Bakterien im Wasser und in den Sedimenten. Beim Abbau der toten Biomasse brauchen aerobe, also auf Sauerstoff angewiesene Mikroben dieses Gas allmählich auf. In tieferen Gewässerzonen und erst recht in den organischen Ablagerungen am Boden dominieren deshalb anaerobe Bakterien, die ihr Zersetzungswerk ohne Sauerstoff verrichten. Es sind zunächst solche, die Nitrat, dreiwertiges Eisen oder Sulfat als Oxidationsmittel verwenden. Wenn auch diese Substanzen schließlich aufgebraucht sind, führt der biologische Abbau zu Methan (CH4), das als "Sumpfgas" aus dem sauerstoffarmen Untergrund von Teichen und Sümpfen in Blasen aufsteigt (Bild auf Seite 12).

Wie anaerobe Bakterien aus leicht abbaubaren Biomolekülen – Kohlenhydraten, Proteinen und Lipiden – Methan erzeugen, ist weitgehend aufgeklärt. Dass bestimmte Mikroben auch reine Kohlenwasserstoffe zu Methan zersetzen können, wurde dagegen erst in den letzten zehn Jahren erkannt. Diese Verbindungen sind unter Luftausschluss nämlich sehr stabil, was unter anderem erklärt, warum sie sich in den fossilen Erdöllagerstätten über Hunderte von Jahrmillionen erhalten haben. Allerdings dachte man bis vor kurzem, dass der anaerobe Abbau auf ungesättigte Kohlenwasserstoffe sowie auf Benzol und seine Abkömmlinge (Monoaromaten) beschränkt sei. Gesättigte langkettige Vertreter dieser Stoffklasse (Paraffine) wie beispielsweise Hexadecane (C14H34) galten unter anaeroben Bedingungen als unzerstörbar. Es handelt sich um die langlebigsten Verbindungen in sehr alten, sauerstofffreien Sedimenten – und eben auch in den tief liegenden Erdöllagerstätten.

Abbau von Kohlenwasserstoffen durch Bakterien

Doch jetzt haben Karsten Zengler, Ramon Rosselló-Mora und Friedrich Widdel am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen sowie Hans Richnow und Walter Michaelis an der Universität Hamburg nachgewiesen, dass auch Hexa- und Pentadecane durch Mikroorganismen unter Ausschluss von Sauerstoff abgebaut werden (Nature, Bd. 401, S. 266–269). Als Endprodukte entstehen Methan und Kohlendioxid. Dieser Abbauprozess verläuft allerdings äußerst langsam. Deshalb wurden die beteiligten Mikroorganismen in der Vergangenheit übersehen. Im Labor dauerte es vier Monate, bis sich die ersten Spuren von Methan im Gefäß mit der Bakterienkultur zeigten. Erst nach etwa zwei Jahren war so viel Gas entstanden, dass alle ablaufenden Reaktionen genau bestimmt werden konnten.

Wie Karsten Zengler und seine Kollegen herausfanden, ist gleich ein ganzes Team von verschiedenen anaeroben Mikroorganismen an der Zersetzung von Hexadecanen in sauerstofffreien Sedimenten beteiligt. Eine solche Arbeitsteilung ist bei bakteriellen Prozessen nicht ungewöhnlich; freilich erleichtert sie die Erforschung der ablaufenden Reaktionen nicht gerade. Die hanseatischen Wissenschaftler konnten drei Gruppen von Mikroorganismen identifizieren, die an dem Prozess mitwirken:

- Bakterien, die Hexadecan zu Essigsäure und Wasserstoff abbauen,

- eine Gruppe von Archaea (früher den Bakterien zugerechnete urtümliche Mikroben), die Essigsäure in Methan und Kohlendioxid spalten, sowie

- eine weitere Gruppe von Archaea, die schließlich Kohlendioxid und Wasserstoff in Methan und Wasser umwandeln.

Alle genannten Einzelreaktionen liefern Energie, die von den Mikroorganismen für Stoffwechsel, Wachstum und Vermehrung genutzt wird. Allerdings sind die essigsäurebildenden Bakterien auf die methanbildenden Archaea angewiesen. Sie können das Hexadecan nämlich nur dann zersetzen, wenn die Abbauprodukte Wasserstoff und Kohlendioxid durch die Methanbildner ständig entfernt werden, so dass ihre Konzentration sehr niedrig bleibt.

Wahrscheinlich sind Bakteriengemeinschaften, wie sie Karsten Zengler und Kollegen entdeckt haben, mit dafür verantwortlich, dass Erdöllagerstätten meist auch größere Mengen Erdgas – hauptsächlich Methan – enthalten.

Tatsächlich scheint es kaum eine natürlich vorkommende Stoffgruppe oder chemische Reaktion zu geben, die sich Bakterien nicht zu Nutze gemacht haben, wenn sie daraus nur eine Winzigkeit an Energie gewinnen können. Das dahinter stehende Evolutionsprinzip lässt sich mit einer Abwandlung der englischen Redewendung "There is no free lunch" ("Es gibt keine kostenlose Mahlzeit" im Sinne von "Niemandem wird etwas geschenkt") salopp so ausdrücken: Wenn es irgendwo eine kostenlose Mahlzeit gibt, und sei sie noch so schwer verdaulich, findet sich auch immer jemand, der sie verspeist.

Ein weiteres Beispiel dafür haben jüngst zwei Forschergruppen an der Technischen Universität Delft und am Niederländischen Institut für Meeresforschung in Den Burg entdeckt. Sie suchten nach Möglichkeiten, aus Abwässern, die praktisch keinen Sauerstoff mehr enthalten, den Schadstoff Ammonium (NH4+) biologisch zu entfernen (Nature, Bd. 400, S. 446–449). Er fällt in großen Mengen bei der Zersetzung stickstoffhaltiger organischer Verbindungen an. In vielen dicht besiedelten Ländern mit intensiver Landwirtschaft sind hohe Ammonium-Emissionen ein ernstes Umweltproblem.

Verbesserte Möglichkeiten zur Abwasserreinigung

Die holländischen Forscher entwickelten nun einen neuartigen Prozess, bei dem Bakterien den Schadstoff mit Nitrit (NO2–) unter Sauerstoffausschluss direkt zu gasförmigem Stickstoff (N2) und Wasser umsetzen. Diese so genannte Anammox-Reaktion könnte sich als großer Fortschritt in der Abwasserbiotechnologie herausstellen.

Bisher schien es, dass Organismen, die Nitrit zur anaeroben Oxidation von Ammonium verwenden, in der Natur nicht vorkommen; denn noch nie konnte ein Forscher ein solches Lebewesen isolieren und in reiner Form kultivieren. Auch die holländischen Wissenschaftler haben es bisher nicht fertig gebracht, aus Einzelzellen eine absolut reine Kultur zu züchten, deren Mikroben zur Anammox-Reaktion fähig sind. Für ihren Abwasserreinigungsprozess verwenden sie deshalb eine Mischkultur mit einer größeren Zahl verschiedener Mikroben-Arten, in der jedoch der Anammox-Organismus stark angereichert ist. Außerdem konnten sie einige Eigenschaften dieses geheimnisvollen Bakteriums ermitteln.

Dabei zeigte sich Überraschendes. Die Anammox-Mikrobe scheint zu den Planktomyceten zu gehören, einer der großen Sondergruppen innerhalb der Bakterien, deren Vertreter durch eine ungewöhnliche Kombination von Eigenschaften aus verschiedenen Organismenreichen auffallen. So vermehren sie sich durch Knospung (wie einige Hefen), im Zellinneren scheinen Membranen verschiedene Kompartimente voneinander abzugrenzen (was an hoch entwickelte tierische und pflanzliche Zellen erinnert), und die Zellwände enthalten vermutlich nicht das stickstoffhaltige Murein, weshalb Planktomyceten resistent gegen das Antibiotikum Ampicillin sind (darin gleichen sie den Archaea).

In seinem Stoffwechsel unterscheidet sich das Anammox-Bakterium allerdings deutlich von anderen bekannten Planktomyceten. So beziehen diese ihre Energie aus der Oxidation organischer Substanzen. Dagegen sind Ammonium und Nitrit, von denen das Anammox-Bakterium lebt, anorganische Verbindungen. Außerdem hängen die Planktomyceten – mit einer Ausnahme – von Sauerstoff ab, sind also aerob. Und noch etwas hat das Anammox-Bakterium seinen Verwandten voraus: Es kann (wie Pflanzen) Kohlendioxid zum Aufbau zelleigener Kohlenhydrate verwenden, wogegen die anderen Planktomyceten organische Verbindungen aufnehmen müssen.

Die Spezialisierung auf eine besonders schwer verdauliche kostenlose Mahlzeit scheint allerdings ihren Preis zu haben. Das Anammox-Bakterium wächst extrem langsam: Es teilt sich nur einmal in zwei Wochen. Dies ist einer der Gründe, warum seine reine Kultivierung im Labor solche Schwierigkeiten bereitet.

Ein noch extremeres Beispiel, was alles für eine kostenlose Mahlzeit herhalten kann, haben schon vor eineinhalb Jahren Jan P. Amend und Everett L. Shock von der Washington University in St. Louis beschrieben (Science, Bd. 281, S. 1659). Die beiden Forscher untersuchten den Stoffwechsel von marinen Bakterien wie Methanococcus jannaschii, die in der Umgebung von heißen Quellen in der Tiefsee leben. Wie sie herausfanden, schaffen es diese exotischen Organismen, aus der wahrhaft höllischen Mixtur von Wasserstoff, Ammoniak, Kohlendioxid und Schwefelwasserstoff, die an den Quellen aus dem Meeresboden dringt, nicht nur die Aminosäure Methionin zu synthetisieren, sondern dabei auch noch Energie zu gewinnen. Alle anderen Lebewesen, die ihre eigenen Aminosäuren herstellen können, brauchen dazu Energie, die sie durch ihren Stoffwechsel erzeugen müssen.

Derlei ungewöhnliche Organismen überraschen nicht nur durch ihre schier unbegrenzte Anpassungsfähigkeit, sondern bieten auch eine breite Palette von Reaktionsmöglichkeiten, die der Mensch vielleicht kopieren oder gentechnisch nutzen kann.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2000, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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