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Sprachen die Neantertaler Englisch? Eine Reise durch die Welt der Sprachen


Der 1992 verstorbene freie Journalist Günter Linde und Hans-Gert Kramer, bis zur Wende wissenschaftlicher Mitarbeiter des DDR-Rundfunks und seither Marktforscher, haben ein flott aufgemachtes Buch geschrieben, das – so der Klappentext – "unterhaltsam und faktenreich Sprach- und Kulturgeschichtliches illustriert". Recht so; jeder Sprachwissenschaftler kann es nur begrüßen, wenn bei einem breiteren Publikum Interesse für sein Forschungsgebiet geweckt wird, und keiner wird eine solche Veröffentlichung mit denselben Maßstäben messen wollen wie eine Abhandlung für Fachkollegen: Vereinfachungen, Verkürzungen und eine locker-anekdotische Darstellung sind durchaus erlaubt.

Dennoch sollte ein gewisses Niveau nicht unterschritten werden. Es ist unterschritten worden. Schlimmer noch: Es gibt kein Niveau, das nicht unterschritten worden ist.

Namen werden häufig falsch geschrieben: Der interessierte Leser wird Pankrit (Seite 237) sowie die Herren Veringetorix (216) und Cassidor (140) vergebens im Lexikon suchen; mit Prakrit, Vercingetorix und Cassiodor dürfte er mehr Glück haben.

Leider wird auch mit sprachlichen Fakten – in einem Buch über Sprachen! – so sorglos umgegangen. Nun mag zwar exzessive Anwendung von Zusatzzeichen abschreckend wirken, und so will ich nicht darauf beharren, daß man die Rekonstruktion des indogermanischen Wortes für "zehn" aus guten Gründen *de«km., nicht *dekm (Seite 91) schreiben sollte. Doch ist es wirklich zuviel verlangt, echte, nicht rekonstruierte Wörter aus anderen Sprachen halbwegs korrekt wiederzugeben? Das lateinische Wort für "Minze" lautet ment(h)a, nicht menthal (Seite 123), das altindische Wort für "Vater" pit¯a, nicht pitä (Seite 88), das gotische für "Teufel" diabaúlus, nicht diabulus (Seite 46), das griechische für "verkaufen" p¯olé¯o, nicht peleo (Seite 113). Überhaupt sollte man griechische Wörter auch in der Umschrift ihres Akzents nicht berauben; die Verfasser setzen ihn willkürlich bald gar nicht, bald falsch. Es handelt sich bei all dem nicht um vom pedantischen Kritikaster herausgeklaubte Einzelfälle – nein, solche Patzer finden sich allüberall.

Doch auch darüber könnte man noch großzügig hinwegsehen. Aber die Mängelliste fängt jetzt erst an: Fehlinformationen in großer Zahl, eine gröber als die andere! Von der Heerschar an Schnitzern, die mir bereits bei der ersten Lektüre ins Auge fielen, hier nur ein paar zur Illustration. Das Wort boûs für "Rind" ist nicht etwa skythisch, sondern ganz normales Griechisch (Seite 306). Tocharisch wird nicht in der Schrift der Brahmanen geschrieben, sondern in einem bestimmten Schrifttyp, der sich Br¯ahm¯› nennt (Seite 306). Krimgotische Inschriften hätten wir wohl gern, aber so gnädig war das Schicksal nicht (Seite 96). Auf Seite 101 werden angeblich alle Dialektgruppen des Altgriechischen aufgezählt, jedoch zwei vergessen, nämlich das Arkadisch-Kyprische und das in der Silbenschrift Linear B verfaßte Mykenische, dessen Entschlüsselung im Jahre 1953 getrost als Jahrhundertsensation bezeichnet werden darf. Auch blieb den "nichtattischen Dialekten die Entwicklung zur Schriftsprache" keineswegs "versagt" (Seite 103) – die Verfasser nennen ja selbst eine Seite vorher Chorlieder in dorischem und medizinische Fachliteratur in ionischem Dialekt!

Legende und Geschichte werden unbekümmert zusammengeworfen; ob Homer blind, taub oder glatzköpfig war, entzieht sich unserer Kenntnis. Übrigens sind die homerischen Epen nicht einfach auf Ionisch verfaßt (Seite 101), sondern in einer komplexen Kunstsprache, die der Forschung viele Rätsel aufgegeben hat. Iason und die Argonautenfahrt nach Kolchis am Schwarzen Meer sind ein Mythos, hinter dem wohl ein geschichtliches Faktum stehen mag; es hat aber mit Sicherheit nicht im 5. Jahrhundert vor Christus stattgefunden (Seite 97), da uns bereits der Dichter Pindar (Blütezeit: um 480 vor Christus) davon berichtet – als von einem Ereignis aus grauer Vorzeit.

Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Besonders bestürzend dabei ist, daß in den meisten Fällen ein Blick in ein Nachschlagewerk genügt hätte, um derart peinliche Pannen zu vermeiden.

Da wundert es denn auch nicht weiter, wenn man auf Schritt und Tritt Formulierungen begegnet, die mit aller wünschenswerten Klarheit offenbaren, daß die Verfasser nicht einmal die einfachsten Grundkonzepte der Sprachwissenschaft verstanden haben. Auf Seite 89 behaupten sie, aus einem griechischen d sei ein deutsches z geworden; so lautet das Wort für die Zahl 2 griechisch d´yo, deutsch zwei. Nein – Deutsch stammt eben nicht vom Griechischen ab, sondern beide gehen auf das Indogermanische zurück; und die Erkenntnis, daß keine der belegten indogermanischen Sprachen die Mutter aller anderen ist, markiert die Geburtsstunde der indogermanischen Sprachwissenschaft.

Ein Student dieses Faches lernt im ersten Semester, daß Sprache und Schrift sorgsam auseinandergehalten werden müssen. Wenn das französische Wort für Kirche, église, ins Baskische gewandert ist und dort eliza heißt (falls das stimmt – in diesem Buch kann man sich ja auf nichts verlassen), wurden nicht "Buchstaben verwechselt" (Seite 236), sondern die Sprecher haben versucht, das Wort in das Lautsystem der baskischen Sprache, das eben nicht mit dem französischen identisch ist, einzupassen. Es schmerzt, diesen kreativen und in der Sprachgeschichte allgegenwärtigen Prozeß der Übernahme und Einschmelzung fremden Sprachgutes, über den die Lehnwort- und Sprachkontaktforschung so viel Spannendes herausgefunden hat und noch herausfinden wird, als bloße Nachlässigkeit abgetan zu sehen.

Ich belasse es bei diesen zwei Beispielen. Es sind weder die einzigen noch die schlimmsten.

Kramer und Linde haben ohne auch nur einigermaßen adäquate Sachkenntnis ein Buch verfaßt. Ein leichtsinniger Lektor hat es, ohne sich der Qualifikation seiner Autoren zu vergewissern, veröffentlicht. So weit, so schlecht. Vollmundig verspricht es uns Fakten und Unterhaltung, also Nutzen und Vergnügen. Statt der Fakten werden halbe Wahrheiten und ganze Unwahrheiten serviert, reichlich garniert mit Schlampigkeiten und Schludrigkeiten. Lohnt es sich da noch, nach der Unterhaltung zu fragen? Thomas Mann hat einmal gesagt: Nur das Gründliche ist wahrhaft unterhaltend. Wie wahr.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1994, Seite 131
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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