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Bildartikel: Stabilität für den Campanile von Pisa

Der krumme und gefährlich geneigte, aber weltberühmte Glockenturm bereitete schon kurz nach der Fundamentierung im 12. Jahrhundert Schwierigkeiten. Moderne Ingenieurtechniken sollen nun das Wahrzeichen der toskanischen Universitäts- und Provinzhauptstadt vor dem Einsturz bewahren und für lange Zeit sichern.

Campo dei Miracoli – Feld der Wunder – nennt man allgemein den Platz im Norwesten Pisas, der alljährlich Abertausende von Reisenden anzieht. Auf einer ausgedehnten Wiese steht dort das von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärte Ensemble aus Dom, Campanile, Baptisterium und Campo Santo (dem Friedhof mit Jerusalemer Erde), errichtet während der Blütezeit der ehemals mächtigen Seerepublik vom 11. bis zum 14. Jahrhundert. Bei diesen Bauten aus vorwiegend weißem Marmor integrierten Architekten und Steinmetze klassische, orientalische und lombardische Elemente zu einem spätromanisch-gotischen Stil, der weithin in Oberitalien maßgeblich wurde.

Insbesondere der schiefstehende Campanile – der Glockenturm – wurde zum Wahrzeichen der Stadt. Einer Wissenschaftslegende zufolge stellte der in Pisa geborene Physiker und Astronom Galileo Galilei (1564 bis 1642) dort seine Versuche zum freien Fall an, obgleich er die Theorie erst als Mathematik-Professor in Padua entwickelte. Tatsächlich stand der achtstöckige gemauerte Zylinder, dessen Erdgeschoß und Glockenraum Blendarkaden und dessen übrige Etagen Säulengalerien schmücken, niemals aufrecht: Schon kurz nach Baubeginn im Jahre 1173 setzte sich das Fundament ungleichmäßig, und zwar kippte es leicht nach Norden. Die Arbeiten wurden deshalb für fast hundert Jahre unterbrochen. Doch auch in der zweiten Bauphase senkte sich die Basis, diesmal zur anderen Seite, so daß der Turm seit 1272 sichtlich nach Süden geneigt ist – die Abweichung der Spitze von der Senkrechten beträgt derzeit 5,227 Meter.

Architekten und Ingenieure haben immer wieder versucht, das Monument zu stabilisieren. Doch vergebens: Die seit 1911 regelmäßig durchgeführten Kontrollmessungen belegen, daß seine Neigung ziemlich beständig um etwa 1,2 Millimeter pro Jahr zunahm. Als der ähnlich konstruierte Glockenturm des Doms zu Pavia 1989 plötzlich einstürzte, ließ sich die Besorgnis nicht mehr verdrängen; kurz danach wurde der Turm von Pisa für Besucher geschlossen.

Im folgenden Jahr bildete die italienische Regierung eine Sonderkommission aus einheimischen und ausländischen Bau- und Geotechnikern, Kunstgeschichtlern und Restauratoren, um neue Rettungsverfahren festzulegen. Die Mitglieder des Consorzio Progetto Torre di Pisa (des Turm-von-Pisa-Projektkonsortiums), dem ich angehöre, haben bereits einige Erfahrung darin, Bauwerke auf nachgiebigem Grund zu sichern und wieder aufzurichten.

Zunächst konzentrierten wir uns auf das architektonische Gebilde selbst, um ein Auseinanderbrechen zu verhindern. In den kommenden Monaten wollen wir das Fundament mit weitergehenden Maßnahmen im Untergrund auf Dauer verankern und stützen. Derzeit unternehmen wir dazu – freilich in sicherer Entfernung von dem Monument – entsprechende Großfeldversuche.

Unser Ziel ist nicht etwa, den Campanile zu begradigen. Da man in allen Bauphasen versucht hat, die Neigungen in verschiedene Richtungen auszugleichen, ist er nämlich in sich gekrümmt wie eine Banane. Es geht vielmehr darum, seine Spitze wieder um 10 bis 20 Zentimeter nach Norden zu bewegen, um die Statik generell zu verbessern. Mit ein wenig Glück dürfte Pisas Wahrzeichen dann bis in das nächste Jahrhundert erhalten bleiben, so daß sich eine neue Generation von Wissenschaftlern dem 800 Jahre alten Problem widmen kann.

Literaturhinweise

Die alten Stiche unter den Abbildungen entstammen dem Werk "Architecture of the Middle Ages in Italy: Illustrated by Views, Plans, Elevations, Sections, and Details, of the Cathedral, Baptistery, Leaning tower or Campanile, and Campo santo at Pisa: From Drawings and Measurements Taken in the Year 1817" von Edward Cresy und Georg L. Taylor, London 1829. Das Buch wurde freundlicherweise von der Avery Architectural and Fine Arts Library der Columbia-Universität in New York zur Verfügung gestellt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1996, Seite 82
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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