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Stärken und Schwächen der deutschen Materialforschung

Moderne Werkstoffe – für die jeweilige Anwendung gleichsam maßgeschneidert – sind die Basis für vielfältige Produktinnovationen. Deutschland ist in den Materialwissenschaften zwar eines der führenden Länder, doch droht es bei neueren Entwicklungen den Anschluß an die internationale Spitzengruppe zu verlieren. Der Wissenschaftsrat hat die Gründe dafür analysiert und präsentiert nun eine Reihe von Empfehlungen zur Abhilfe.

Dreimal in letzter Zeit hat der Wissenschaftsrat zur materialwissenschaftlichen Forschung in Deutschland Stellung bezogen: Im Jahre 1993 gab er den Hochschulen Empfehlungen zur Forschung und Lehre auf diesem Gebiet, 1994 regte er an, das saarländische Institut für Neue Materialien im Rahmen der "Blauen Liste" vom Land und vom Bund gemeinsam zu fördern, und am 19. Januar 1996 schließlich verabschiedete er eine Stellungnahme zur Materialwissenschaft in außeruniversitären Einrichtungen. Mit dieser neuerlichen Publikation legt der Wissenschaftsrat eine umfassende Beschreibung dieser Disziplin vor und führt zugleich die Reihe der Querschnitts-Evaluationen aktueller großer Wissenschaftsbereiche weiter, die er 1994 mit der Umweltforschung begann und mit der Energieforschung fortsetzen will (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1994, Seite 124).

Das Bundesforschungsministerium hat die Materialwissenschaften zunächst in einer 1985 begonnenen zehnjährigen Förderungsphase mit mehr als einer Milliarde Mark unterstützt. Seit 1994 läuft das Regierungsprogramm "Neue Materialien für Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts – MaTech", das für die Projektförderung jährlich mehr als 130 Millionen Mark zur Verfügung stellt. Hinzu kommen ungefähr 145 Millionen Mark jährlich für die Förderung von Forschungseinrichtungen. Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt viele Vorhaben – insbesondere an den Universitäten. In ihren eigenen Instituten engagieren sich zudem die Max-Planck-Gesellschaft (MPG), die Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF), die Wissenschaftsgemeinschaft Blaue Liste (WBL), die Fraunhofer-Gesellschaft (FhG), einige Bundes- und Landeseinrichtungen sowie wirtschaftsnahe Institute.

Es mangelt der Materialforschung in Deutschland also nicht an Geld. Sie hat aber – wie der Wissenschaftsrat feststellt – wesentliche strukturelle Schwächen, so daß die Bundesrepublik im internationalen Vergleich nicht mehr wie früher eine Spitzenposition einnimmt.


Defizite

Die Stellungnahme des Wissenschaftsrates gliedert sich in drei Teile. Allgemeinen Darstellungen von Potential und Entwicklungsdynamik neuer Materialien sowie ihrer volkswirtschaftlichen und ökologischen Bedeutung folgen in Teil A inhaltliche Einzelanalysen und Empfehlungen zu Struktur- und Funktionswerkstoffen (Metallen, Keramiken, Polymeren, Verbundwerkstoffen und Halbleitern) sowie zu bioverträglichen Materialien, des weiteren zum Problem von Theorie und Simulation. Den strukturellen Aspekten, also dem institutionellen Gefüge, der Finanzierung und dem Transfer in die Anwendung, ist Teil B gewidmet. In Teil C werden sieben Institute der MPG, zehn der FhG, sechs der WBL, fünf Großforschungseinrichtungen der HGF, ein Bundes-, vier Landes- und ein Wirtschaftsinstitut detailliert vorgestellt und Empfehlungen für ihre Entwicklung ausgesprochen.

Ein Manko der Materialwissenschaft ist, daß sie zwar eine zentrale Rolle für zukunftsorientierte Technologien spielt, dies aber der Öffentlichkeit kaum bewußt ist. Das mag daher rühren, daß die Werkstoffe selbst einen eher marginalen finanziellen Wert haben im Vergleich zu den Produkt- und Systeminnovationen, die aus ihnen, aber nicht ohne sie entstehen können – etwa leistungsfähigere Computer, Fahrzeuge in Leichtbauweise, medizinische Implantate und hochtemperaturbeständige Bauteile. Auf Hochleistungswerkstoffen, mit denen 1990 schätzungsweise acht Milliarden Mark umgesetzt wurden, baut ein gewaltiger Markt von Halbzeugen und Bauteilen mit einem jährlichen Umsatz von 65 Milliarden Mark auf; und während auf das Basismaterial Silicium fünf Milliarden Mark pro Jahr entfallen, setzt die darauf beruhende Mikroelektronikindustrie im gleichen Zeitraum das Zwanzigfache um. Der Wissenschaftsrat fordert deshalb, "Forschungs- und Entwicklungsketten von der ersten experimentellen Synthese neuer Materialien über ihre Verwendung im Bauteil bis hin zur Wiederverwertung" zu optimieren. Dieser Systemgedanke werde in der Materialforschung und -entwicklung noch nicht hinreichend berücksichtigt. Weil dessen Verwirklichung langwierig und risikoreich sei, müsse diese Forschung langfristig staatlich gefördert werden.

Die den Materialwissenschaften eigene Interdisziplinarität erfordert dem Wissenschaftsrat zufolge eine noch stärkere Zusammenarbeit von Natur- und Ingenieurwissenschaften. Die geringe Vernetzung von Forschung und Industrie müsse mittels Leit- und Verbundprojekten verbessert werden. Auch in den Unternehmen selbst sieht der Wissenschaftsrat erhebliche Defizite: Sie seien immer weniger bereit, Vorhaben mit "visionären" Zielen anzupacken. Zudem gebe es kaum branchenübergreifende Kooperationen.

Bewertung und Empfehlungen

Drei allgemeine strukturelle Empfehlungen sollen die Entwicklung der Materialwissenschaft in Deutschland zu einer eigenen Disziplin begünstigen. Eine noch zu gründende Fachgesellschaft soll diejenigen Wissenschaftler in einem zentralen Dachverband vereinen, die solch unterschiedliche Stoffklassen wie Metalle, Keramiken, Polymere und Halbleiter untersuchen. Des weiteren müßte insbesondere an den Universitäten das Patentbewußtsein gestärkt werden, etwa indem ein Ausgleich geschaffen wird zwischen dem Interesse eines Wissenschaftlers, seine Forschungsergebnisse zu publizieren, und dem des Unternehmens, mit dem er im Verbund zusammenarbeitet, eben diese Resultate aus kommerziellen Gründen noch nicht bekanntzugeben – was übrigens nicht nur auf die Materialwissenschaft beschränkt ist, sondern für alle natur- und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen gilt. Ferner soll ein möglichst bei der geforderten Fachgesellschaft angesiedelter Beirat für Materialforschung dazu beitragen, die in den einzelnen Bereichen und Instituten festgestellten strukturellen Schwächen zu beseitigen.

Auf dem Markt für Hochleistungswerkstoffe dominieren derzeit Japan, die USA und Europa insgesamt; Deutschland nehme aber in dieser Rangliste mit zwölf Prozent Marktanteil "keine herausragende Stellung" ein, so der Wissenschaftsrat. Es bestünden erhebliche Forschungslücken. Allerdings sei die Situation bei den verschiedenen Stoffklassen unterschiedlich.

Der Wissenschaftsrat vermißt generell Forschungsergebnisse und aufgearbeitete Informationen, mit denen sich die ökologischen Folgen neuer Werkstoffe befriedigend beurteilen ließen. Die Forschung hierzu soll wesentlich verstärkt werden, um unter anderem den kleinen und mittleren Unternehmen ohne eigene Forschungskapazität Daten für Ökobilanzen zur Verfügung stellen zu können.

Auf dem Gebiet der Strukturmetalle – Stähle, Gußeisen, Aluminium-, Magnesium-, Titan- und Superlegierungen – hat die metallphysikalische Grundlagenforschung in Deutschland ein hohes Niveau. In der anwendungsorientierten Forschung hingegen fällt die Bundesrepublik hinter die USA zurück. Deshalb soll vor allem die hiesige Verbundforschung mit der Industrie besonders gefördert werden. Doch wird auch bemängelt, daß sich die Grundlagenforschung zu sehr darauf konzentriere, den Zusammenhang zwischen Mikrostruktur und Eigenschaften besser zu verstehen und dabei den zwischen Verfahren und Mikrostruktur vernachlässige.

Ähnliches gelte für Strukturkeramiken. Weil hierbei die technologische Forschung die eigentliche Herausforderung ist, sollte sie besonders gefördert werden. Bei den Strukturpolymeren werde die Entwicklung von Herstellungs- und Verarbeitungsverfahren vernachlässigt. Nachteilig wirke sich hier der Rückzug der Industrie auf das sogenannte Kerngeschäft aus. Wichtigste Forschungsaufgabe sei aber, so der Wissenschaftsrat, nicht die Weiterentwicklung bekannter, sondern die Entwicklung neuer Polymere. Das Potential von Verbundwerkstoffen für industrielle Anwendungen sei bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Im internationalen Vergleich sei hier zwar außer der Grundlagenforschung an den Universitäten auch die anwendungsorientierte Forschung an außeruniversitären Instituten beachtlich; sie sollte aber stärker gebündelt werden.

Die industrielle Forschung an Funktionswerkstoffen in Deutschland habe sich "aufgrund der fehlenden branchenübergreifenden Kooperation von chemischer und physikalisch-elektronischer Industrie" im internationalen Vergleich nicht angemessen entwickelt. In der Erforschung von Halbleitermaterialien wie Silicium und Galliumarsenid sei Deutschland durchaus konkurrenzfähig, doch bemängelt der Wissenschaftsrat, daß die für die industrielle Fertigung erforderlichen Produktionsgeräte nur zu etwa zehn Prozent aus Europa stammen. Außerdem seien die strategischen Ziele der nationalen Forschungsprogramme nur unzureichend abgestimmt. Weil den Universitäten und einigen Instituten die technologische Kompetenz für produktionsrelevante Aspekte fehle, würden sie diese vernachlässigen. Deutliche Erfolge weisen deutsche Institute bei der Entwicklung von Solarzellen auf, doch müßten ihre Forschungen koordiniert und Schwerpunkte gebildet werden.

Bei den Funktionspolymeren ist das Bild uneinheitlich. Den Max-Planck- und einigen Universitätsinstituten bescheinigt der Wissenschaftsrat "hohes", einigen andern Einrichtungen hingegen nur "mittelmäßiges" Niveau. Auch sei ein "Brückenschlag zwischen der relevanten Industrie und den unterschiedlichen Forschungsstätten" nicht zu erkennen. Die öffentliche Förderung solle diese Kooperation besonders unterstützen. Die in Deutschland nicht sehr intensiv ausgeprägte Forschung im Bereich der Funktionskeramiken solle nicht nur in den Grundlagen, sondern auch in der Entwicklung bis zur Fertigung gefördert und zu systemorientierten Initiativen gebündelt werden.

Die Forschung auf dem Gebiet der Funktionsmetalle bewertet der Wissenschaftsrat relativ gut. Öffentliche Förderung solle verhindern, daß der Anschluß an die Weltspitze verlorengehe. Bei der Erforschung herkömmlicher Werkstoffe für bioverträgliche Implantate sei Deutschland derzeit noch führend; doch seien beim jetzigen "Paradigmenwechsel von der empirischen Entwicklung von bioverträglichen Materialien zum Bioengineering", dem Maßschneidern der Implantate, weit stärkere Forschungsanstrengungen erforderlich als bisher. Um die Lücken im Bereich von Theorie und Simulation zu schließen, sollen die außeruniversitären Institute mit den theoretischen Disziplinen der Universitäten zusammenarbeiten.

Die in Deutschland bestehende komplementäre Struktur von universitärer und außeruniversitärer Materialforschung hat sich nach Ansicht des Wissenschaftsrates grundsätzlich bewährt. Doch könne sie in vielen Punkten verbessert werden. Die Universitäten sollten sich dafür stärker in Verbundvorhaben engagieren. Die sehr gelobten Bemühungen der materialwissenschaftlichen Max-Planck-Institute zur Kooperation mit der Industrie sollten fortgesetzt werden. Die Grundfinanzierung der entsprechenden Fraunhofer-Institute erscheint dem Wissenschaftsrat als zu niedrig. Die Großforschungseinrichtungen sollten die Materialforschung spezifisch für ihre Gegebenheiten profilieren und mit einem Innovationsfonds der Überalterung des Personals entgegensteuern. Die Institute der Blauen Liste sollten ihre Programmatik auf dem Gebiet der Materialforschung konkretisieren.

Die Stellungnahme des Wissenschaftsrates zu den Materialwissenschaften zeigt sehr deutlich und verallgemeinerbar, daß Deutschland zwar in Teilbereichen der Grundlagenforschung international führend ist, daß es aber bei der Umsetzung der Ergebnisse in moderne Produkte den Anschluß zu verlieren droht. Diese Innovationsschwäche hat erst kürzlich die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrer Untersuchung zur Wissenschafts- und Technologiepolitik bestätigt (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1996, Seite 122).


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1996, Seite 113
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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