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Sticken und Nähen verstärkender Fasern


Das Sticken ist eine schon seit der Antike bekannte Technik, um Fäden – meist zur Zier – auf gewebte, gewirkte oder geflochtene Vorprodukte aufzubringen. Art und Menge sowie Ablagerichtung des Materials lassen sich dabei reich variieren. Seit dem 19. Jahrhundert wurde das Sticken mehr und mehr mechanisiert; dank moderner Antriebs- und Rechentechnik erzeugen Maschinen mittlerweile hocheffektiv mit extremem Gleichmaß eine scheinbar unbegrenzte Mustervielfalt für die Modebranche.

Das Grundkonzept industrieller Mehrkopf-Stickautomaten ähnelt dem der Haushaltsnähmaschine, wobei sich auch Bändchen, Fäden oder Kordeln auf dem Trägermaterial befestigen lassen. Die Nadel durchdringt beides und befördert den Oberfaden, der durch ein Öhr an ihrer Spitze geführt wird, zum Greifer, der ihn umfaßt und mit dem Unterfaden umschlingt. Heben der Nadel strafft den Oberfaden, und der Niederhalter gibt das Textil frei, so daß es in die nächste Stichposition gebracht werden kann.

Anders als bei der Nähmaschine läßt sich das Trägermaterial aber nicht nur vor und zurück, sondern in jeder beliebigen Richtung der Ebene mittels elektronisch gesteuerter Schrittmotoren bewegen, während der Stickkopf in seiner Position verbleibt. Die Größe des Musters ist mithin nur durch die der Maschine begrenzt.

Derzeitige Mehrnadelsysteme verarbeiten vollautomatisch bis zu 16 Oberfäden je Kopf mit 500 bis 1000 Stichen pro Minute. Auch Bänder und Kordeln lassen sich damit in großer Muster- und entsprechender Farbenvielfalt aufnähen. Industriestickmaschinen mit bis zu 20 solchen Köpfen sind mittlerweile Stand der Technik (Bild 2).

Wie bei einem CAD-System werden zur Programmierung Konturen eines Stickmusters etwa mittels Scanners eingelesen. Durch Interpolation entsteht daraus das Maschinensteuerprogramm.

Vielfalt und effektive Bereitstellung der Muster inspirierten einen unserer Mitarbeiter (Horst Rothe), die Einsatzmöglichkeiten des Stickens von Preforms für Faserverbundwerkstoffe zu untersuchen. Weil diese Materialien maximale Steife und Festigkeit aufweisen, wenn Faserrichtung und Richtung der aufzunehmenden Kraft übereinstimmen, konnte man bisher hauptsächlich Bauteile mit einfachen Kraftverläufen wie Druckbehälter oder Torsionsrohre mit Geweben und Multiaxialgelegen faserverstärken. Komplizierte Geometrien und Krafteinleitungen hingegen, aus denen sich vielerlei Beanspruchungsrichtungen und lokal stark unterschiedliche Spannungen ergeben, erfordern entsprechende Wechsel in der Orientierung und Menge der Fasern. Dafür bietet sich das Sticken oder auch das Applizieren (Aufnähen textiler Teile) an.

Richtung und Betrag der Beanspruchungen lassen sich numerisch etwa mit der Finite-Elemente-Methode berechnen. Bei einer torsionsbelasteten Scheibe mit konstanter Dicke und isotropen Materialeigenschaften, zum Beispiel einer Kupplungsscheibe, ergeben sich Hauptspannungsvektoren (Bild 1 links und Mitte). Deutlich nehmen die Spannungen zur Mitte hin zu, weil die lastaufnehmende Fläche bei konstanter Dicke dorthin abnimmt. Maximal beansprucht wird die Scheibe dementsprechend am Nabenrand.

Verbindet man die Hauptspannungsvektoren zu Kraftlinien, ergeben sich Kurvenscharen (Bild 1 Mitte, schwarze Kurven), die sich zur Scheibenmitte hin verdichten. Setzt man diese nun in ein Stickmuster um, lassen sich die gewünschte gleichmäßige Beanspruchung der Fasern, damit eine Minimierung ihrer Anzahl und damit wiederum eine der Bauteilmasse erreichen (Bild 1 rechts).

Verwendet werden dafür Stränge von Verstärkungsfasern aus Glas, Kohlenstoff, Aramid oder Hybridmaterial (einem Gemisch aus Verstärkungsfasern und Matrix). Des weiteren eignen sich alle Faserstoffe, die sich zu einem Band verarbeiten lassen, wie Flachs, Ramie und Jute, oder die als vorgesponnene Bündel – sogenannte Rovingstränge – verfügbar sind wie Keramikfasern.

Man verarbeitet solche Preforms zu Bauteilen mit üblichen Technologien, also Harzinjektions-, Preß- und Autoklavverfahren. Besondere Entwicklungsarbeiten sind nicht nötig. Derartige Preforms dürften die Herstellungskosten von Faserverbundteilen sogar deutlich reduzieren, denn ein Zuschnitt von Halbzeugen im üblichen Sinne ist nicht mehr erforderlich, da sie gleich in der notwendigen Geometrie gefertigt werden und kein Abfall von Fasermaterial entsteht; zudem lassen sich preiswerte Materialien verarbeiten, und mit Naturfasern sollten ähnliche Verstärkungseffekte zu erzielen sein wie mit Glasvlies. Schließlich ist die Faserablage durch automatisches Aufnähen sehr gut reproduzierbar, was die Qualität der Bauteile erhöht.

Außer dem Aufsticken lastaufnehmender Fasern werden derzeit weitere innovative Verfahren entwickelt, die auf dieser Technik basieren, beispielsweise das Bilden von Faserreserven in der Preform, die sich noch längen lassen, so daß damit gefertigte Halbzeuge wie Bleche verformbar sind, und dreidimensional verstärkende Preforms. Besonders interessant ist, daß sich alle drei Neuerungen auch kombinieren lassen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1996, Seite 95
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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