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Stopp dem Buchzerfall

Millionen Bücher sind derzeit vom Zerfall bedroht. Kalte Plasmen versprechen, bibliophile Werke und historische Dokumente von Schimmel und anderen Mikroorganismen zu befreien.

Ohne Papier wäre der kulturelle und ökonomische Fortschritt der Menschheit wohl nicht möglich gewesen. Kein anderes Material eignete sich in gleicher Weise als Träger der Schrift und in Verbindung mit dem Buchdruck als universell verfügbares Informationsmedium. Handgeschriebene oder gedruckte Werke dokumentieren deshalb den Fortgang der Geschichte und bewahren das Wissen der Vergangenheit. Doch nicht wenige dieser unschätzbaren Zeugnisse drohen selbst bald der Geschichte anzugehören. Auf dem 89. Deutschen Bibliothekertag 1999 schlugen Fachleute Alarm: Bereits 30 Prozent der Buchbestände in den Bibliotheken Westeuropas und den USA seien geschädigt, 10 Prozent sogar zu schwer, um sie noch zu nutzen.

Gründe für den Verfall gibt es viele. Beispielsweise wurden im 19. Jahrhundert zur industriellen Masseleimung von Papier Säuren verwendet, die nun den Zellstoff angreifen. Auch schweflige Säuren, Resultat der Umweltverschmutzung mit Schwefeldioxid, bedrohen die Polysacharid-Moleküle von Papier. Ähnlich wirken Oxidationsprozesse. Die wiederum werden von zweiwertigen Eisen-Ionen, eingebracht durch Eisengallus-Tinte, katalytisch verstärkt. Und schließlich bieten Zellstoff, Leimsubstanzen und Stärke im Papier Bakterien und Pilzen einen guten Nährboden.

Ein Großteil der Forschung zur Papierrestaurierung konzentriert sich darauf, dessen Säuregehalt mit chemischen Verfahren zu verringern. Manche davon eignen sich für den Masseneinsatz, andere erfordern ein Vorsortieren und die Behandlung einzelner Blätter. Letzteres gilt auch für eine neue Technik zur Entkeimung historischer Papiere, entwickelt in einem Forschungsverbund: Das interdisziplinäre Team besteht aus Wissenschaftlern des Fraunhofer-Instituts für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB in Stuttgart, der Deutschen Bibliothek in Leipzig und der Universität Stuttgart. Das Verfahren basiert auf einer Standardtechnik der Industrie, etwa um Oberflächen zu reinigen, Materialien für das Lackieren vorzubereiten oder um Schutzschichten aufzubringen – der Plasmatechnik.

Als Plasma bezeichnet man ein angeregtes „ionisiertes Gas“. Gase bestehen normalerweise aus elektrisch neutralen Atomen und Molekülen. Wird aus deren Elektronenhülle ein Elektron entrissen, entsteht ein positiv geladenes Ion. Ein Gemisch von neutralen Atomen, positiven Ionen und negativen Elektronen, die sich frei bewegen können, bezeichnete der amerikanische Wissenschaftler Irving Langmuir 1928 nach dem griechischen Wort für „Gebilde“ als „Plasma“. Das Phänomen ist weit verbreitet: 99 Prozent des Weltalls bestehen aus Plasma. Bekannte Beispiele sind Sonne, Kerzenflamme und Blitz. Das Leuchten beruht auf angeregten Teilchen, die in energieärmere Zustände zurückfallen und dabei Licht aussenden.

Sonne und Kerzenflamme sind „thermische Plasmen“ – die Ionisation beruht auf hohen Temperaturen. Im Gegensatz dazu entstehen Niedertemperaturplasmen durch elektrische Wechselfelder. Die übertragen auf kaltem Wege die zur Ionisation erforderliche Energie auf die Teilchen und regen sie auch an, beispielsweise in der Neonröhre.

In der industriellen Produktion dienen solche kalten Plasmen auch zu ganz anderen Zwecken. Ionisierter, angeregter Sauerstoff reinigt Metalloberflächen, denn er reagiert sehr schnell mit organischen Verunreinigungen wie Fetten oder Kühlschmierstoffen und bildet leichtflüchtige Verbindungen. In Kunststoffe bringt ein solches Plasma sauerstoffhaltige Gruppen ein, verbessert darüber die Haftung von Lacken oder verbessert das Verkleben von Kunststoffen. Plasmen dienen auch der Sterilisation: Ionisierte Teilchen greifen ebenso die Zellwände an sowie bestimmte Membranstrukturen von Mikroben und die mit dem Plasma einhergehende Strahlung deren Erbsubstanz.

Forscher des Fraunhofer-Instituts fragten sich, ob sich auf diese Weise die vom Verfall bedrohten Dokumente entkeimen ließen. Dieser Ansatz wurde bislang kaum verfolgt, wie eine Literaturstudie zeigte. Zwar hat man versucht, mittels Plasmatechnik festigende Schichten aufzutragen, doch diese Arbeiten verliefen bislang wenig erfolgreich.

Kein Wunder – Papier ist ein empfindliches Material, Anlagentechnik und Prozessparameter müssen dementsprechend sehr genau optimiert werden. Doch derzeit übliche Entkeimungsverfahren haben einige schwere Nachteile: Die Begasung mit Ethylenoxid tut zwar gute Wirkung, das Gas ist aber giftig und explosiv; die Gammabestrahlung kann dem Material selbst schaden. Wer vom mikrobiellen Befall historischer Papiere spricht, meint fast immer den Befall durch Schimmelpilze, denn diese Lebewesen gedeihen auch in sehr trockenem und besonders gut sogar in leicht saurem Milieu. Das Geflecht ihrer Pilzfäden (Myzelien) selbst ist schwarz, grau, weiß, gelblich oder auch rötlich und verfärbt entspre-chend das befallene Blatt. Durch Enzyme spalten die Pilze die Zellstoffmoleküle und lockern so den Faserverbund – das Blatt wird dadurch brüchig.

Die Versuche zeigten, dass Sauerstoff- und Wasserstoffplasmen das Geflecht aus Pilzfäden zerstören und auch ihre Sporen angreifen. Am Fraunhofer-Institut wurde eine speziell ausgelegte Anlage aufgebaut. Ihre zwei Kammern erlauben, Papiere sowohl im direkten Plasma als auch unterhalb des eigentlichen Brennraumes zu behandeln. Die letztgenannte Technik, als After-glow-Prozess bezeichnet, vermeidet eine direkte Einwirkung der im Plasma entstehenden Strahlung und schont somit das Material. Über eine Gasströmung werden aber reaktive Teilchen in die Kammer zum Papier geleitet. Durch Wahl des Prozessgases sowie Variation der Prozessparameter wie Gasdruck und -fluss, Behandlungszeit und Leistung der anregenden elektrischen Felder können die Betriebsbedingungen an die unterschiedlichsten zu behandelnden Materialien, deren Empfindlichkeit und den gewünschten Behandlungseffekt angepasst werden.

In den Versuchen wurden ausgewählte Mikroben auf Testpapieren aufgebracht. Waren vor der Behandlung mit Sauerstoff- beziehungsweise Wasserstoff-after-glow-Plasmen etwa eine Million Zellen auf dem Papier, reduzierte sich ihre Anzahl im Versuch auf nur noch 100, mitunter sogar weniger als 10 Zellen. Ein weiterer positiver Effekt: Waren die Pilzfäden zerstört, hellten sich verfärbte Seiten wieder auf, und das Schriftbild wurde wieder gut lesbar.

Es stellte sich natürlich die Frage, ob die Plasmen nicht ihrerseits das Fasergewebe der Blätter schädigen würden. Tatsächlich verringern Sauerstoffplasmen durch ihre oxidierende Wirkung die Festigkeit. Hingegen erwies sich Holzschliffpapier, nachdem es Wasserstoffplasmen ausgesetzt war, sogar als fester, denn Wasserstoff wirkt sozusagen als Gegenspieler des Sauerstoffs: Es reduziert bereits oxidierte Bereiche und stellt manche gelösten Verbindungen wieder her. Somit könnte eine Strategie sein, zunächst das gegen Mikroben wirksamere Sauerstoffplasma einzusetzen und dessen negative Effekte dann mittels Wasserstoffplasma auszugleichen.

Derzeit werden auch andere Papiersorten dem Verfahren ausgesetzt und ihre Reaktion geprüft. Nun überlegen die Wissenschaftler, mittels Plasmatechnik dünne Schutzschichten auf einzelne, brüchige Buchseiten aufzutragen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2000, Seite 85
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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