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Strategie der Emotionen


Die Aussage dieses Buches wirkt zugleich altmodisch und herzerwärmend: Der Mensch sei nicht nur edel, hilfreich und gut; es wird auch noch zu seinem Besten sein. Die Überraschung ist: Robert Frank, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Cornell-Universität in Ithaca (New York), hat eben nicht ein moralisches Traktat verfaßt, sondern legt eine handfeste, wissenschaftlich wohlbegründete These vor.

Warum verhalten die meisten Menschen sich anständig, selbst wenn es zu ihrem Nachteil ist? Warum ist es üblich, in einem Restaurant, das man nie wieder aufsuchen wird, Trinkgeld zu geben, einem völlig Fremden in der Not zu Hilfe zu eilen und seinen Geschäftspartner selbst dann nicht zu betrügen, wenn das ohne weitere Konsequenzen möglich ist? Warum bleiben Ehepaare gelegentlich auch dann zusammen, wenn einer der Partner pflegebedürftig oder langweilig geworden ist und eine attraktivere Alternative sich bietet?

Frank legt an vielen Beispielen dar, daß solches Verhalten zu häufig ist, als daß man es als Ausnahme abtun könnte, und damit die herrschenden Erklärungsmuster auf eine harte Probe stellt. Immerhin gehen die Ökonomen spätestens seit Adam Smith (1723 bis 1790) davon aus, daß jeder Mensch sich in Wirtschaftsdingen in der Regel rational verhalte, womit gemeint ist, daß er seinen Eigennutz zu mehren sucht und nichts sonst. Gary Becker von der Universität Chicago hat 1992 gar den Nobelpreis unter anderem dafür erhalten, daß er die-ses Schema auf persönliche Beziehungen übertragen hat (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1992, Seite 31): "Nach Beckers Vorstellungen betreiben Menschen mit stabilen, wohldefinierten Präferenzen zielgerichtet die Auswahl von Partnern, die ihren materiellen Interessen am meisten förderlich sind" (Seite 157).

Das könne aus biologischen Gründen gar nicht anders sein: Wer sich regelmäßig und ohne Kompensation einen Vorteil entgehen läßt, steht schlechter da als seine opportunistischen Zeitgenossen und hinterläßt deshalb weniger Nachkommen; eine entsprechende Veranlagung wäre also längst ausgestorben.

Gefühle wie Mitleid, Liebe oder heiliger Zorn, die uns so häufig zu irrationalem – gemeint: dem eigenen Vorteil abträglichem – Handeln veranlassen, wären als "evolutionäre Überbleibsel" anzusehen, "ein Verhaltensmuster, das von der Verwandtschaftsselektion zu einer Zeit geprägt wurde, als die Menschen ausschließlich in Gruppen von engen Verwandten zusammenlebten" (Seite 33). Altruismus wäre, nach einer These des britischen Biologen Richard Dawkins, zu erklären als Egoismus der Gene, gemeint: als das von ihnen gesteuerte, die eigene Verbreitung fördernde Verhalten.

Ein anderes Erklärungsmuster läuft darauf hinaus, daß es rational sei, Nachteile in Kauf zu nehmen, wenn man sich dadurch den Ruf eines gutwilligen und vertrauenswürdigen Menschen erwirbt. Denn dann ist man ein begehrter Partner für Unternehmungen, bei denen es auf Vertrauen ankommt, und der Gewinn daraus übersteigt die Nachteile. Unter dem Stichwort "iteriertes Gefangenendilemma" ist diese Situation in vielen Varianten durchgespielt worden.

Offensichtlich ist es ein beliebtes Ziel der Verhaltensforschung – und des zugehörigen Teils der Wirtschaftswissenschaft –, hinter den edlen Motiven, die in unserem Bewußtsein unsere Handlungen bestimmen, die "echten" eigennützigen zu entlarven. "Die größte Demütigung, die ein knallharter Forscher fürchtet, ist, eine Handlung als altruistisch zu bezeichnen und dann von einem raffinierteren Kollegen bewiesen zu sehen, daß sie tatsächlich egoistisch war" (Seite 28).

Für den Autor des vorliegenden Buches dagegen sind Emotionen, die uns zu irrationalem Handeln veranlassen, weder nebensächlich noch vom Aussterben bedrohte Reste evolutionärer Vergangenheit, sondern – auf lange Sicht und in einem ganz anderen Sinne – nützlich: Sie helfen, das sogenannte Festlegungsproblem zu lösen.

Ein Spieler des iterierten Gefangendilemmas, der in vielen entbehrungsreichen Runden einen Ruf als konsequent Kooperierender etabliert und gefestigt hat, ist gleichwohl durch nichts gehindert, seinen Partner im nächsten Zug, wo besonders viel auf dem Spiel steht, überraschend aufs Kreuz zu legen – im Gegenteil, genau das wäre äußerst rational. Der Partner weiß das, deswegen hält sich sein Vertrauen in Grenzen, und ein beiderseits sehr profitables Geschäft kommt nicht zustande. Wenn aber der Spieler sich unwiderruflich und für seinen Partner nachprüfbar darauf festlegen könnte, auf die Option des Betrügens zu verzichten, wäre diese Einschränkung seiner Möglichkeiten für ihn von Vorteil, weil sich sein Partner dann auf das Geschäft einlassen würde.

Genau diese Festlegung wird durch einen grundanständigen Charakter bewerkstelligt. Einem solchen Menschen ist jede Unehrlichkeit so in der Seele zuwider, daß schon der Gedanke daran – und erst recht die vollbrachte Tat - sich deutlich auf seinem Gesicht, in seiner Körperhaltung oder anderen Merkmalen abzeichnen würde. Eine solche Disposition zu irrationalem – soll heißen: nicht unmittelbar vorteilhaftem – Verhalten verschafft ihrem Träger auf diesem Wege langfristig eben doch einen Selektionsvorteil und kann sich deshalb im Laufe der Evolution durchsetzen; wie im einzelnen, legt Frank sehr detailliert dar. Die Kraft, mit der diese Disposition die Verlockung des unmittelbaren Profits überwindet, ist eine Emotion wie Gerechtigkeitssinn oder auch Liebe.

Ausführlich geht Frank auf naheliegende Gegenargumente ein. Offensichtlich gibt es Betrüger, die einen seriösen Eindruck machen; Signale für Vertrauenswürdigkeit sind also fälschbar. Aber ein Signal, das leicht zu fälschen ist, wird bald nicht mehr ernstgenommen und verliert dadurch seinen Wert für den Absender. Übrig bleiben Signale, die schwer zu fälschen sind. In der Tat gibt es beim Menschen Gruppen von Gesichtsmuskeln, die nur schwer oder gar nicht bewußt zu kontrollieren sind und deshalb relativ zuverlässig Auskunft über seine Emotionen geben (Bild).

Absolute Zuverlässigkeit ist nicht erforderlich. Die Existenz geschickter und skrupelloser Schauspieler hindert einen Menschen nicht, aus dem Mienenspiel seines Gegenübers nützliche Schlüsse zu ziehen, solange der Schaden aus grundsätzlichem Mißtrauen oder der Aufwand zusätzlicher Erkundungsmaßnahmen den zu erwartenden Schaden aus einem Reinfall übersteigt.

Schließlich wäre einzuwenden, daß der Mensch eben nicht nur von der Evolution, sondern in viel höherem Maß von der Kultur geprägt ist und obendrein – im Rahmen seiner Grenzen – selbst bestimmen kann, welchen Charakter und damit welche emotionalen Dispositionen er sich zulegt. Frank bestreitet das nicht; aber auch unter ganzen Kulturen finde ein Wettbewerb mit evolutionären Zügen statt, und die Flexibilität des menschlichen Verhaltens stehe dem gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen emotionaler Disposition und äußerer Erscheinung nicht entgegen: "Wenn ich in einer fremden Stadt kein Trinkgeld gebe, dann wird es für mich schwieriger sein, die Emotionen beizubehalten, die mich bei anderen Gelegenheiten zu ehrlichem Verhalten motivieren. Es ist diese Veränderung meiner gefühlsmäßigen Verfassung – nicht die Tatsache, daß ich kein Trinkgeld gegeben habe –, die von anderen Menschen wahrgenommen werden kann" (Seite 27).

Mehr noch: Die Aussage des Buches könnte, eben wegen der Flexibilität der menschlichen Einstellungen, auf diese zurückwirken. Wer sich überzeugen läßt, daß irrationale Emotionen weder dumm noch veraltet sind, wird nicht nur aufhören, die entsprechenden Gefühle bei sich zu unterdrücken, sondern sie auch bei anderen ernstnehmen und seinen ehrlichen Partner nicht nur als gutmütigen Trottel behandeln. In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, daß die einzige Gruppe, die in psychologischen Experimenten eine gewisse Bestätigung für das klassische Eigennutzmodell lieferte, aus Studenten der Ökonomie bestand.

Um nicht ein fälschlich rosiges Bild zu zeichnen, beeile ich mich hinzuzufügen, daß Frank nach dem gleichen Muster auch Emotionen erklärt, die einem normalerweise nicht gepredigt werden: vor allem Neid und Rachsucht. Smith will Jones eine Aktentasche im Wert von 200 Dollar stehlen. "Wenn... Smith weiß, daß Jones eine rein rationale, nur am Eigennutz orientierte Person ist, dann kann er die Aktentasche ungestraft stehlen. Jones könnte zwar mit einer Anzeige drohen, aber es wäre eine leere Drohung" (Seite 8/9), denn der Tag vor Gericht würde Jones 300 Dollar an entgangenen Einnahmen kosten. Da aber Jones irrationalerweise vor lauter Wut bereit wäre, diesen Verlust um der Bestrafung willen in Kauf zu nehmen, und Smith das weiß, läßt er die Finger von der Tasche.

Soweit ganz nett; aber dieselbe Argumentation ist auch auf den Rüstungswettlauf anwendbar. Ein Regierungschef, der – zweifelsfrei erkennbar – so irrational ist, daß er einen Vernichtungsschlag zu führen bereit wäre, dessen Folgen auch seine eigenen Leute das Leben kosten würden, bietet offensichtlich die glaubwürdigste Abschreckung. So gesehen, war Ronald Reagan die Ide-albesetzung für den Posten des amerikanischen Präsidenten. Mich schaudert's; aber das Argument ist schlüssig.

Trotz seines wissenschaftlichen Anspruchs ist das Buch durch viele realistische Beispiele und einen klaren, flüssigen Stil angenehm zu lesen. Die Übersetzung ist hervorragend; ein einzelner makabrer, durchgehend praktizierter Übersetzungsfehler – "Rückenmarksspende" statt "Knochenmarksspende" – kann diesen Gesamteindruck nicht ernsthaft trüben.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 129
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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