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Materialprüfung: Stretch-Test mit Laseroptik

Sie sehen aus wie ein verrauschtes Fernsehbild, sollen aber herkömmliche Dehnungsmessstreifen bei der Analyse von Deformationen ablösen: So genannte Speckle-Muster helfen, Verformungen auf Nanometer genau und noch dazu mit hoher Auflösung zu vermessen.


Ein Lager springt, ein Bolzen kracht – das Versagen eines einfachen Bauteils genügt mitunter, und eine teure Maschine wird zu Schrott. Im schlimmsten Fall kommen sogar Menschen zu Schaden. Um dem vorzubeugen, versuchen Konstrukteure mögliche Bruchstellen frühzeitig durch Computersimulationen und Messungen auszumachen. Ein spezielles optisches Verfahren kann dazu wichtige Informationen beitragen – die elektronische Speckle-Interferometrie. Sie liefert wesentlich genauere Aussagen als die bislang verwendeten Dehnungsmessstreifen.

Konstrukteure befinden sich in der Zwickmühle. Einerseits sollen sie sichere Produkte entwerfen, dafür gibt es klassische Festigkeitsrechnungen und erfahrungsorientierte Sicherheitszuschläge. Andererseits müssen sie aber am eingesetzten Material sparen, um Kosten oder Gewicht zu verringern. Wie weit können sie dabei gehen? Hier hilft nur, die Verformung eines Bauteils beziehungsweise "Prüflings" unter Belastung präzise zu ermitteln und zu analysieren.

Als Messvariable eignet sich die Dehnung der Oberfläche, denn sie ist über Materialparameter wie den Elastizitätsmodul mit den einwirkenden Kräften und Spannungen verknüpft. Numerische Simulationen nutzen solche Zusammenhänge und lösen die entsprechenden physikalischen Gleichungen. Dazu wird das Objekt in viele kleine geometrische Einheiten unterteilt, die so genannten "Finiten Elemente". Da bereits die Konstruktion am Computer erfolgt (Computer Aided Design, CAD), bildet der entsprechende Datensatz dabei die Basis. Die Wechselwirkung der Elemente untereinander lässt sich nach den Grundsätzen der Mechanik exakt beschreiben. Wird nun eine auf das Bauteil einwirkende Kraft simuliert, errechnet der Computer die Reaktionen der einzelnen Elemente und schließlich ihr Zusammenspiel zur Gesamtreaktion.

Dehnen bis zur Grenze


Die Genauigkeit der Finite-Elemente-Methode (FEM) und seine Realitätstreue wächst mit dem mathematischen Aufwand der Modellierung (Spektrum der Wissenschaft, 3/1997, S. 90). Noch sind dieser Analyse Grenzen gesetzt: Beispielsweise lassen sich Materialfeh-ler oder spezielle Verbindungstechniken zwischen unterschiedlichen Werkstoffen nur mit erhöhtem Aufwand – wenn überhaupt – berücksichtigen (Spektrum der Wissenschaft, 9/1999, S. 54). Deshalb müssen stets auch experimentelle Daten in die Simulation einbezogen werden. Hat sie im ersten Durchlauf kritische Bereiche ausgemacht, versuchen die Ingenieure dort die Dehnung unter Belastung zu messen und speisen diese Daten in den nächsten Simulationsdurchgang ein.

Bislang dienten dazu meist spezielle Messstreifen. In der Praxis verwendet man ein auf Trägerfolie aufgebrachtes, elektrisch leitendes Messgitter, befestigt auf dem zu untersuchenden Bauteil. Wird es gedehnt oder gestaucht, ändert sich sein elektrischer Widerstand. Damit kann man nicht nur schwache, sondern auch rasch wechselnde Verformungen bestimmen.

So verlässlich dieses Verfahren ist, weist es doch einige Nachteile auf. Das Bauteil muss gereinigt, die oft winzigen Messstreifen müssen präzise aufgeklebt und dann auch noch verdrahtet werden. Zudem beschreiben die Daten immer nur Mittelwerte der von Streifen abgedeckten Oberfläche, angesichts zunehmender Miniaturisierung auch im Maschinenbau ein Problem. Und schließlich lassen sich Messstreifen nur schwer auf unebene Flächen kleben, ohne sich selbst zu verformen und deshalb systematische Fehler zu verursachen.

Eine Alternative bietet neuerdings die Lasermesstechnik, insbesondere die elektronische "Speckle"-Interferometrie. Einen entsprechenden Sensor haben wir am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie in Kooperationen mit Hochschule und Industrie entwickelt. Der Name leitet sich vom englischen speckle für Flecken ab. Beleuchtet man nämlich eine raue Oberfläche mit einem aufgeweiteten Laserstrahl, fällt sogar mit bloßem Auge eine körnige Struktur auf, die in der Vergrößerung an das Rauschen eines Fernsehers ohne eingesteckte Antenne erinnert. Doch genau dieses Fleckenmuster aus vielen speckles eignet sich als eine Art laseroptischer Fingerabdruck des Prüflings. Es entsteht durch Überlagerung der Wellen des kohärenten Laserlichts, die an Strukturelementen der beleuchteten Fläche reflektiert und gestreut werden. Verformt sich diese, variiert dementsprechend das Speckle-Muster. Ein Vorher-Nachher-Vergleich könnte also ein Maß der Dehnung liefern, noch dazu an mehreren Punkten der beleuchteten Flächen.

In der Praxis gestaltet sich dies Unternehmen allerdings schwieriger, denn das Muster enthält einen rein statistischen Anteil, der von der Deformation unbeeindruckt bleibt. Um diesen quasi unter den Tisch fallen zu lassen, erzeugen wir eine so genannte Zwei-Strahl-Interferenz. Der Laserstrahl wird dazu geteilt, sodass nun zwei Strahlen den Prüfling beleuchten. Zunächst sind beide kohärent, das heißt die Lichtwellen schwingen nicht nur mit gleicher Frequenz, sondern auch mit gleicher Phase – zum selben Zeitpunkt erreichen sie beispielsweise ein Amplitudenmaximum.

Ein Spiegel im Lichtweg eines Strahles verlängert dessen optischen Weg um eine Wellenlänge gegenüber dem unveränderten "Referenzstrahl". Kommen die beiden Strahlen wieder zusammen, haben sie nun unterschiedliche Phasen. Ihre Speckle-Muster überlagern einander, und es entstehen mikroskopische Bereiche von Verstärkung und Auslöschung, im Fachjargon: von konstruktiver und destruktiver Interferenz. Mit dem bloßen Auge betrachtet lassen sich das Muster des ursprünglichen ungeteilten Strahls und das Speckle-Interferogramm kaum unterscheiden.

Aus zwei Dimensionen mach’ drei


Wiederholt man jetzt die gesamte Prozedur nach der Verformung, ergibt sich ein anderes Bild, doch der statistische Anteil ist in beiden Interferogrammen gleich und lässt sich durch Subtraktion eliminieren. Übrig bleibt die Information über die Phasendifferenzen vor und nach der Verformung, diese lassen sich aber geometrisch mit einer Genau-igkeit bis zu 50 Nanometer auf die entstandene Höhendifferenz der Oberfläche beziehen. Ein großer Vorteil des kom-plexen Verfahrens: Der Prüfer erhält nicht nur einen Messwert wie herkömmlich, sondern eine Dehnungsverteilung mit einigen tausend Werten. Sind außerdem Materialkenngrößen bekannt, folgen daraus auch die Spannungen des Bauteils.

Interessant wird es, wenn der Prüfling nicht eben, sondern gewölbt ist. Jede Kamera bildet nur auf eine Fläche ab, die dritte Dimension des Körpers geht dabei verloren. Die Messergebnisse wären deshalb fehlerhaft. Da hilft ein Trick: Beide Teilstrahlen werden vor der Deformation im Gerät automatisch und präzise um einige Mikrometer verschoben, zuvor und danach wird gemessen. Wieder resultieren unterschiedliche Speckle-Muster, doch weil sie sozusagen aus zwei Perspektiven aufgenommen wurden, charakterisieren sie diesmal die Form des Objektes. Anhand dieser Tiefeninformation lassen sich die Deformationsdaten ermitteln.

Ein Vergleich von optischer Messung mit konventionellen Dehnungsmessungen und zusätzlich mit Finite-Elemente-Simulationen bestätigte: Die Ergebnisse der neuen Methode sind wesentlich genauer. Der Industriepartner hat das System mittlerweile so weit entwickelt, dass es im Wettbewerb bestehen kann. Der Sensor ist klein genug für die Handhabung im Wortsinne und zudem so leicht, dass er auch langsame Schwingungen des Prüflings, wie sie bei Belastungstests auftreten, mitmacht.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2000, Seite 84
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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