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Suche nach einem Frühwarnsystem für Krebsrisiken

In der molekularen Epidemiologie, einem noch jungen Forschungsfeld, fahndet man nach frühen biologischen Warnzeichen für ein erhöhtes Krebsrisiko. Ziel ist, Dispositionen sowie schädigende Belastungen auf molekularer Ebene zu erkennen und zur besseren Prävention zu nutzen.

Bösartige Tumoren entstehen in einem langwierigen, vielstufigen Prozeß. Um eine Chance zu haben, ihn frühestmöglich zu unterbinden oder gar nicht erst in Gang kommen zu lassen, müßte man vorab durch Labortests an charakteristischen biologischen Anzeichen eine Gefährdung erkennen, beispielsweise – daß eine besondere Empfindlichkeit gegenüber karzinogenen Faktoren der Umwelt wie energiereicher Strahlung, bestimmten Bakterien und Viren sowie natürlichen und synthetischen Stoffen in Nahrung, Wasser und Luft besteht,

- daß Zellen im Organismus durch bestimmte krebserregende Agenzien bereits angegriffen sind oder, schlimmer noch,

- daß sich bereits präkanzeröse Veränderungen – Vorstufen zu Krebs – in den Geweben anbahnen.

Denn dann könnten Betroffene Krebs eher verhüten, indem sie die für sie gefährlichsten Faktoren möglichst meiden, beziehungsweise von einer Frühdiagnose profitieren, indem sie sich strikter medizinisch überwachen lassen.

Allerdings steht man bei der Suche nach solchen Biomarkern, die ein erhöhtes Krebsrisiko signalisieren können, erst am Anfang – von einer Testpalette, mit der sich die individuellen Erkrankungswahrscheinlichkeiten sinnvoll ermessen ließen, ganz zu schweigen.

Immerhin erweisen sich die verfügbaren Befunde bereits insofern als aufschlußreich, als sie die Ansicht stützen, die bisherigen Verfahren, mit denen allgemeine Toleranzgrenzen für Umweltkarzinogene bestimmt werden, unterschätzten die Gefährdung mancher Bevölkerungsteile – insbesondere von Kindern – womöglich erheblich. Vielleicht veranlaßt dies offizielle Stellen eher zu Maßnahmen, individuell nicht beeinflußbare Expositionen zu reduzieren (sowohl die Konzentration eines krebserregenden Agens als auch die Häufigkeit und Dauer, mit der Menschen ihm ausgesetzt sind, bestimmen die Exposition).

Baldigen Nutzen mögen Biomarker auch für Forscher haben, denen es um die Entwicklung neuartiger Ansätze zur Prävention geht. Damit brauchten sie nicht mehr jahre- oder gar jahrzehntelang abzuwarten, ob etwa eine Chemikalie die Krebsrate unter den exponierten Menschen erhöht oder ob ein gezieltes experimentelles Eingreifen das Auftreten neuer Erkrankungen verringert – charakteristische Anzeichen für präkanzeröse Schäden im Organismus zu erfassen brächte unter Umständen relativ schnell Aufschluß.


Die molekulare Ebene

Der noch junge Zweig der molekularen Epidemiologie verfolgt das Ziel, dem eigentlichen Krebsgeschehen, insbesondere der Wucherung von Geschwülsten und der Bildung von Metastasen vorausgehende entscheidende Ereignisse aufzuspüren und meßbare biologische Signale dafür zu identifizieren. Von der konventionellen Epidemiologie unterscheidet er sich insofern, als er deren Handwerkszeug – wie Fallstudien, Befragungen sowie Ermittlung und Überwachung von Karzinogen-Expositionen – mit hochempfindlichen molekularbiologischen Laboranalysen kombiniert (Bild 1).

Der konventionelle Ansatz allein hat bereits entscheidend zum Verständnis von Krebsrisiken beigetragen. So ist mittlerweile belegt, daß fettreiche Ernährung die Entstehung von Dickdarmkrebs begünstigt, Benzol Leukämie hervorrufen kann und Rauchen die Wahrscheinlichkeit, an Lungenkrebs zu erkranken, drastisch erhöht. Manche Risiken ließen sich sogar quantifizieren: Im Schnitt bekommt beispielsweise jeder zehnte starke Raucher Lungenkrebs. Über die genaue Abfolge der Ereignisse – von der Exposition bis schließlich zum Ausbruch der Krankheit – enthüllt die klassische Forschungsrichtung jedoch nichts. Hier setzt die molekulare Epidemiologie an.

Das wachsende Verständnis der Entwicklung von Krebs befruchtet diese Arbeiten und umgekehrt. Klar scheint inzwischen zu sein, daß bösartige Tumoren im allgemeinen das Resultat genetischer Schäden (Mutationen) sind, die sich in einer einzigen Zelle anhäufen. Diese hält sich irgendwann nicht mehr an die normalen Wachstumsbeschränkungen, teilt sich unbegrenzt und bildet eine Geschwulst, die noch gutartig sein kann. Charakteristisch für maligne gewordene Tumorzellen ist dann, daß sie in umliegendes Gewebe eindringen und einige schließlich sich in andere Teile des Körpers absiedeln, wo sie Tochtergeschwülste, Metastasen, bilden.

Zwar fußt Krebs auf genetischen Schäden, was aber nicht gleichbedeutend mit ererbten ist – vermutlich beruhen nicht mehr als 5 Prozent aller Krebsfälle in den Industriestaaten auf schwerwiegenden ererbten Gendefekten. Schäden im Erbgut, die eine normale Zelle in eine bösartige verwandeln, kommen vielmehr im typischen Falle erst im Laufe des Lebens zusammen. Den gefährlichen Einflüssen von Karzinogenen arbeiten zudem körpereigene Schutz- und Reparatursysteme entgegen. Von ihrer Effizienz und nicht allein von der individuellen Exposition hängt es ab, ob irgendein von außen stammendes oder ein im Organismus selbst während des normalen Zellstoffwechsels erzeugtes Agens (wie manche sogenannten Oxidantien) überhaupt zur Entartung beiträgt. Wie man inzwischen weiß, variiert die Wirksamkeit der schadensabwehrenden Mechanismen von Mensch zu Mensch, und das manchmal sogar erheblich.


Identifikation und Eignungsprüfung

In den frühen achtziger Jahren haben meine Kollegen und ich an der Columbia-Universität in New York ein grundlegendes Konzept zur molekular-epidemiologischen Erforschung von Krebs mit erarbeitet. Zuvor hatten wir in menschlichem Gewebe einen neuen molekularen Marker entdeckt, der anzeigte, daß ein spezielles Karzinogen die Erbsubstanz DNA geschädigt hatte.

Um einen solchen Marker zu finden, durchsucht man – vereinfacht dargestellt – menschliche Gewebeproben auf biologische Indikatoren für drei Aspekte: Exposition, krebsinduzierende Schäden an Zellen und Geweben sowie besondere Empfindlichkeit des Organismus gegenüber Karzinogenen (Bild 3). In einer Batterie von Tests werden die gefundenen Indikatoren – sei es eine bestimmte Verbindung, eine Genmutation oder ein ineffizienter Schutzmechanismus – dann auf Tauglichkeit als Frühwarnmarker geprüft: Sie müssen, lange bevor irgendwelche klinischen Symptome auftauchen, ein erhöhtes Krebsrisiko anzeigen können. Erst nach vielen bestandenen Tests gilt ein Marker als valide; er kann zur Untersuchung ausgewählter Personengruppen eingesetzt werden und nötiges Eingreifen signalisieren.

Beispielhaft erläutern läßt sich die gesamte Prozedur an dem von uns entdeckten Marker, der sich wohl als Frühwarnung vor drohendem Lungenkrebs eignet. Im Jahre 1982, bei Untersuchungen mit I. Bernard Weinstein von der Columbia-Universität und Miriam C. Poirier vom amerikanischen Nationalen Krebsinstitut in Bethesda (Maryland) bemerkte ich, daß polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAKs) so etwas wie einen unverwechselbaren Fingerabdruck in Zellen der Lunge und des Bluts hinterlassen. Sie gehören zu den rund 400 Chemikalien, die sich in Studien an Tier oder Mensch als kanzerogen erwiesen haben, und kommen als Produkte unvollständiger Verbrennung insbesondere in Tabakrauch, verschmutzter Luft sowie in gegrillten, geräucherten und gebratenen Nahrungsmitteln vor. Bei den verräterischen Fingerabdrücken handelte es sich um sogenannte Addukte mit der DNA; die PAKs hatten sich dort an- oder genauer eingelagert und Komplexe mit dem Molekül gebildet (Bild 2 rechts oben).

Daß solche Anlagerungsverbindungen bei Blutzellen nachweisbar waren, die sich für Massenuntersuchungen leicht gewinnen lassen, machte die Sache besonders interessant. Aber erst einmal mußten wir prüfen, ob sie überhaupt als frühe Warnzeichen eines erhöhten Lungenkrebsrisikos fungieren konnten. Meine Kollegen und ich, darunter Regina M. Santella sowie Kari Hemminki vom Karolinska-Institut in Stockholm (Schweden), fanden bei Menschen, die als Raucher, Bewohner von Industrieregionen mit starker Luftverschmutzung oder als Werktätige in bestimmten Berufszweigen hohen Konzentrationen an PAKs ausgesetzt gewesen waren, einen wesentlich höheren Gehalt an solchen DNA-Addukten als bei weniger exponierten Personen (Bild 2 rechts unten).

Dies allein besagte aber noch nicht, daß die vermehrt vorhandenen Komplexe eine höhere Wahrscheinlichkeit anzeigen, daß sich bei den betroffenen Personen Lungenkrebs entwickelt. Doch Folgestudien stützten die Annahme: Bei hohem Gehalt an solchen sowie verwandten Addukten im Blut kamen genetische und chromosomale Abweichungen in dessen Zellen häufiger vor – was auch für maligne entartete Zellen typisch ist. Ferner fanden wir in Blutproben von Lungenkrebspatienten wesentlich höhere Mengen an PAK-DNA-Addukten als bei nicht erkrankten Personen, die vergleichbaren Dosen von Lungenkarzinogenen ausgesetzt gewesen waren. Zur Zeit analysieren wir konservierte Blutproben freiwilliger Teilnehmer einer Langzeitstudie, um zu ermitteln, ob PAK-DNA-Addukte und andere Marker Lungenkrebs bereits Jahre vor seiner Diagnose vorherzusagen vermögen.


Verräterische Zeichen

Eine Reihe weiterer Biomarker verspricht, ein erhöhtes Risiko für Krebs anderer Organe – etwa der Leber – anzuzeigen. Ein bekanntes Karzinogen, das bei der Entstehung von Leberkrebs eine Rolle spielt, ist das Aflatoxin B1; es wird von gewissen Schimmelpilzen gebildet und dringt tief in befallene Lebensmittel ein. Molekular-epidemiologischen Untersuchungen von John D. Groopman und seinen Kollegen an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland) und an anderen Institutionen zufolge hinterläßt die Substanz ebenfalls Fingerabdrücke in Form von Addukten an der DNA. In China, wo Leberkrebs besonders häufig auftritt, hatten Personen, bei denen solche Komplexe beziehungsweise Aflatoxin-Derivate im Urin nachweisbar waren, ein drei- bis vierfach höheres Erkrankungsrisiko als andere. Waren sie auch noch mit dem Hepatitis-B-Virus infiziert, einem weiteren bekannten Leberkarzinogen, so stieg ihr Risiko gar auf das sechzigfache.

Mutationen in Krebsgenen lassen sich gleichfalls als Biomarker nutzen; sie repräsentieren allerdings spätere Ereignisse der in Malignität gipfelnden Entwicklung (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1995, Seite 36). Erweist sich ein Gen als geschädigt, das auch bei vielen anderen Formen von Krebs betroffen ist, so sagt dies normalerweise wenig über das verursachende Agens aus. Der einzelne Typ von Mutation läßt jedoch unter Umständen durchaus Rückschlüsse darauf zu. Dies scheint beispielsweise bei einem der bei Krebs besonders oft mutierten Gene der Fall zu sein: Es codiert für ein Protein mit einem Molekulargewicht von 53000 und trägt deshalb das Kürzel p53. Im normalen Zustand wirkt es als Tumorunterdrücker: Es hemmt Wachstum und Teilung von Zellen mit genetischen Schäden und gibt dadurch den Reparatursystemen Zeit, Defekte zu beheben. Ist das p53-Gen mutiert, können die Zellen solche Schäden eher an ihre Nachkommenschaft weitergeben.

Die von Curtis C. Harris und seinen Mitarbeitern am amerikanischen Nationalen Krebsinstitut gesammelten Indizien legen nahe, daß gewisse Muster von Mutationen im p53-Gen die Identität der verursachenden Substanz widerspiegeln. So findet sich bei Lungentumoren von Rauchern im allgemeinen eine für PAKs und Oxidantien charakteristische Art von Mutation, die in gleicher Weise an vielen Stellen verteilt im Gen auftritt. Bei solchen von Minenarbeitern hingegen, die im Uranbergbau dem radioaktiven Edelgas Radon ausgesetzt gewesen sind, gibt es so etwas wie einen Brennpunkt für Mutationen.

An ebenfalls einem einzigen, aber anderen Bereich von p53 konzentrieren sich gewöhnlich die genetischen Veränderungen im Falle von Lebertumoren, die auf Aflatoxin B1 und das Hepatitis-B-Virus zurückzuführen sind. Jeweils eigene Mutationsspektren dieses Gens findet man auch bei einer seltenen Art von Lebertumor (einem Angiosarkom) infolge beruflicher Vinylchlorid-Exposition (die Substanz ist Ausgangsprodukt für PVC), ferner bei Dickdarmkrebs, der mutmaßlich von Karzinogenen in der Nahrung ausgelöst wurde, sowie bei Tumoren der Haut, die Ultraviolett-Strahlung übermäßig ausgesetzt war. Zwar geben Mutationsspektren keine schlüssige Auskunft über das genaue ursächliche Agens (chemisch verwandte Stoffe beispielsweise bewirken unter Umständen ähnliche Muster), doch in Kombination mit anderen Befunden können sie dieses einkreisen helfen und vor weiterhin unverminderter Exposition warnen.


Biomarker für erhöhte Krebsanfälligkeit

Wie angedeutet, vermögen individuelle Eigenschaften die Entwicklung von Krebs ebenfalls zu beeinflussen. Daraus erklärt sich sicherlich mit, warum die Dosis allein es nicht macht – bei gleicher Exposition trifft nicht alle Menschen das gleiche Schicksal. Molekular-Epidemiologen suchen folglich auch nach Biomarkern für eine erhöhte Krebsanfälligkeit des Organismus – sei sie nun ererbt oder im Verlauf des Lebens erworben.

Einige seltene ererbte Mutationen, die das individuelle Risiko erhöhen, kennt man bereits. Ein Beispiel ist der völlige Ausfall eines Tumorsuppressor-Gens bei einem als Retinoblastom bezeichneten Augentumor (Spektrum der Wissenschaft, November 1988, Seite 92). Bekommt ein Kind eine geschädigte Kopie dieses Rb-Gens von nur einem Elternteil, so kann die gesunde vom anderen Elternteil den Ausfall kompensieren; sobald aber auch die dann durch Zufall mutiert, genügt das unglückliche Zusammentreffen fast schon allein, die Bremsen des Zellwachstums zu lockern und den Tumor entstehen zu lassen. Er tritt deshalb bei erblicher Disposition viel häufiger und dann schon im Kindesalter auf.

Bei Brustkrebs (englisch breast cancer) kennt man inzwischen zwei beteiligte Gene. Haben Frauen beispielsweise eine mutierte Version des BRCA1-Gens geerbt, erkranken sie mit mehr als siebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit im Laufe ihres Lebens daran. Vermutlich gehen aber nur etwa 5 Prozent aller Fälle von Brustkrebs auf einen solchen angeborenen Defekt zurück.

Die meisten der zu Krebs disponierenden Veranlagungen wirken allerdings auf subtilere, weniger direkte Weise: indem sie etwa zur Folge haben, daß der Organismus ein praktisch "stummes" Karzinogen relativ rasch in eine aktive Form umwandelt, gefährliche Stoffe schlechter abfängt und entgiftet oder angerichtete DNA-Schäden nicht ausreichend repariert. Solche Merkmale können unter Umständen harmlos sein, solange man dem ursächlichen Agens nur beschränkt ausgesetzt ist. Aber sie können eben die Entwicklung von Krebs begünstigen, weil sich etwa vermehrt Addukte bilden und mehr bleibende Mutationen nach sich ziehen.

Die unterschiedlichen Reaktionen auf Karzinogene rühren daher, daß gewisse sie kontrollierende Gene innerhalb der Bevölkerung in verschiedenen Versionen (Allelen) vorkommen. Die individuelle Ausstattung mag daher in einem Fall günstiger als im anderen sein.

Verschiedene Versionen von Genen für die Enzymfamilie des Cytochrom-P450-Systems beispielsweise sind mit einer Neigung zu Krebs verbunden. Das System macht ein breites Spektrum gefährlicher Substanzen – gleich ob von außen aufgenommen oder vom Körper selbst produziert – im allgemeinen unschädlich. Gelegentlich entstehen aber bei diesem Prozeß reaktive Zwischenprodukte, die DNA und andere Zellkomponenten zu schädigen vermögen. Diese sogenannten aktivierten Intermediate sind oft erst die eigentlichen Karzinogene: Viele krebserregende Substanzen wären harmlos, würde der Körper selbst sie nicht aktivieren (man spricht hier auch von Präkarzinogenen).

Eines der Enzyme des Systems, das CYP1A1, greift polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe wie Benzpyren an (aus dem ein karzinogenes Derivat entsteht). Molekular-epidemiologischen Studien zufolge haben Raucher mit bestimmten Versionen des dafür codierenden Gens anscheinend ein erhöhtes Risiko für Lungenkrebs, vermutlich weil die resultierenden Enzymvarianten PAKs verstärkt aktivieren. Außerdem scheinen geringfügige Unterschiede in anderen Genen des Systems das Ausmaß zu beeinflussen, in dem weitere Karzinogene wie Aflatoxine, Benzol und Tetrachlorkohlenstoff zur Tumorbildung beitragen. Sie ließen sich deshalb möglicherweise ebenfalls als Marker für Krebsanfälligkeit heranziehen.

Gewisse andere Klassen entgiftender Enzyme arbeiten zuverlässiger zum Wohle des Organismus. Dazu gehören die Glutathion-S-Transferasen (GSTs); eine davon, GSTM1, macht wirkungsvoll PAKs, Ethylenoxid und Styrol unschädlich – Stoffe, die in Tabakrauch, Stadtluft und an bestimmten Arbeitsplätzen auftreten. Etwa der Hälfte aller Weißen fehlt das GSTM1-Gen. Da seine Abwesenheit mit einer erhöhten Neigung zu Blasen- und Lungenkrebs assoziiert ist, ließe sie sich durchaus als Biomarker für eine angeborene Krebsempfindlichkeit heranziehen.

Ein weiteres Enzym, die N-Acetyl-transferase (NAT2), entschärft krebserregende aromatische Amine; enthalten sind sie in verschmutzter Luft, Tabakrauch und bestimmten erhitzten Speisen. Mehreren Befunden zufolge dürfte eine langsamer arbeitende Form dieses Biokatalysators zu Blasenkrebs beitragen. So kommt das Gen dafür bei Erkrankten häufiger als bei Gesunden vor. Außerdem ist bei Personen, deren Körper diese Substanzen langsam inaktiviert, der Gehalt an Blutproteinen mit gebundenen aromatischen Aminen erhöht, wie Paolo Vineis von der Universität Turin (Italien) und Steven R. Tannenbaum vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge nachwiesen.


Erworbene Empfindlichkeit

Auch nicht-genetische Faktoren können den Organismus anfälliger für Krebs machen – etwa Störungen des Hormonhaushalts, Hepatitis und chronischeLungenerkrankungen sowie Beeinträchtigungen des Immunsystems (bei Transplantat-Empfängern beispielsweise, deren Abwehrreaktionen künstlich unterdrückt werden, entwickeln sich häufiger Tumoren). Ferner verweisen überzeugende Indizien auf einen Einfluß der Ernährung: Ist sie arm an frischem Obst und Gemüse, treten diverse Krebserkrankungen häufiger auf, darunter von Lunge, Brust und Gebärmutterhals sowie von Mund, Kehlkopf und Speiseröhre. Diese pflanzlichen Produkte enthalten neben anderen Bestandteilen insbesondere die Vitamine A, C und E, die als Antioxidantien Sauerstoffradikale, PAKs und weitere Chemikalien daran hindern können, die DNA zu schädigen.

Von der molekularen Epidemiologie verspricht man sich eine wesentlich feinere Abschätzung von Erkrankungsrisiken, weil sie Unterschiede in ererbter wie erworbener Krebsanfälligkeit innerhalb einer Population berücksichtigt. Die Risiken aufgrund einzelner genetischer Merkmale zu ermessen ist freilich, wie ich betonen möchte, in den meisten Fällen unzureichend und kann sogar fehlleiten. Vieles vermag den Effekt eines subtil wirkenden Gens zu beeinflussen: außer Umwelt, Ernährungs- und Gesundheitszustand auch andere Gene und etliche weitere Charakteristika des Individuums.

Noch komplexer wird die Sache dadurch, daß gewisse genetische Merkmale das Risiko für eine bestimmte Art von Krebs senken, für eine andere aber erhöhen können. Die Enzymvariante NAT2 beispielsweise entgiftet Blasen-, aktiviert jedoch Dickdarmkarzinogene. Dennoch: erfaßt und bewertet man mehrere Merkmale im Verein mit Exposition und Frühschäden auf molekularer Ebene, so sollten sich Risiken schließlich aussagekräftig abschätzen lassen.


Speziell gefährdete Gruppen

Noch ist die molekular-epidemiologische Forschung nicht so weit, das Krebsrisiko jeder beliebigen Person genau bewerten zu können. Aber Unterschiede darin zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen und Altersklassen hilft sie mittlerweile klären.

Aus konventionellen epidemiologischen Studien war beispielsweise bekannt, daß in der schwarzen amerikanischen Bevölkerung die Neuerkrankungs- und Mortalitätsraten bei manchen Krebsarten höher sind als in der weißen. So ist bei schwarzen Männern die Inzidenz, die Zahl neudiagnostizierter Erkrankungen pro 100000 Menschen, für eine bestimmte Form von Speiseröhrenkrebs dreimal und für Lungenkrebs anderthalbmal so hoch; und in der Altersgruppe unter 40 Jahren erkranken schwarze Frauen häufiger an Brustkrebs als weiße (in der Gruppe über 40 Jahren ist es jedoch genau umgekehrt).

Aus einer zusammenfassenden Auswertung vieler Studien ergeben sich erdrückende Hinweise, daß dies zumindest teilweise wohl einer stärkeren Karzinogen-Exposition anzulasten ist; für andere Minoritäten gilt dies ebenfalls. In den USA sind Farbige wie auch Weiße mit niedrigem Einkommen verhältnismäßig stärker gewissen Umweltbelastungen ausgesetzt, etwa durch Blei (wie ausalten Wasserleitungen), Luftverschmutzung und gefährliche Abfallstoffe. Außerdem ist die Ernährung einkommensschwacher Personen oft arm an Vitaminen und anderen Schutzstoffen.

Angeborene Schwächen in der körpereigenen Verarbeitung von Karzinogenen könnten nach molekular-epidemiologischen Befunden das Problem noch verschärfen. So tritt eine bestimmte Variante des Enzyms CYP1A1 (das krebserzeugende Stoffe aktiviert) nur bei Afroamerikanern auf; sie wurde in einer Studie mit erhöhtem Risiko für das Alveolarzellenkarzinom, eine bestimmte Form von Lungenkrebs, in Verbindung gebracht. Die Wahrscheinlichkeit, daran zu erkranken, ist für rauchende Schwarze mit dieser Enzymvariante zwei- bis dreimal größer als für solche ohne. Ferner scheinen DNA-Schäden durch PAKs im Falle afrikanischer Abstammung häufiger als bei mexikanischer aufzutreten. Eine weitere genetische Variante, diesmal des H-ras-Gens, kommt bei Schwarzen öfter als bei Weißen vor; sie geht auf noch ungeklärte Weise mit einem erhöhten Risiko für Leukämie sowie für Krebs von Lunge, Brust, Dickdarm und Blase einher. Keine ethnische Gruppe scheint zwar generell für Krebs anfälliger zu sein als andere, aber in jeder kommen offenbar jeweils spezifische genetische Merkmale, die als Risikofaktoren für bestimmte Tumorformen angesehen werden, relativ oft vor.

Seit langem ist bekannt, daß auchdas Lebensalter während der Expositiondie Erkrankungswahrscheinlichkeit beeinflussen kann. Studien an Tieren wie an Menschen deuten darauf hin, daß eine Vielzahl von Umweltkarzinogenen Ungeborene und Kinder wohl stärker gefährdet als Erwachsene. Gleich ob Luftverschmutzung, Tabakrauch, PAKs, Pestizide, Nitrosamine, Aflatoxin B1 oder Strahlung – im Vergleich zu spät einsetzender Exposition kann bei früh einsetzender (bereits im Mutterleib oderim Kindesalter) das Risiko, im Laufedes Lebens Krebs zu bekommen, erhöht sein.

Dabei spielt sowohl die längere Inkubationszeit mit, über die sich genetische Schäden dann in den Zellen anzuhäufen vermögen, als auch die höhere Zellteilungsrate des sich noch entwickelnden und wachsenden Organismus; sich teilende Zellen sind für Schädigungen anfälliger als ruhende. Außerdem entgiftet der Körper jüngerer Kinder, wie molekular-epidemiologische Studien aufzeigten, bestimmte kanzerogene Substanzen weniger effizient und repariert Schäden auf molekularer Ebene schlechter. Schließlich nehmen Kinder im Verhältnis zum Körpergewicht manche Karzinogene oft in höheren Anteilen auf als Erwachsene; im Falle von Dioxin beispielsweise kommen Säuglinge auf schätzungsweise das zehn- bis zwanzigfache pro Tag.

Weitere Belege bieten unsere Messungen der Addukte von PAKs im Blut: In einer umweltverschmutzten Region Osteuropas übertraf ihr Gehalt an der DNA bei Neugeborenen den ihrer Mütter, obgleich ein Fetus nur etwa einem Zehntel der PAK-Dosis ausgesetzt ist, welche die Mutter aufnimmt; und jüngere Kinder von noch relativ mäßigen Raucherinnen (im Schnitt zehn Zigaretten täglich) haben im Vergleich zu denen von Nichtraucherinnen einen deutlich höheren Gehalt an PAK-Addukten, diesmal an dem Protein Albumin, einem indirekten Anzeiger für DNA-Schädigung (Bild 4).


Gesundheitspolitische Implikationen

Aus der molekular-epidemiologischen Forschung über Krebs ergeben sich zwei für die öffentliche Gesundheit bedeutsame allgemeine Folgerungen. Zum einen wurde die bereits eindrucksvolle Fülle von Indizien dafür bestätigt, daß die meisten Krebsarten eine Umweltkomponente haben. Ihnen vorbeugen ließe sich mithin einerseits durch Aufklärung, die einzelne Personen bewegt, ein gefährliches Verhalten aufzugeben, und andererseits durch gesetzliche Maßnahmen, welche die unfreiwillige Karzinogen-Exposition einzelner Gruppen oder der Gesamtbevölkerung am Arbeitsplatz sowie inWasser, Luft und Nahrung vermindern. Schätzungen nach wäre ohne umweltbedingte Expositionen die Rate der Neuerkrankungen immerhin um bis zu 90 Prozent geringer.

Zum anderen untermauern die molekularen Erkenntnisse andere überzeugende Indizien dafür, daß Umweltkarzinogene für manche Gruppen der Bevölkerung schädlicher sind als für andere, die ihnen in gleichem Maße ausgesetzt sind. Folglich lassen sich entscheidende Fortschritte in der Krebsprävention nur erzielen, wenn ihr Schutz durch regulatorische, gesundheitserzieherische und andere Maßnahmen gewährleistet wird.

Die meisten Ansätze zur Risikoabschätzung unterstellen derzeit fälschlich, alle Individuen einer Population reagierten auf dasselbe krebsauslösende Agens auch gleich. Dadurch kann die Gefährdung bestimmter Gruppen erheblich unterschätzt werden. Nach Berechnungen von Dale B. Hattis und seinen Kollegen an der Clark-Universität in Worcester (Massachusetts) könnten einige wenige Faktoren, welche die Anfälligkeit gegenüber Krebs erhöhen, das Risiko einer Untergruppe gegenüber dem einer fiktiven Standardpopulation zugeschriebenen Wert mindestens verzehnfachen. Darum sollten spezifische Risiken bestimmter Personenkreise – Frauen, Männer, Kinder, Erwachsene oder Alte, beruflich belastete oder ethnische Gruppen – für das jeweilige Karzinogen abgeschätzt und bekanntgemacht werden. Regulatorische Entscheidungen, die ohne Berücksichtigung der individuellen oder gruppentypischen Unterschiede getroffen werden, könnten den am meisten Gefährdeten die größten Risiken aufbürden.

Vorbeugen ist besser als heilen – das gilt in besonderem Maße für Krebs. Ließe sich die Zahl der Neuerkrankungen allein in den USA nur um 20 Prozent senken, bliebe gut 270000 Menschen im Jahr die bittere Diagnose erspart. Die Molekular-Epidemiologie kann zur Entwicklung gezielt vorbeugender Maßnahmen wesentlich beitragen; neue wissenschaftliche Anstöße, die verwundbarsten Mitglieder der Gesellschaft zu schützen, hat sie bereits gegeben.

Literaturhinweise

- Molecular Epidemiology and Carcinogen-DNA Adduct Detection: New Approaches to Studies of Human Cancer Causation. Von F. P. Perera und I. B. Weinstein in: Journal of Chronic Diseases, Band 35, Seiten 581 bis 600, 1982.

– Molecular and Genetic Damage from Environmental Pollution in Poland. Von F. Perera und anderen in: Nature, Band 360, Seiten 256 bis 258, 19. November 1992.

– Molecular Epidemiology. Herausgegeben von P. A. Schulte und F. P. Perera. Academic Press, 1993.

– p53: At the Crossroads of Molecular Carcinogenesis and Risk Assessment. Von C. C. Harris in: Science, Band 262, Seiten 1980 bis 1981, 24. Dezember 1993.

– Molecular Biomarkers for Aflatoxins and Their Application to Human Cancer Prevention. Von J. D. Groopman und anderen in: Cancer Research, Band 54, Heft 75, Seiten 1907S bis 1911S, 1. April 1994.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 48
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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