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Sulzströme - eine verkannte Gefahr

Vor vier Jahren konnten Wissenschaftler auf Spitzbergen erstmals einen zu Tal rasenden Massestrom aus wassergesättigtem Schnee und mitgerissenem Sediment direkt beobachten und untersuchen, wobei ein Expeditionsteilnehmer ums Leben kam. Inzwischen wurden die Auslösefaktoren und die Dynamik solcher Vorgänge genauer ergründet.

Mit der Schneeschmelze im Frühjahr nimmt nicht nur die Lawinengefahr zu, sondern es tritt auch vermehrt ein anderes, weniger beachtetes Phänomen auf: das Sulzfließen. Benannt ist es nach dem Wort sulzig, mit dem die Bewohner des deutschsprachigen Alpenraums die Konsistenz von matschigem, aufgeweichtem Schnee charakterisieren. Dieser kann sich bei plötzlichem Tauwetter oder Regen hangabwärts in Bewegung setzen und auf dem Weg ins Tal große Mengen Schlamm, Geröll und Gestein mitreißen – mit manchmal katastrophalen Folgen. So fiel einem solchen Strom aus Wasser, Schnee und Geröll in den fünfziger Jahren das Krankenhaus von Langyearbyen, dem Verwaltungszentrum von Spitzbergen, zum Opfer.

Wissenschaftlich haben das Phänomen Albert Lincoln Washburn vom Dartmouth College in Hanover (New Hampshire) und Richard P. Goldthwait von der Ohio State University in Columbus erstmals 1958 beschrieben. In den sechziger Jahren erklärte dann Anders Rapp von der Universität Lund (Schweden) umfangreiche Gesteinsablagerungen im nordschwedischen Kärkevagge, die nicht von Gletschern, Hangrutschen, Bergstürzen oder Lawinen stammen konnten, mit gewaltigen Sulzströmen. Aber bis vor vier Jahren hatte noch nie ein Wissenschaftler eine solche katastrophenartige Schnee-Wasser-Geröllflut zum Zeitpunkt des Losbrechens beobachtet.

Zwei von uns (Scherer und Gude) erhielten bei drei geowissenschaftlichen Expeditionen zur Liefdefjord-Region auf Nordwest-Spitzbergen, die im Rahmen des Projekts "Stofftransport Land – Meer in polaren Geosystemen" in den Jahren 1990 bis 1992 stattfanden, Gelegenheit, das Phänomen vor Ort zu studieren. An dem Projekt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Schweizer Nationalfonds gefördert wurde, nahmen insgesamt 120 Wissenschaftler aus Deutschland, der Schweiz und Norwegen teil. Die beiden Forschergruppen, die sich speziell für Sulzströme interessierten, standen unter Leitung von Dietrich Barsch von der Universität Heidelberg und Eberhard Parlow von der Universität Basel. Die Schweizer Geographen untersuchten bevorzugt die meteorologisch-klimatologischen Entstehungsbedingungen, während sich die Heidelberger auf die eigentlichen Transportprozesse konzentrierten.

Normalerweise bewegt sich ein Sulzstrom langsam – mit Geschwindigkeiten zwischen 0,1 bis 1 Meter pro Sekunde. Die Abflußmengen bei diesem Sulzfließen, das am Liefdefjord regelmäßig in der ersten Junihälfte zu beobachten war, liegen in der Größenordnung von einem Kubikmeter pro Sekunde. Interessanterweise traten die Ströme in der gesam-ten Region nahezu zeitgleich auf – und, was noch erstaunlicher war, bei sehr unterschiedlichen Witterungsbedingungen. In den Jahren1990 und 1992 schien die Sonne; doch 1991 war der Himmel meist von dichten Wolken bedeckt, und noch kurz vor den Abgängen hatte die Temperatur um den Gefrierpunkt gelegen. Dies widersprach der bis dahin gängigen Ansicht, daß starke Niederschläge oder Schneeschmelze notwendige Auslösefaktoren seien.

Als entscheidendes Kennzeichen von Sulzströmen erwies sich, daß sie anders als Lawinen bei geringer Hangneigung auftreten. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel beobachteten wir am 5. Juni 1990 (Bild 2). An diesem Tag bildete sich ein Sulzstrom an einem nur 6 Grad geneigten Hang und kam wieder zum Stehen, als er etwa doppelt so steiles Gelände erreichte. Kurze Zeit später setzte er sich ein Stück weiter unten auf nur 2 Grad geneigtem Gelände fort.

Dieses paradox anmutende Verhalten erklärt sich durch den besonderen Entstehungsmechanismus. Anders als Lawinen werden Sulzströme nicht direkt durch die Schwerkraft ausgelöst, sondern durch einen hydrostatischen Druckgradienten in wassergesättigtem Schnee. Dieser baut sich auf, wenn sich durch die Schneeschmelze oder durch Regen über dem gefrorenen, undurchlässigen Boden große Wassermengen ansammeln, die nicht schnell genug durch den Schnee abfließen können. Die Wasseroberfläche innerhalb der Schneedecke ist dann nicht mehr horizontal, sondern fällt in Talrichtung leicht ab. Das Bestreben der gekippten Wasserfläche, eine horizontale Lage einzunehmen, erzeugt einen Druckgradienten innerhalb der Schneedecke, der nicht mehr durch deren inneren Zusammenhalt ausgeglichen werden kann.

Wäre die Schwerkraft der entscheidende Faktor, hätte sich im geschilderten Falle der Strom im steileren Gelände beschleunigen müssen. Er stoppte statt dessen, weil das Schmelzwasser wegen der größeren Hangneigung in ausreichendem Maße abfließen konnte, wodurch die wassergesättigte Zone und damit der hydrostatische Druckgradient verschwand. Einige hundert Meter tiefer sammelte sich das Schmelzwasser dagegen wieder an und brachte die Schneemassen erneut ins Rutschen.

Starkregen, die auf dem norwegischen Festland die meisten Sulzströme verursachen, treten in der Hocharktis nicht oder nur sehr selten auf. In polaren Breiten sind demnach hohe Schmelzraten der entscheidende Faktor.

Sie resultieren allerdings nur zu einem geringen Teil aus intensiver Sonneneinstrahlung. Da Schnee zwischen 70 und 95 Prozent des einfallenden Sonnenlichts reflektiert, nimmt er nur wenig direkte solare Strahlungsenergie auf. Aber im infraroten Spektralbereich ist er ein sehr guter Absorber. Bei leichter Bewölkung kann eine Schneedecke deshalb unter Umständen mehr Strahlungsenergie aufnehmen als bei klarem Himmel und Sonnenschein.

Viel bedeutsamer für die Schneeschmelze sind Einbrüche von Warmluft mit relativ hohen Windgeschwindigkeiten. Je höher die Lufttemperatur und je stärker die vom Wind verursachte Turbulenz ist, desto mehr Energie wird an die Schneedecke abgegeben. Während astronomische Gegebenheiten der Nettostrahlung enge Grenzen setzen, kann dieser Wärmestrom unter entsprechenden Wetterbedingungen extrem hohe Werte erreichen.

Eine solche Situation trat im Sommer 1992 in Spitzbergen auf. Am 10. Juni kam es zu einem extremen Wärmeeinbruch, während der Liefdefjord noch größtenteils zugefroren war. An den meteorologischen Stationen wurden Rekordtemperaturen bis zu 15 Grad Celsius gemessen, und die Windgeschwindigkeiten lagen zwischen 5 und 10 Metern pro Sekunde mit zum Teil noch viel höheren Spitzenwerten.

Als Folge davon setzten am 11. Juni gegen Mittag im gesamten Umkreis des Fjords kleinere Sulzströme ein. Gegen 16 Uhr beobachteten zwei Expeditionsteilnehmer, wie am Westhang im oberen Teil eines Seitentals, durch das der Kvikkåa in den Fjord fließt, plötzlich ein etwa 2000 Kubikmeter großes Schneepaket abrutschte. Als das geröll- und schlammbeladene Schnee-Wasser-Gemisch den Talboden erreichte, spritzte es explosionsartig auf. Dann folgte es über knapp zwei Kilometer dem Verlauf des schmalen Canyons und durchströmte ihn in etwa 60 bis 90 Sekunden, wobei es Geschwindigkeiten von 20 bis 30 Metern pro Sekunde erreichte.

Am Canyon-Ausgang schüttete der Strom einen mehr als 200 Meter langen und bis zu sieben Meter hohen Wall auf und beschleunigte sich, vom Großteil der Schnee- und Geröll-Last befreit, auf den verbleibenden 600 Metern bis zur Küste auf Geschwindigkeiten von mehr als 30 Metern pro Sekunde. Auf gut 50 Metern Breite raste er über die Küstenlinie hinaus und lud noch 150 Meter dahinter Gesteinsblöcke mit mehr als einem Meter Kantenlänge auf dem vereisten Fjord ab.

Der Sulzstrom verfehlte das 50 Meter vom Flußlauf entfernt aufgeschlagene Basislager der Expedition nur knapp. Drei Wissenschaftler wurden von ihm erfaßt und bis zu 300 Meter weit mitgerissen, trugen jedoch wie durch ein Wunder keine ernsthaften Verletzungen davon (Bild 1). Wenig später zog allerdings ein neuerlicher Sulzstrom den Heidelberger Geographen Andreas Fieber unter das Meereis, so daß er ertrank.

Nach dem tödlichen Unglück und aufgrund der extremen Gefährdung des Basislagers wurde das Gebiet per Hubschrauber evakuiert. Aber zehn Tage später konnten die Geländearbeiten wieder aufgenommen werden. Mittels umfangreicher Vermessungen suchten die Forscher die Ereignisse zu rekonstruieren. Bei der späteren rechnerischen Auswertung der Meßergebnisse zogen sie auch meteorologische Daten, ein hochgenaues digitales Reliefmodell sowie Satellitendaten der Systeme Landsat-TM, ERS-1 und NOAA-AVHRR heran (Bild 3).

So konnte jene verheerende Variante des Transportprozesses, die heute als Sulzmure bezeichnet wird, erstmals wissenschaftlich dokumentiert und auf der Internationalen Polartagung 1993 der Deutschen Gesellschaft für Polarforschung in Obergurgl (Österreich) vorgestellt werden. Wie die nachträglichen Abschätzungen und Berechnungen ergaben, beförderte die Mure auf ihrem Höhepunkt etwa 6000 Kubikmeter Schnee, Wasser und Geröll pro Sekunde durch das Tal und schaffte insgesamt mehr Gesteinsmaterial in Richtung Meer als alle anderen Transportvorgänge im Jahr 1992 zusammen.

Die neueren Forschungen konzentrieren sich auf die Frage, wo auf der Welt mit welcher Häufigkeit Sulzströme auftreten. Wissenschaftlich ist dieses Phänomen mit einer Ausnahme bisher nur in höheren nördlichen Breiten beschrieben worden; doch dürfte es nach Augenzeugenberichten ebenso in alpinen Gebirgen vorkommen. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob und wie globale Klimaänderungen die Häufigkeit und Stärke von Sulzströmen beeinflussen. Erste qualitative Ableitungen deuten darauf hin, daß bei der prognostizierten globalen Erwärmung die Intensität und Häufigkeit beider Sulzstrom-Varianten in den hocharktischen Gebieten zunehmen dürfte. Für die subpolaren Räume und die mittleren Breiten ergibt sich noch kein klares Bild, weil die Aussagen über die künftige Niederschlagsverteilung und die Entwicklung in den Permafrostgebieten noch zu unsicher sind. Es zeichnet sich jedoch ab, daß Sulzmuren auch in diesen Regionen verstärkt und häufiger auftreten werden.

Am MCR Lab (Meteorology, Climatology and Remote Sensing Laboratory) in Basel wird daran gearbeitet, das Fließen der wassergesättigten Schneemassen im Computer zu simulieren – in der Hoffnung, die Bedeutung der verschiedenen Einflußfaktoren besser quantifizieren zu können. Um weitere Daten für die Modellierung zu gewinnen, nahmen Wissenschaftler der Universitäten Heidelberg und Basel im Mai und Juni letzten Jahres vertiefende Felduntersuchungen in Nordschweden vor. Dabei konnten sie erstmals eine Sulzmure mit einer Videokamera filmen. Direkt beobachtet und genauer untersucht wurde auch eine verheerende Flut aus Schnee, Wasser und Geröll, die auf einer Breite von 50 Metern den Schotterkörper der Bahnlinie zwischen Kiruna und Narvik zerstörte. Aus diesem Anlaß erörterten die Forscher auf einer kurzfristig einberufenen Tagung mit Ingenieuren der Schwedischen Eisenbahn mögliche Warn- und Präventionsmaßnahmen. Der Vorfall bestätigte das Ergebnis der wissenschaftlichen Untersuchungen, wonach Vorkehrungen, die sich bei Lawinen bewährt haben, gegen Sulzmuren nutzlos sind.

Insgesamt erscheinen diese Ströme als ernst zu nehmende Gefahrenquellen, die nicht nur bei Baumaßnahmen in polaren, subpolaren und alpinen Gebieten, sondern auch bei der Planung von Expeditionen und touristischen Unternehmungen zu berücksichtigen sind. Das Wissen darum sollte ebenso Allgemeingut werden wie die Kenntnis der Lawinengefahr.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1996, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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