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Nobelpreis für Physik: Superflüssige Materie

Der diesjährige Physik-Nobelpreis würdigt Theorien, die wesentlich zum Verständnis von technisch bedeutenden Supraleitern und von anisotropen Supraflüssigkeiten beigetragen haben.


Für das tägliche Leben ist es praktisch, als Referenzpunkte der Temperaturskala die Gefrier- und Siedepunkte von Wasser zu nehmen und sie in hundert gleiche Teile zu teilen. Doch physikalisch macht es mehr Sinn, von dieser Celsius- zur Kelvinskala überzugehen: Null Kelvin entspricht dann dem absoluten Nullpunkt (bei -273,16 Grad Celsius), den wir nicht unterschreiten und auch nie wirklich erreichen können. Dabei ist diese absolute Temperaturskala eigentlich eine logarithmische: Zwischen 1 und 2 Kelvin (was einer Energieverdopplung entspricht) hat genauso viel "Physik" Platz wie zwischen 100 und 200 Kelvin. Und zwischen 1 Millikelvin und 1 Kelvin hält die Natur im Prinzip genauso viele Überraschungen bereit wie zwischen 1 Kelvin und 1000 Kelvin.

Deshalb ist die Tieftemperaturphysik ein äußerst ergiebiges Forschungsfeld, auf dem in den letzten hundert Jahren viele verblüffende Phänomene entdeckt wurden. Haben schon früher etliche Tieftemperaturphysiker den Nobelpreis erhalten, so wurden nun erneut wichtige Pioniere auf diesem Gebiet ausgezeichnet: Alexej Alexejewitsch Abrikossow, Witalij Lasarewitsch Ginsburg und Anthony J. Leggett, die in den 1950er beziehungsweise 1970er Jahren das Verhalten bestimmter Klassen von Supraleitern und Supraflüssigkeiten erklärt haben.

Als Supraleiter bezeichnet man Materialien, die elektrischen Strom ohne Widerstand leiten. Eine Supra- oder Superflüssigkeit ist eine Substanz, die ohne Reibung strömt. Beide Effekte sind nur mit Hilfe der Quantenphysik zu verstehen. Die Besonderheit ist hier jedoch, dass sich die Quanteneffekte makroskopisch – also in unseren vertrauten Dimensionen – bemerkbar machen. Bisher sind drei Teilchensysteme erforscht, die solche makroskopischen Quantenerscheinungen zeigen: die Leitungselektronen in gewissen Feststoffen sowie die Atome in flüssigem Helium-3 und -4.

Gemeinsam in denselben Zustand

Auf das Phänomen der Supraleitung stieß der Niederländer Heike Kammerlingh-Onnes 1911. Drei Jahre zuvor war es ihm erstmals gelungen, Helium-4 zu verflüssigen, das bei 4,2 Kelvin siedet. Das sollte sich als Geburtsstunde der Tieftemperaturphysik erweisen (Spektrum der Wissenschaft 2/1990, S. 72).

Der Physiker Pjotr Kapiza von der Universität Moskau und seine Kollegen Jack F. Allen und A. D. Misener von der Universität Cambridge entdeckten 1938 unabhängig voneinander die superflüssige Phase von Helium-4: Die Viskosität der Flüssigkeit sank unterhalb von 2,1 Kelvin auf unmessbar kleine Werte. Dann konnte sie selbst durch winzigste Poren dringen; darin erzeugte Wirbel blieben praktisch unbegrenzt erhalten. Kapizas Institutskollege Lew D. Landau vermochte binnen weniger Monate die Superfluidität zu beschreiben, indem er quantisierte Schallwellen und Wirbel postulierte.

Helium-4 besteht aus je zwei Neutronen und Protonen im Kern. Jede dieser vier Komponenten hat einen Eigendrehimpuls – einen so genannten Spin – mit dem Wert ½. Teilchen mit einem solchen halbzahligen Spin heißen Fermionen und unterliegen einem Ausschließungsprinzip: Jeder Quantenzustand kann nur von einem einzigen Fermion besetzt sein.

Da sich im Helium-4 die Spins der einzelnen Teilchen aber paarweise aufheben, ist der Spin des Kerns null. Teilchen mit ganzzahligem Spin sind Bosonen; sie gehorchen einer Quantenstatistik, die von Satyendra Nath Bose und Albert Einstein beschrieben wurde. Insbesondere unterliegen Bosonen keinem Ausschließungsprinzip, sie können sich in beliebiger Anzahl im selben Zustand tummeln. Bei genügend tiefer Temperatur tun Helium-4-Atome genau das: Sie gehen gemeinsam in den energetisch tiefsten Einteilchenzustand über. Helium-4 ist somit das einfachste Beispiel eines Bose-Einstein-Kondensats. Mit größeren Atomen gelang die Herstellung eines solchen Kondensats erst Mitte der 1990er Jahre – wofür Wolfgang Ketterle, Eric A. Cornell und Carl E. Wieman 2001 den Physik-Nobelpreis erhielten (Spektrum der Wissenschaft 12/2001, S. 12).

Helium-3-Kerne haben ein Neutron weniger als diejenigen von Helium-4. Mit dem resultierenden Kernspin ½ sind sie Fermionen, wodurch sie dem Ausschließungsprinzip unterliegen. Helium-3 kann deshalb nicht auf gleiche Weise denselben Energiezustand besetzen und superflüssig werden wie Helium-4.

Da Helium-3 im natürlichen Helium nur mit einem Anteil von 10-6 vorkommt, dauerte es bis zu den 1950er Jahren, bis dieses Isotop in nennenswerter Menge zur Verfügung stand: Für die Herstellung von Wasserstoffbomben erzeugten die USA und die damalige Sowjetunion in speziellen Kernreaktoren das Wasserstoff-Isotop Tritium, das sich mit einer Halbwertszeit von 12,3 Jahren in Helium-3 umwandelt.

Im Jahre 1957 war es John Bardeen, Leon N. Cooper und J. Robert Schrieffer gelungen, das Phänomen der Supraleitung zu erklären. Für die Entwicklung der nach ihnen benannten BCS-Theorie erhielt das Trio 1972 den Nobelpreis. Die Leitungselektronen in Metallen können sich demnach infolge einer subtilen Wechselwirkung zu Paaren zusammenfinden. Diese Cooper-Paare sind keine Fermionen mehr, sondern Bosonen, die als Bose-Einstein-Kondensat einen gemeinsamen Quantenzustand besetzen können. Gehen also Helium-3-Atome vielleicht ebenfalls eine Cooper-Paarung ein und werden dadurch superflüssig?

Wirklich konnten Douglas D. Oshe-roff, Robert C. Richardson und David M. Lee Ende 1971 den superfluiden Zustand von Helium-3 bei einer Übergangstemperatur von 2,6 Millikelvin nachweisen – wofür sie 1996 den Nobelpreis erhielten (Spektrum der Wissenschaft 8/1990, S. 64, und 12/1996, S. 25). Es zeigten sich sogar zwei verschiedene superflüssige Phasen, A und B genannt, und unter Einwirkung eines Magnetfeldes entsteht noch eine dritte Phase, A1.

Weil die Helium-4-Atome und die Cooper-Paare in der BCS-Theorie Kugelsymmetrie haben, sind die Eigenschaften des entstehenden Bose-Einstein-Kondensats isotrop, das heißt in allen Richtung gleich. Die Cooper-Paare oder "Quasiteilchen" in Helium-3 haben jedoch eine interne Struktur, wodurch sie innere Freiheitsgrade aufweisen. Dadurch sind viele Eigenschaften von superflüssigem Helium-3 richtungsabhängig – zum Beispiel die Strömungsgeschwindigkeit der gesamten Substanz und die Ausbreitung von Schallwellen in ihr.

Gebrochene Symmetrien

Schon 1937 hatte Landau für bestimmte Phasenübergänge einen "Ordnungsparameter" eingeführt, der im ungeordneten Zustand oberhalb einer kritischen Temperatur null ist, während er im geordneten Zustand unterhalb davon einen endlichen Wert hat. Dieses Konzept ließ sich nun auf Cooper-Paare in Supraflüssigkeiten übertragen, denn hierbei liegt eine neue Ordnung vor, die es im normalen Zustand nicht gibt. Zugleich ändert sich beim Phasenübergang die Symmetrie des Systems: Oberhalb der kritischen Temperatur ist sie höher als darunter.

Diese Symmetrieänderungen – Physiker sprechen von spontaner Symmetriebrechung – untersuchte der diesjährige Preisträger Anthony J. Leggett 1972 genauer. Die inneren Freiheitsgrade im suprafluiden Helium-3 lassen sich durch zwei Vorzugsrichtungen beschreiben: einen Freiheitsgrad bezüglich des Kernspins der Atome und einen bezüglich ihres Bahndrehimpulses. Beide können unabhängig voneinander geordnet sein. Dieser Fall ist in der superflüssigen A-Phase von Helium-3 verwirklicht. Alle Kernspins zeigen in dieselbe Richtung; Gleiches gilt für die Bahndrehimpulse. In der B-Phase liegt, wie Leggett weiter erkannte, eine andere Art der Symmetriebrechung vor: Hier sind im Unterschied zur A-Phase zwar weder die Spins noch die Bahndrehimpulse geordnet, aber beide nehmen in allen Quasiteilchen denselben Winkel zueinander ein.

Mit seinen Arbeiten gelang Leggett ein Durchbruch im Verständnis anisotroper Superflüssigkeiten. Er erkannte als Erster, dass im suprafluiden Helium-3 mehrere Symmetrien gleichzeitig gebrochen sind, was von keiner anderen Substanz bekannt war. Auch eine relative Symmetrie war etwas absolut Neues.

Anisotropie spielt auch in den Arbeiten der beiden anderen Preisträger eine Rolle. Denn die BCS-Theorie von 1957 erlaubte zwar die Beschreibung der Supraleitung als isotrope Superflüssigkeit von Leitungselektronen, doch ließ sie sich nicht auf anisotrope Eigenschaften anwenden. Zudem versagte sie bei inhomogenen Superflüssigkeiten, deren Ordnungsparameter – etwa bei Anwesenheit eines Magnetfeldes – räumlich variiert.

Damit taugte sie auch nicht zur Beschreibung so genannter Supraleiter der zweiten Art. Im Unterschied zu solchen der ersten Art, die ein Magnetfeld vollständig verdrängen, können in ihnen Supraleitung und Magnetfelder gemeinsam auftreten. Das ermöglicht heute den Bau leistungsfähiger Magnete. In Kernspintomografen sind Supraleiter der zweiten Art ebenso zu finden wie in den riesigen Magneten, die bei den Teilchenbeschleunigern LHC in Genf und Tesla in Hamburg zum Einsatz kommen.

Die Unterscheidung der beiden Arten von Supraleitern stammt von Ginsburg und Landau. In einem bahnbrechenden Artikel von 1950 interpretierten sie den Ordnungsparameter, der zur quantitativen Behandlung der Supraleitung dient, als makroskopische Wellenfunktion. Durch Einführen eines weiteren, dimensionslosen Parameters konnten sie erstmals das unterschiedliche magnetische Verhalten der beiden Supraleitertypen erklären. Heute weiß man, dass dieser Parameter von zwei charakteristischen Längen abhängt: der Kohärenzlänge, die man als räumliche Ausdehnung eines Cooper-Paares auffassen kann, und der Eindringtiefe des Magnetfeldes in die Oberflächenschicht.

Landau wurde schon 1962 für seine zahlreichen Verdienste um die theoretische Physik mit dem Nobelpreis geehrt. Mit der Auszeichnung von Ginsburg würdigt das Nobelkomitee nun auch den zweiten Autor der Pionierarbeit von 1950. Im Jahre 1916 geboren, gilt er als einer der Patriarchen der russischen Physik und hat auf vielen Gebieten große Leistungen vollbracht.

Alexej Abrikossow, damals am Kapiza-Institut für physikalische Probleme in Moskau, nahm sich 1952 eines Problems an, auf das sein Zimmerkollege N.W. Sawaritskij gestoßen war, als er an dünnen supraleitenden Schichten die Vorhersagen der Ginsburg-Landau-Theorie überprüfte. Bei der Abhängigkeit des kritischen Magnetfeldes von der Schichtdicke und der Temperatur fand er Abweichungen.

Geordnete Wirbel

Abrikossow bemerkte, dass die speziellen Eigenschaften der Supraleiter zweiter Art eine Erweiterung der Ginsburg-Landau-Theorie erforderten. Nachdem seine Neuberechnungen die Messungen von Sawaritskij bestätigt hatten, führte er seine Forschungen fort. Er erkannte, dass es Wirbel im Ordnungsparameter von Supraleitern der zweiten Art geben müsse, und beschrieb ihre Bedeutung für das gemeinsame Auftreten von Magnetfeld und superflüssiger Phase. Er legte zudem detailliert dar, wie ein Magnetfeld mit zunehmender Stärke die Supraleitung schließlich unterdrücken könne: Die Wirbel oder Flusslinien, die ein regelmäßiges Gitter bilden, nähern sich einander, bis sich bei einer bestimmten Feldstärke die Kerne der Wirbel überlappen, wodurch das Material in den normalleitenden Zustand zurückkehrt.

Abrikossow konnte seine 1953 aufgestellte Theorie wegen Einwänden Landaus erst 1957 veröffentlichen. Beachtung fand sie dann im Laufe der 1960er Jahre, als supraleitende Materialien mit sehr hohen kritischen Magnetfeldern entdeckt worden waren. Die verdiente Anerkennung kam schließlich, als Uwe Essmann und Hermann Träuble vom Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart 1967 das Wirbelgitter experimentell nachweisen konnten. Die Verleihung des Nobelpreises würdigt Abrikossows Arbeiten nun ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2003, Seite 20
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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