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Symbolische Integration


Alle wichtigen Gesetze der Physik setzen die Geschwindigkeit, mit der ein Zustand sich ändert, mit diesem selbst in Beziehung. Aus dem zeitlichen Verlauf eines Zustandes dessen Änderungsgeschwindigkeit zu berechnen ist deshalb eine der zentralen Techniken der modernen Analysis: das Differenzieren einer Funktion. Ebenso bedeutend ist die Umkehrung dieser Aktion, das Integrieren: Zu einer gegebenen Funktion ist die sogenannte Stammfunktion (das unbestimmte Integral) zu finden; das ist diejenige Funktion, die differenziert wieder die ursprüngliche ergibt. In der Schule oder im Studium lernt man, daß sowohl Differenzieren als auch Integrieren über Grenzwertprozesse definiert sind: Geschwindigkeit zu einem gewissen Zeitpunkt ist nicht Weg durch Zeit, sondern der Weg, der in einer sehr kurzen Zeitspanne zurückgelegt wird, geteilt durch diese kurze Zeitspanne, und davon der Grenzwert für unendlich kleine Zeitspannen. Aber darüber muß man sich in der Praxis nur ausnahmsweise Gedanken machen. Um eine Funktion zu differenzieren, genügt es fast immer, einige Regeln ziemlich schematisch anzuwenden. Die bedeutendsten sind die Produktregel (für eine Funktion, die Produkt zweier Funktionen ist) und die Kettenregel (für Funktionen von Funktionen). Demnach müßte man für das Integrieren die Regeln des Differenzierens eigentlich nur in umgekehrter Richtung anwenden. Eben das gelingt jedoch nur in den einfachsten Fällen. Man müßte die zu integrierende Funktion (den sogenannten Integranden) so zurechtmachen, daß sie aus einer Anwendung beispielsweise der Produkt- oder der Kettenregel hervorgegangen sein könnte. Das erfordert typischerweise undurchsichtige Tricks; so muß man den Integranden häufig künstlich in einen Teil zerlegen, auf den die Produktregel in umgekehrter Richtung anwendbar ist, sowie einen (hoffentlich) harmloseren Rest. Es gibt kein einfaches, allgemein anwendbares Schema; Schüler und Studierende pflegen sich mit Grausen an die Zeiten zu erinnern, als sie eine Unzahl von Rezepten lernen mußten, deren jedes nur für gewisse Sonderfälle geeignet ist und selbst dann nicht immer den Erfolg garantiert. Tabellen spezieller Integrale füllen dicke Bücher. Der mathematische Formalismus macht den Unterschied zwischen dem einfachen Differenzieren und dem schwierigen Integrieren offensichtlich: Ein kleiner Strich genügt, um anzuzeigen, daß f die Ableitung von F ist, das heißt, durch Differenzieren aus F hervorgeht: F'(x)=f(x). Für die (fast gleichbedeutende) Ausage, daß F eine Stammfunktion von f ist, man sie also durch Integrieren aus f gewinnt, verwendet man ein erheblich sperrigeres Symbol: ((Formel 2)) Es gibt also gute Gründe, das Herumprobieren, das lästige Nachschlagen in Tabellen und das fehlerträchtige Ausführen der zugehörigen algebraischen Umformungen an ein Computeralgebra-System zu delegieren. Schon 1961 beziehungsweise 1967 schrieben J. A. Slagle und Joel Moses vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge die ersten Integrationsprogramme. Sie und ihre Nachfolgeversionen verrichten die schwierige Arbeit schneller und vor allem zuverlässiger als ein Mensch mit Bleistift und Papier; nur können sie – im Falle des Mißerfolgs – ebensowenig wie dieser garantieren, daß alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Es gibt nämlich Funktionen, deren Stammfunktion zwar existiert, aber nicht durch einen algebraischen Ausdruck aus geläufigen Funktionen darstellbar ist; nur: Selbst wenn man eine Integraltafel gewissenhaft und erfolglos durchprobiert hat, ist noch nicht sicher, daß der Integrand zu dieser besonders widerspenstigen Sorte gehört. Hier hat es in letzter Zeit wesentliche Fortschritte gegeben, die zumindest für gewisse Funktionenklassen eine definitive Antwort erlauben: Wenn die Stammfunktion überhaupt dieser Klasse angehört, dann findet ein gewisses Verfahren sie auch mit Sicherheit. Allerdings sind diese Verfahren, außer in den einfachsten Fällen, kaum mit Bleistift und Papier durchzuführen; sie erfordern also in der Praxis zwingend die Computeralgebra. Ein erstes Ergebnis in dieser Richtung hat der französische Mathematiker Joseph Liouville (1809 bis 1882) bereits 1833 erzielt: Wenn eine Funktion, die außer Additionen und Multiplikationen mit der Unbekannten selbst nur die Anwendung von Exponential- und Logarithmusfunktionen erfordert, überhaupt eine Stammfunktion mit denselben Eigenschaften hat, dann ist diese bereits mit dem Material der ursprünglichen Funktion – allenfalls ergänzt um einige neue Logarithmusfunktionen – darstellbar. Man nennt dann die ursprüngliche Funktion elementar integrierbar. Die genannte Funktionenklasse ist reichhaltiger, als es auf den ersten Blick scheint; insbesondere gehören die häufig verwendeten Winkelfunktionen Sinus und Cosinus dazu, denn sie sind als Kombinationen von (komplexen) Exponentialfunktionen darstellbar. Andererseits sind einige ebenfalls gängige Funktionen wie exp(-x2) nicht in diesem Sinne elementar integrierbar. Zwischen 1968 und 1970 veröffentlichte Robert H. Risch in mehreren Arbeiten Algorithmen, welche die von Liouville angegebenen Stammfunktionen immer dann, wenn sie existieren, auch berechnen. Damit wird zugleich die Frage, ob eine gegebene Funktion elementar integrierbar sei, definitiv entschieden. Allerdings waren diese Verfahren nicht immer praktikabel. In den folgenden Jahren haben zahlreiche Autoren dieses Problem einer Lösung nähergebracht. Das aus vielen Teilen bestehende Verfahren wird nach wie vor als Risch-Algorithmus bezeichnet. Der einfachste, gleichwohl grundlegende Fall liegt vor, wenn der Integrand eine rationale Funktion ist, das heißt ein Quotient zweier Polynome wie ((Formel 3)) Solche Funktionen sind sämtlich elementar integrierbar – auch mit Papier und Bleistift; allerdings hat das klassische Verfahren, das zu einem wesentlichen Teil in der gefürchteten Partialbruchzerlegung besteht, einige Mängel. Es erfordert die Faktorisierung des Nennerpolynoms (seine Zerlegung in Faktoren der Form (x-a) ); selbst wenn es für die Nullstellen (im Beispiel die Zahl a) eine algebraische Darstellung gibt (was für Polynome fünften und höheren Grades im allgemeinen nicht mehr der Fall ist), führt die Faktorisierung Wurzeln in den Rechenprozeß ein, die sich später unangenehm bemerkbar machen. Der Risch-Algorithmus vermeidet dieses Problem. Er zerlegt zunächst den Integranden mit einem euklidischen Divisionsverfahren, ähnlich, wie man einen unechten Bruch in einen ganzzahligen und einen gebrochenen Anteil aufspaltet. Es ergeben sich ein – unproblematisches – Polynom und eine rationale Funktion – der sogenannte normale Anteil –, deren Zähler einen kleineren Grad hat als der Nenner. Dieser wird durch eine weitere Aufspaltung, die sogenannte Hermite-Reduktion, nochmals zerlegt, und zwar in einen wiederum unproblematischen Teil und einen anderen, dessen Nenner keine mehrfachen Nullstellen hat. Dieser schließlich läßt sich durch ein spezielles Verfahren, den Rothstein-Trager-Algorithmus, ohne Faktorisierung des Nenners integrieren (Bild 1 links). Wenn aber der Integrand nun doch Exponential- oder Logarithmusfunktionen enthält? Dann gibt man jedem solchen Term einen neuen Namen und setzt diese Namen für die Terme in den Integranden ein, so daß dieser wieder wie eine rationale Funktion aussieht. Anstelle von ((Formel 4)) schreibt man ((Formel 5)) mit X1=log x, X2=exp(1/(x+1)). Das wirkt zunächst etwas albern, als hätte man das Problem durch Umbenennung nur verschleiert. Gleichwohl ist es ein Schritt zur Lösung. Im Rahmen des Risch-Algorithmus kommt es nicht darauf an, was diese Namen bedeuten (und in einem Computeralgebra-System erst recht nicht). Man sieht davon ab, daß x eine unabhängige Variable ist und reelle Werte annehmen kann; es interessieren nur die formalen Rechenregeln für den Umgang mit dem Symbol x. Dem Körper der rationalen Zahlen wird bei diesem Ansatz lediglich ein neues Element namens x hinzugefügt ("adjungiert" in der Fachsprache); der so definierte Körper der rationalen Funktionen enthält alle Ausdrücke, die man unter Verwendung der vier Grundrechenarten aus rationalen Zahlen und dem Symbol x bilden kann. In gleicher Weise lassen sich einem Körper beliebig viele weitere Symbole adjungieren. Da es hier um das Integrieren geht, führt man eine Operation ein, unter der man sich zwar das übliche Differenzieren vorstellt und die man deswegen auch wieder mit dem Strich bezeichnet, die man aber rein formal durch Angabe der für sie gültigen Rechenregeln definiert: a'=0 für jede rationale Zahl a, x'=1, und es gelten die Summen- und die Produktregel. Ein Körper mit einer solchen Zusatzeigenschaft heißt Differentialkörper (differential field). Entsprechend muß man für jedes neu adjungierte Symbol eine Ableitung definieren. Es interessiert vorläufig nicht, daß X1=log x ist; X1 ist vom algebraischen Standpunkt aus erschöpfend durch die Eigenschaft X1'=1/x charakterisiert. Für X2 genügt als Definition X2'=-X2/(x+1)2. Diese Gleichungen sind so formuliert, daß rechts vom Gleichheitszeichen wieder ein Element des Differentialkörpers steht. (Daß das überhaupt möglich ist, liegt an den Eigenschaften der Exponential- und der Logarithmusfunktion.) Deswegen kann man die vier Grundrechenarten und das Differenzieren in beliebiger Folge auf ein Element des Körpers anwenden, und das Ergebnis ist stets wieder ein Element des Körpers. Auf den Integranden, der jetzt eine rationale Funktion in x und neuen Variablen ist, wendet man dieselbe Zerlegung an wie auf die rationale Funktion des ersten Beispiels; nur tritt an die Stelle von x die zuletzt adjungierte Variable. Die Fragmente der Zerlegung versucht man nun einzeln in bezug auf diese Variable zu integrieren. Wenn das mißlingt, war der ursprüngliche Integrand nicht elementar integrierbar; gelingt es aber, dann verbleibt ein Integrand, in dem die zuletzt adjungierte Variable nicht mehr vorkommt. In jedem Schritt des Algorithmus wird somit eine der neu eingeführten Variablen eliminiert, bis schließlich – wenn überhaupt – die fertige Stammfunktion sich ergibt (Bild 1 rechts). Die auftretenden Probleme sind wesentlich komplexer als im Falle der rationalen Funktionen, aber lösbar. Anderenfalls weiß man mit Sicherheit, daß die Stammfunktion nicht durch Exponential- und Logarithmusfunktionen darstellbar ist (Bild 2).

Literaturhinweise


– Algorithms for Computer Algebra. Von Keith O. Geddes, Stephen R. Czapor und George Labahn. 4. Auflage, Kluwer, Dordrecht 1995.

– Symbolic Integration. Band I: Transcendental Functions. Von Manuel Bronstein. Erscheint 1996 bei Springer, Heidelberg.

– Benutzerhandbuch MuPAD Version 1.1. Von Benno Fuchssteiner und anderen. Birkhäuser, Basel 1993. Die englische Fassung zu Version 1.2.2 erscheint 1996 bei Wiley & Sons, Chichester.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1996, Seite 95
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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