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Symmetrien bei partiellen Differentialgleichungen - ein Anwendungsfeld der Computeralgebra


Es ist relativ einfach, die Ausbreitung einer elektromagnetischen Welle zu berechnen, wenn die Quelle des Feldes – zum Beispiel eine Sendeantenne – eine Metallkugel ist. Dieselbe Aufgabe für eine Quelle beliebiger Gestalt ist viel schwieriger. Der Unterschied rührt von der Kugelsymmetrie her; dadurch wird die Anzahl der Raumdimensionen, auf die es ankommt, von drei auf eine reduziert. Diese Reduktion durch Symmetriegruppen erlaubt es, das elektrische Feld einer geladenen Metallkugel nicht nur numerisch zu berechnen, sondern vollständig zu beschreiben: durch eine explizite Formel. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Differentialgleichungen des vorstehenden Beitrags geht es hier um partielle: Die unbekannte Größe – im Beispiel die elektrische Feldstärke – hängt nicht nur von der Zeit ab, sondern von weiteren unabhängigen Variablen, typischerweise den Koordinaten des Ortes. Häufig beschreibt die unbekannte Funktion (im folgenden u genannt) die Zusammenfassung aller Daten eines Systems: das elektrische Feld im ganzen Raum, die Oberfläche eines Gewässers oder sämtliche Daten einer Volkswirtschaft, und zwar jeweils zu einer bestimmten Zeit. Man unterstellt, die Gesetze, welche die zeitliche Änderung des Systemzustands bestimmen, seien bekannt (was im Falle der Volkswirtschaft eine ziemlich realitätsferne Annahme ist) und ließen sich durch eine mathematische Gleichung ausdrücken: ((Formel 15)) eine sogenannte Evolutionsgleichung. Das durch sie beschriebene System wird auch als dynamisches System bezeichnet. Typischerweise geht man davon aus, man kenne den Zustand u(0) des Systems zu einem Anfangszeitpunkt t=0, und möchte den Zustand zu einem späteren Zeitpunkt wissen, wenn also das Entwicklungsgesetz K für eine Zeitspanne t seine Wirkung getan hat. Das wäre dann die Lösung u(t) des genannten Anfangswertproblems. Besonders interessant und besonders schwierig sind nichtlineare dynamische Systeme, also solche, bei denen zwei Ursachen, zusammenaddiert, nicht die Summe der Wirkungen ergeben. Hier ist man in besonderem Maße auf Symmetrien angewiesen; häufig ist ohne sie eine Analyse der Dynamik überhaupt nicht möglich. Es gibt kaum ein Gebiet der Naturwissenschaften, in dem Symmetriebetrachtungen nicht eine spektakuläre Rolle spielten. So beruhen zum Beispiel sowohl die Relativitätstheorie wie auch die theoretische Elementarteilchentheorie der letzten 30 Jahre wesentlich auf der Theorie der Symmetriegruppen. Bei gewissen physikalisch bedeutsamen Systemen gewöhnlicher Differentialgleichungen, den sogenannten Hamiltonschen Systemen, genügt es, eine ausreichende Anzahl geeigneter Symmetrien zu finden, um das System im wesentlichen vollständig zu beherrschen: Man muß genau halb so viele Symmetrien haben, wie das System Unbekannte hat. Zudem korrespondieren nach einem Satz der Mathematikerin Emmy Noether (1882 bis 1935) Symmetrien und Erhaltungsgrößen. Zum Beispiel folgt aus der Symmetrie der physikalischen Gesetze bezüglich Zeittranslation – das heißt, daß man den Nullpunkt der Zeitmessung beliebig verschieben darf, ohne daß diese Gesetze sich ändern – der Energieerhaltungssatz. Nun haben partielle Differentialgleichungen gewissermaßen unendlich viele Unbekannte und sind deswegen im Prinzip viel schwieriger. Eine gut ausgebaute Theorie gab es bis vor einigen Jahrzehnten nur für lineare partielle Differentialgleichungen; prominente Beispiele sind die Maxwell-Gleichungen der Elektrodynamik und die Schrödinger-Gleichung der Quantenmechanik. Für nichtlineare Gleichungen hatte man wenig mehr als die Erfahrung, daß die verschiedensten Phänomene auftreten können; insbesondere kommt es vor, daß es für eine solche Gleichung eine Lösung für eine gewisse Zeitspanne gibt und dann nicht mehr. Es war daher eine große Überraschung, daß es auch unter den nichtlinearen Gleichungen solche mit unendlich vielen Symmetrien gibt, die sogenannten Soliton-Gleichungen. Bekannte Beispiele für nichtlineare Phänomene mit Soliton-Struktur sind großräumige Wellen in Ozeanen, die von Erdbeben oder Vulkanexplosionen ausgelöst werden, sowie ähnlich strukturierte Wellen in vielen anderen Anwendungsbereichen. Es gibt eine recht plausible Theorie, nach welcher der Große Rote Fleck auf dem Planeten Jupiter – ein riesiger Atmosphärenwirbel – auf ein Soliton-Phänomen zurückzuführen ist. Das bekannteste Beispiel eines Soliton-Systems ist die Korteweg-de-Vries-Gleichung, die aus der Flachwasserwellentheorie stammt (Bild 1). Die niederländischen Mathematiker Diederik Korteweg und G. de Vries hatten sie 1895 aus physikalischen Überlegungen hergeleitet; aber erst seit vor etwa 30 Jahren ihre besonderen Eigenschaften entdeckt wurden, hat ihre Erforschung immensen Aufschwung genommen. Der Katalog von Gleichungen mit ähnlichen Eigenschaften wird immer länger, und die Anwendungsmöglichkeiten in vielen Bereichen der Physik scheinen nahezu unbegrenzt. Man interessiert sich besonders für spezielle, durch explizite Formeln angebbare Lösungen; der entscheidende erste Schritt zu ihrer Berechnung ist in aller Regel die vollständige Bestimmung der Symmetriegruppe. Aber wie findet man Symmetrien, wenn sie nicht so offensichtlich sind wie im Falle der kugelförmigen Quelle? Kugelsymmetrie bedeutet, daß man das System um den Mittelpunkt mit einem beliebigen Winkel drehen kann, ohne daß sich das Gesetz des Systems ändert. Anders ausgedrückt: Es kommt nicht darauf an, ob man zuerst das System dreht und dann das Entwicklungsgesetz eine Weile wirken läßt oder ob man dasselbe in umgekehrter Reihenfolge tut. Der wesentliche Kunstgriff besteht nun darin, die Deformation, bezüglich der das System symmetrisch ist (im Beispiel die Drehung), ihrerseits als Wirkung eines fiktiven Entwicklungsgesetzes aufzufassen. Denn in aller Regel ist ein solches Gesetz (eine partielle Differentialgleichung) einfacher als seine Wirkung (die Lösung dieser Gleichung). Damit läuft die Suche auf die Frage hinaus, ob die Wirkungen zweier partieller Differentialgleichungen vertauschbar sind: der ursprünglichen und derjenigen, welche die Symmetrie vermittelt (des infinitesimalen Generators der Symmetriegruppe). Das wiederum ist im Prinzip durch algebraische Umformungen nachprüfbar. Zum Beispiel ist die Korteweg-de Vries-Gleichung ((Formel 16)) mit ((Formel 17)) vertauschbar. (Man pflegt die Ableitungen nach der jeweiligen Variablen als Indizes an die Unbekannte zu schreiben; uxxx bedeutet also die dritte Ableitung von u nach x.) Schon das nachzuprüfen ist mit Papier und Bleistift äußerst mühsam, eine solche Formel ohne vorherige Information zu finden praktisch unmöglich. Hier spielt nun die Computeralgebra eine entscheidende Rolle. Symmetrien der klassischen, von Sophus Lie erstmals behandelten Art – sogenannte Punktsymmetrien – findet man, indem man gewisse Systeme linearer partieller Differentialgleichungen aufstellt und löst. Beide Schritte sind hochgradig rechenaufwendig und ohne Computeralgebra meist überhaupt nicht durchführbar. Für den zweiten Schritt ist noch kein vollständiger Algorithmus bekannt, weil dabei überbestimmte Gleichungen gelöst werden müssen. Allerdings enthalten zahllose Pakete recht gute Probierverfahren (Heuristiken). Außer den Punktsymmetrien gibt es möglicherweise noch allgemeinere, die sogenannten Lie-Bäcklund-Symmetrien. Die Gleichungen, mit denen man sie findet, sind noch eine Stufe komplizierter, denn sie enthalten unendlich viele unabhängige Variable: Es handelt sich um Variationsgleichungen. Trotz ihrer Kompliziertheit sind gerade die Lie-Bäcklund-Symmetrien in den physikalischen Anwendungen besonders wichtig, vor allem deshalb, weil sie den einzigen Zugang zu der mitunter überraschend reichhaltigen Erhaltungsgrößenstruktur nichtlinearer partieller Differentialgleichungen bieten. Als entscheidendes Hilfsmittel für ihre Konstruktion haben sich die sogenannten Master-Symmetrien herausgestellt. Das sind Evolutionsgleichungen, die zwar mit der gegebenen Gleichung nicht vertauschbar sind; wenn man also erst die gegebene Gleichung und dann die Master-Symmetrie wirken läßt, ergibt sich etwas anderes als in umgekehrter Reihenfolge. Aber die Differenz ist eine Invariante, das heißt, sie ändert sich nicht mit der Zeit. Weitere Invarianten lassen sich durch mathematische Operationen aus Master-Symmetrien gewinnen. Auf dieser Theorie aufbauende Verfahren sind so weit ausgereift, daß man ganze Klassen nichtlinearer Systeme auf die Existenz einer unendlichdimensionalen Symmetriegruppe testen und diese auch gleich berechnen lassen kann. Ein Beispiel möge die Komplexität der gesuchten Größen illustrieren. Die Kawamoto-Gleichung lautet ((Formel 18)) Eine interessante Lösung, die durch Symmetrieanalyse gefunden wurde, ist in Bild 2 links zu sehen. Auch die Fläche ohne die charakteristische Falte ist eine Lösung (Bild 2 rechts); also hängt die Gestalt der Lösung sehr empfindlich von den Anfangswerten ab. Übliche numerische Verfahren lösen statt der Gleichung selbst eine genäherte; der kleine Unterschied in den Anfangswerten würde im Näherungsfehler untergehen, so daß man auf numerischem Wege die Lösung mit der Falte nie gefunden hätte. Die Symmetrieanalyse erforderte die Berechnung eines Integro-Differentialoperators mit ungefähr vier Milliarden Termen. Auf Papier ausgedruckt würde seine Darstellung ungefähr 18 Kilometer Regalplatz oder 500 Altpapiercontainer in Anspruch nehmen.

Literaturhinweise


– Mathematical Methods of Classical Mechanics. Von V. I. Arnold. Springer, Berlin 1978.

– Computer Algebra: Implications and Perspectives. Von Benno Fuchssteiner in: Euromath Bulletin, Band 1, Seiten 21 bis 38, 1992.

– Geometrie der Berührungstransformationen. Von Sophus Lie. Leipzig, 1896; Nachdruck bei Chelsea, New York.

– Applications of Lie Groups to Differential Equations. Von Peter J. Olver. Springer, New York 1986.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1996, Seite 102
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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