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Synthetische Ionenkanäle aus sich selbst zusammenlagernden Peptid-Nanoröhren

Künstlich hergestellte flache Ringe aus acht Aminosäuren stapeln sich innerhalb von Zellmembranen zu Röhren übereinander, durch die Ionen mit hoher Geschwindigkeit strömen können.


Seit dem 26. Februar dieses Jahres verbindet ein 50,5 Kilometer langer Tunnel im Meeresboden Großbritannien mit dem europäischen Festland. Durch die beiden 7,60 Meter weiten Hauptröhren sollen Spezialzüge Güter, Menschen und Autos transportieren.

Während unter dem Ärmelkanal die Vortriebsmaschinen die letzten Meter vor dem Durchbruch bewältigten, durchtunnelte jenseits des Atlantik eine ebenfalls von Menschenhand konstruierte Röhre eine Lipid-Membran, wie sie alle lebenden Zellen umgibt. Mit einer Weite von 0,75 und einer Länge von 4 Nanometern (millionstel Millimetern) hatte sie zwar nur rund ein Zehnmilliardstel der Ausmaße des Kanaltunnels. Doch auch sie ermöglichte den Transport von (entsprechend kleineren) Gütern wie etwa Kalium-Ionen. Und wie gute Ingenieure fertigten die Biochemiker ihre Röhren aus vielseitig variierbaren Bauelementen, die sich im Gegensatz zu solchen aus Stahlbeton sogar selbst zusammenbauen und in die Membran einlagern.

Die Konstruktion an sich gelang bereits im vorigen Jahr, als Reza Ghadiri und seine Mitarbeiter am Scripps-Foschungsinstitut in La Jolla (Kalifornien) bemerkten, daß ringförmige Verbindungen aus je acht Aminosäuren – also zyklische Octapeptide – sich wie von selbst zu Röhren übereinanderstapeln. Man muß lediglich dafür sorgen, daß die Ringe flach sind, und das erreicht man, indem man abwechselnd D- und L-Aminosäuren einbaut, die sich wie linke und rechte Handschuhe zueinander verhalten (dagegen verwendet die Natur in Proteinen und den allermeisten Peptiden ausschließlich die L-Formen).

Den Zusammenhalt vermitteln im wesentlichen Wasserstoffbrücken zwischen den Amid-Gruppen (Bild 2 rechts). Erleichtert wird die röhrenförmige Anordnung allerdings, wenn einige der Aminosäuren über eine Seitenkette verfügen, mit der sie zusätzliche henkelartige Verknüpfungen zwischen benachbarten Ringen herstellen können, was der ganzen Konstruktion noch mehr Stabilität verleiht ("Nature", Band 366, Seiten 324 bis 327).

Nachdem die molekularen Heinzelmännchen praktisch den Aufbau der Röhren erledigen? beschränkt sich die von den Wissenschaftlern zu leistende Konstruktionsarbeit auf die (automatisierte) Synthese des Octapeptids, das sich aus den Aminosäurebausteinen D-Alanin (D-Ala), Glutaminsäure (L-Glu) und Glutamin (L-Gln) in der Abfolge cyolo-(D-Ala-L-Glu-D-Ala-L-Gln)2 zusammensetzt. Löst man dieses Peptid zum Beispiel in verdünnter Natronlauge und säuert dann an, so bilden sich nadelförmige Kristalle. Daß sich die Ringe erst im Sauren übereinandertürmen liegt daran, daß nur dann die Glutaminsäure-Seitenkette ein Wasserstoff-lon an ihrer Säuregruppe trägt (COOH statt COO), mit dem sie die henkelartige Verbindung zu benachbarten Ringen herstellen kann.

Bereits im vergangenen Jahr hatten die Forscher spektroskopische Anhaltspunkte dafür gesammelt, daß diese Nadeln tatsächlich aus vielen parallel ausgerichteten Nanoröhren bestehen, und ein Modell der Kristallstruktur entworfen (Bild 1). Jetzt aber wiesen sie außerdem nach, daß die Peptid-Ringe sich in Membranen einlagern und dort zu einem Tunnel vereinigen, durch den Ionen wandern können ("Nature", Band 369, Seiten 301 bis 304).

Den ersten Hinweis darauf lieferten einfache Versuche mit synthetischen, membranumschlossenen Bläschen ( Vesikeln), deren flüssiger Inhalt einen anderen pH-Wert (Säuregrad) hatte als die umgebende Lösung. Solange die Membranen intakt und geschlossen waren, blieb der pH-Unterschied erhalten. Bei Zusatz der zyklischen Peptide nivellierte sich der pH-Gradient zwischen innen und außen jedoch, was leicht durch Indikatorfarbstoffe wie Lackmus nachzuweisen war. Offenbar hatten die Peptide also den Austausch von Wasserstoff-Ionen durch die Membran ermöglicht.

Den entscheidenden Nachweis für die Funktion der Peptide als Ionenkanäle führten die Wissenschaftler jedoch mit der Patch-Clamp-Technik, für deren Entwicklung Erwin Neher und Bert Sakmann 1991 den Nobelpreis für Medizin erhalten haben (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1992, Seite 48). Dabei drückt man eine extrem feine Glaspipette gegen eine Membran und erzeugt durch schwaches Saugen einen leichten Unterdruck. Dadurch wird dieser Bereich vom Rest der Membran isoliert, und man kann mit einer Mikroelektrode messen, ob Ionen einen eventuell vorhandenen Kanal durchqueren.

Erwartungsgemäß floß durch die reinen Membranen kein Strom. Sobald die Forscher jedoch der umgebenden Lösung das röhrenbildende Peptid zusetzten, registrierten sie einen ausgeprägten Ionenfluß. Erstaunlicherweise war er sogar etwa dreimal so stark wie bei jenem natürlichen Ionenkanal, der von Gramicidin A, einem Peptid aus 15 Aminosäuren, gebildet wird. Dagegen riefen zyklische Peptide, denen auch nur eines der wesentlichen Konstruktionsmerkmale der Röhrenbildner fehlte, keinen Stromfluß hervor.

An Versuchen, synthetische lonenkanäle zu konstruieren, hat es auch in der Vergangenheit nicht gemangelt. Doch bevor Ghadiri und seine Mitarbeiter den genialen Trick mit den sich selbst stapelnden Ringen fanden, mußte man sehr lange Moleküle herstellen, welche die ganze Membran überspannen und zugleich in ihrem Inneren einen Hohlraum freihalten.

Weil dies zunächst nicht gelang, begnügte man sich am Anfang mit synthetischen Ionentransportern, die als Fähren wirken und ihre Fracht im Pendelbetrieb durch die Membran schleusen. Deren Urtyp verkörpert die Substanzklasse der Kronenether, die Charles Pedersen 1967 entdeckte, als er bei der amerikanischen Firma Du Pont ein unerwünschtes Nebenprodukt einer mißlungenen Synthese genauer analysierte. Kronenether sind ringförmige Kohlenwasserstoff-Verbindungen mit nach innen weisenden Zacken aus Sauerstoff-Atomen, die einen Käfig bilden, der Metall-lonen zu umschließen vermag. Auf der Außenseite sind sie jedoch lipophil (fettliebend) genug, um in die Lipidmembran eindringen und sie durchqueren zu können.

Einen Schritt weiter gingen 1982 Iwao Tabushi, Yasushisa Kuroda und Kanichi Yokota an der Universität Kioto, die ein anderes Ringmolekül – diesmal ein aus sechs Zuckereinheiten aufgebautes, gut wasserlösliches Cyclodextrin – mit vier langen lipophilen Schwänzen versahen. Je zwei dieser Moleküle müssen sich auf gegenüberliegenden Seiten der Membran so anordnen, daß ihre nach innen ragenden Schwänze sich zu einem Tunnel zusammenlagern, mit den Cyclodextrin-Ringen als Ein- und Ausfahrt (Bild 2 Mitte). Diese Kanäle ließen beispielsweise Cobalt- und Kupfer-Ionen – wenn auch nur mäßig gut – passieren.

Anstatt die wasserliebenden Ringe außen auf die Membran zu setzen und zu hoffen, daß sich die lipophilen Kohlenwasserstoff-Schwänze innen begegnen und zu einer funktionierenden Röhre ergänzen, ging Jean-Marie Lehn, der als Mitbegründer der sogenannten supramolekularen Chemie 1987 gemeinsam mit Pedersen den Nobelpreis für Chemie erhielt, den umgekehrten Weg: Er setzte den Ring in die Mitte der Membran. Seine Arbeitsgruppe am Collège de France in Paris entwickelte im Jahre 1992 sogenannte Bukettmoleküle aus einem Kronenether, auf den statt Blumen langkettige lipophile Moleküle mit wasserliebendem Kopf aufgepfropft sind ("Angewandte Chemie", Band 104, Seiten 1695 bis 1697). Sie durchdringen die Membran in beide Richtungen senkrecht zum zentralen Ring und strecken ihre Köpfe, zum Beispiel Carbonsäuregruppen, aus ihr heraus (Bild 2 links). Wie Tests ergaben, lassen sie tatsächlich Natrium- und Lithium-Ionen passieren, und verschiedene Indizien sprechen dafür, daß sie dabei als echte Kanäle und nicht als Fähren fungieren.

Doch keines der Moleküle vom Typ Ring mit Fransen ist so wirkungsvoll wie die Peptid-Nanoröhren. Im Hinblick auf Anwendungsmöglichkeiten haben diese zudem den Vorteil, daß ihre Strukturen mit geringstem Syntheseaufwand vielfältig variiert werden können. Es sollte kein Problem sein, statt acht Einheiten pro Ring etwa sechs, zehn oder zwölf zu verwenden und so den Kanaldurchmesser zu ändern oder die einfache Aminosäure D-Alanin durch eine kompliziertere zu ersetzen, welche die Membranlöslichkeit erhöht oder verringert.

Auf diese Weise ließe sich vielleicht für Substanzen, deren Einsatz als Pharmaka bisher am Import in die Zelle scheitert, ein spezieller Kanal konstruieren und mit der Arznei zusammen verabreichen. Man könnte sogar Schalter einbauen, die je nach den physiologischen Bedingungen für bestimmte Stoffe den Durchtritt freigeben oder sperren. Dann ließe sich der Güterverkehr zwischen der Zelle und der Außenwelt mindestens ebenso gut und nutzbringend regulieren wie der durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1994, Seite 18
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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