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Szenarien der Zukunft. Was Wissenschaftler über die Zukunft wissen können


Seit einigen Jahren hat sich am Markt die neue Spezies der belletristisch-wissenschaftlichen Bücher etabliert. Im Gegensatz zu populärwissenschaftlichen Büchern sind sie bisweilen sehr anspruchsvoll und ohne starke Vereinfachungen für ein höher vorgebildetes Publikum geschrieben, gehören aber von ihrem Stil her eher zur Literatur.

Douglas R. Hofstadter hat 1979 mit seinem Werk „Gödel, Escher, Bach: an Eternal Golden Braid“ den Anfang gemacht und einen – heute fast vergessenen – Riesenerfolg geerntet. Auch wenn man dessen wissenschaftlichen Inhalt kaum versteht, ist die Lektüre trotzdem ein literarischer Genuß, und irgendwie gelingt es Hofstadter auf diese Weise, dem Leser doch eine gewisse Idee von der Sache zu vermitteln.

An dieses Rezept hat der – gegenwärtig am Santa-Fe-Institut in New Mexico tätige – Mathematiker John Casti 1989 unmittelbar angeschlossen, mit deutlich geringerem, aber wahrscheinlich dauerhafterem Erfolg. Sein Buch „Paradigms Lost“ (deutsch „Verlust der Wahrheit“, 1990) taugt nämlich auch als Almanach oder Nachschlagewerk für verschiedene Wissenschaftsdisziplinen; der Grund für seinen Erfolg liegt jedoch in der Art, wie er wissenschaftliche Inhalte in eine erfrischende Prosa künstlerischen Stils von hohem literarischen Standard einbettet. Das Hauptthema ist alles andere als einfach: Was trägt die moderne Naturwissenschaft zu den zentralen Fragen der Menschheit (wie etwa „Was können wir wissen?“) bei?

Im Dezember 1990 erschien nun sein neues Buch „Searching for Certainty“, das – ebenso rasch wie das erste – unter dem Titel „Szenarien der Zukunft“ ins Deutsche übersetzt wurde. In gewissem Sinne ist es ein zweiter Band von „Verlust der Wahrheit“: Seine Gebiete sind nicht so intensiv mit dem genannten Hauptthema verbunden; trotzdem sind sie für die zentralen Fragen der Menschheit außerordentlich wichtig und interessant, und der Versuch ihrer Beantwortung ist sozusagen ein Feinschliff des Hauptthemas.

Jedes Kapitel trägt den Untertitel: „Können wir ... vorhersagen oder erklären?“, eine Frage, die jedesmal ausführlichst diskutiert wird. Schon im Altertum und bei den Chinesen maß man die Tüchtigkeit der Wissenschaftler an der Vorhersagegenauigkeit von Sonnen- und Mondfinsternissen, und diesem Prinzip sind viele außenstehende Beobachter der Wissenschaft bis heute heimlich treu geblieben.

Als Beispiel für den Konnex zum Hauptthema möge das Kapitel 3 „Die Entstehung der Gestalt“ dienen, welches den Leser in brillanter Weise durch den Wirrwarr aller Theorien über die Ausbildung der physischen Formen von Lebewesen führt. Dabei kommen auch unkonventionelle, von der etablierten Gelehrtenrepublik abgelehnte Strömungen zu Wort, zum Beispiel Rupert Sheldrakes These der formativen Verursachung. Casti gibt, wie bei ihm üblich, am Ende eines jeden Kapitels eine persönliche Wertung einschließlich seiner Argumente dafür ab. Sie ist jedoch keineswegs penetrant oder überzeugungssüchtig und läßt dem Leser genügend Spielraum für ein eigenes, unabhängiges Urteil.

Im zweiten Kapitel „Wie wird das Wetter?“ geht es nicht nur um die zunehmende Genauigkeit der Wettervorhersage und die möglichen Gründe für einen Klimawechsel, sondern auch um wissenschaftlich erklärbare Ursachen für Katastrophen – eine Frage, die vielen Menschen sehr ans Herz geht. Casti beschreibt auch ausgefallene Konzepte wie Raymond Wheelers Dürre-Uhr (drought clock), welche die Korrelation von Wetter und historischen Faktoren (wie Krieg, Kultur und menschlichen Leistungen) aufzeigt.

Auch das fünfte Kapitel „Ein hübscher Krieg“ hat Bezug zum Hauptthema, versucht es doch, Modelle zu entwerfen, welche die Entstehung von Kriegen vorhersagen und zu erklären versuchen, in der Hoffnung, sie dadurch in Zukunft leichter verhindern zu können.

Viele Leute werden sich das Buch jedoch wegen des vierten Kapitels „Inzwischen im Kasino“ kaufen, denn darin gibt Casti ein Rezept an, wie man an der Börse erfolgreich mit Aktien handelt und – entgegen der klassischen Theorie der Ökonomie – Profite erzielen kann. Sicherlich kann man diese Überlegungen als Sandkastenspiele abtun, doch wer Casti näher kennt, weiß, daß er diese neuen Strategien bereits erfolgreich angewandt hat, lange bevor er Bücher zu schreiben begann. Und schon auf den ersten drei Seiten des ersten Kapitels erzählt er die Geschichte von Edward Thorp, der eine Gewinnstrategie für Black Jack angab – was jahrelang als unmöglich galt – und damit die Bosse von Las Vegas zur Weißglut brachte.

Selbstverständlich kommt man bei so viel Theorie, auch wenn sie sprachlich und inhaltlich noch so liebevoll verabreicht wird, nicht um eine kleine Nachhilfestunde in Mathematik herum. Nachdem Casti schon im ersten Kapitel die wichtigsten modernen mathematischen und philosophischen Grundkonzepte vorstellt, was mancher Leser trotz Versüßung durch Wortspielerei und literarischen Sprachfluß als unangenehm empfinden mag, verabreicht er im sechsten, „Beweis oder Schlußfolgerungen“, die bittere Medizin. Doch sollte der Leser (wenn er dazu noch die Kraft hat) zumindest ein wenig davon zu schlucken versuchen, denn sie ist von zentraler Bedeutung für das Hauptthema.

Hier räumt Casti mit dem Irrglauben auf, die Königin der Wissenschaften, die Mathematik, liefere stets nur absolutes und unumstößliches Wissen. Das gilt zwar für die trivialen Wahrheiten der Rechenkunst wie 2+2=4, nicht aber für komplexere Sachverhalte, beispielsweise die Kontinuums-Hypothese, die lautet: Es gibt keine Menge M zwischen den natürlichen Zahlen N und den reellen Zahlen R, die zu keiner der beiden gleichmächtig ist (vergleiche „Georg Cantor und die Mächtigkeit der Mengen“ von Joseph W. Dauben, Spektrum der Wissenschaft, August 1983, Seite 112). Wahrscheinlich sind die meisten sehr komplexen Sachverhalte, etwa die berühmte Fermatsche Vermutung, unentscheidbar wie jener von Kurt Gödel konstruierte wahre Satz G, der seine eigene Unbeweisbarkeit behauptet.

Casti setzt dieses Thema, über das Hofstadter seinen Bestseller schrieb, mit ebenso belletristisch geschmeidigem Stil im letzten Kapitel fort und berichtet (zu-sätzlich zur Erklärung des Gödelschen Beweises mit Hilfe einer Sachertorten-Maschine) auch noch über die Weiterentwicklung der Theorie durch Gregory Chaitin: nämlich daß die komplexen mathematischen Wahrheiten nicht nur unentscheidbar sind, sondern sogar total zufällig verteilt innerhalb der Gesamtheit aller mathematischen Aussagen.

Bildlich gesprochen: Wenn wir die verschiedenen gängigen Aussagen der Mathematik genauer betrachten, können wir meistens relativ leicht die wahren von den falschen Sätzen unterscheiden. Hie und da (Weltgeist sei Dank jedoch selten) finden wir auch solche, die unentscheidbar sind. Würden wir jedoch mit einem starken Vergrößerungsglas die Gesamtheit aller nur denkbaren mathematischen Sätze betrachten (oder zumindest einen Großteil davon), dann würden wir größtenteils Aussagen sehen, an die noch nie ein Mensch einen Gedanken verschwendet hat. In dieser mathematischen Gesamtheit ist die Wahrheit so verteilt wie die weißen Punkte auf dem Fernsehschirm, wenn gerade kein Programm läuft.

Alle mathematischen Sätze zusammen sind zwar eine unendliche Menge. Man kann sich jedoch leicht ein Computerprogramm denken, das sie alle der Reihe nach erzeugt, indem es ohne Ende einfach so vor sich hinrechnet. Angenommen, ein Supercomputer habe schon einige Millionen Jahre damit zugebracht. In der so erzeugten angenäherten Gesamtheit sind die wahren Sätze größtenteils einfach nicht mehr als solche erkennbar, und zwar nicht nur wegen unserer begrenzten geistigen Kapazität, sondern, wie Chaitin mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Mitteln gezeigt hat, aus prinzipiellen Gründen. Es existiert kein systematisches Verfahren, das die Wahrheit oder Falschheit einer beliebig aus der Gesamtheit herausgegriffenen Aussage bestätigen oder deren Unentscheidbarkeit bezüglich einer vorgegebenen Menge von evidenten Basissätzen liefern könnte. Man könnte ebensogut gleich zum Würfel greifen.

Wie sein Vorgängerbuch geht auch „Szenarien der Zukunft“ gegen das arrogante Vorurteil an, nur die Geisteswissenschaften seien für die menschliche Kultur wichtig, und die Naturwissenschaften trügen lediglich zu Zivilisation und Technik bei. Es wird allerdings noch einige Zeit dauern, bis diese neue Sicht der Kulturrelevanz sich auch in der kulturpolitischen Landschaft bemerkbar macht, so daß sich eines Tages sogar die intellektuelle Schickeria für ihre Unkenntnis der Naturwissenschaft, der Technik und besonders der Mathematik schämen wird.

Bei der Breite des Gegenstandes, der vereinfachten Darstellung und der literarischen Sprache wäre es nicht überraschend, wenn mancher Fachwissenschaftler diese oder jene Ungenauigkeit anmahnte. Doch das wird bei weitem wettgemacht durch die Liebenswürdigkeit, mit der die vielen nicht vorgebildeten, aber interessierten Leser bedient werden. Casti hat übrigens außer vielen Fachbüchern über mathematische Systemtheorie auch ein zweibändiges Mathematik-Lehrbuch namens „Reality Rules“ geschrieben, das ich – mit vielen anderen – für das modernste verfügbare Lehrbuch zum Thema halte.

Nach der Lektüre von „Szenarien der Zukunft“ begreift man langsam, was uns die Wissenschaft so wertvoll macht, auch wenn sie uns nicht die ersehnte certainty liefern kann: die absolute Sicherheit, das Faustsche Verstehen dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dies ist plötzlich sekundär geworden. Primär bleibt das searching: Die Suche nach der Sicherheit ist es, die uns Wissenschaftlern einen solchen Riesenspaß macht! Das Ziel der Suche, die reine Wahrheit mit absoluter Sicherheit (etwa im Sinne der Mathematik und im Gegensatz zu jeder Heilslehre), bleibt zwar weiterhin wichtig; mit dem Bewußtsein jedoch, daß wir dieses Ziel in vielen Fällen aus methodischen Gründen ohnedies nicht erreichen, läßt es sich wesentlich leichter suchen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1993, Seite 122
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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