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Täuschende Helligkeit



Weiße Papierblätter nehmen wir unabhängig davon, wieviel Licht darauf fällt, als weiß wahr und nicht etwa als unterschiedlich grau. Diese Helligkeitskonstanz erzielt das menschliche Sehsystem offenbar, indem es das Verhältnis benachbarter absoluter Helligkeiten – zum Beispiel von Objekt und Hintergrund – zur Grundlage der subjektiven Wahrnehmung macht.

Dafür spricht auch eine altbekannte Kontrasttäuschung: Dem Sehsystem erscheint ein grauer Fleck auf dunklem Hintergrund heller als derselbe Fleck in heller Umgebung. Demgemäß gilt die Helligkeitskonstanz meist als angeborene, eher primitive Verarbeitungsleistung des visuellen Systems, die vielleicht schon in der Netzhaut durch Wechselwirkung benachbarter Sehzellen zustande komme.

Doch nun stellen verblüffende Helligkeitstäuschungen, die der Kognitionswissenschaftler Edward H. Adelson vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge ersonnen hat, dieses einfache Modell in Frage ("Science", Band 262, Seiten 2042 bis 2044, 24. Dezember 1993). Demnach dürften in die Helligkeitswahrnehmung nicht nur Kontraste benachbarter Felder einfließen, sondern höhere Interpretationsleistungen wie die Räumlichkeit oder die partielle Durchsichtigkeit von Gegenständen.

Ein Beispiel für Helligkeitstäuschung durch räumliche Interpretation ist eine Matrix von grauen Flächen, die einmal eine waagrechte und einmal eine senkrechte Rinne zu ergeben scheinen (Bild 1). Im ersten Fall tritt eine Täuschung ein, im anderen nicht – und das trotz jeweils gleich hoher Kontraste zwischen den Nachbarfeldern.

Und auch bei noch so mißtrauischer Betrachtung ist kaum zu glauben, daß in einem von Adelson präsentierten Kachelmuster die Unterschiede in den Grauwerten von Hintergrund und quadratischen Kacheln pure Einbildung sind (Bild 2 links). Der Eindruck, über dem Muster lägen durchsichtige Streifen und veränderten die Helligkeiten, verfliegt nicht einmal dann, wenn das Grundmuster waagrecht auseinandergenommen wird: Obwohl die scheinbar verschieden hellen Flächen nun kontinuierlich zusammenhängen und – wie man im kleinen leicht nachvollziehen kann – offensichtlich denselben Grauton haben, meint man noch immer zwei- bis dreierlei verschieden graue Streifen zu sehen (Bild 2 rechts).

Aus den Täuschungen, die im MIT-Medienlabor im Rahmen eines Programms zur Erforschung digital erzeugter Fernsehbilder entwickelt worden sind, schließt Adelson: "Urteile über Helligkeit lassen sich nicht einfach mit Mechanismen auf niedriger Ebene erklären . . . Ein Modell, das diese Phänomene vorherzusagen vermag, muß wahrscheinlich komplizierte Mechanismen enthalten, die das Bild in eine Gruppe interner Repräsentationen für Reflexionsvermögen, Beleuchtung und Durchsichtigkeit zerlegen." (M. S.)


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1994, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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