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Technikvorausschau mittels Expertenbefragung


Der Mensch versucht von jeher, künftige Ereignisse vorherzusagen, im allgemeinen mit nur geringem Erfolg. Auch wissenschaftliche Methoden machen die Zukunft nicht mit Sicherheit bestimmbar – exakte Daten über kommende Ereignisse gibt es nicht.

Das menschliche Handeln ist nun einmal in komplexe Wirkungszusammenhänge eingebettet. Extrapolationen, die anhand von Zeitreihen von der Vergangenheit ausgehend Trends einer einzigen Variablen quantitativ fortschreiben, können solchen Zusammenhängen keinesfalls gerecht werden. Selbst aufwendige Simulationsmodelle berücksichtigen bislang lediglich formal beschreibbare, also mathematisch zu modellierende, Beziehungen.


Grundlagen der Delphi-Studie

Trotz allem sind wir dem Schicksal nicht völlig ausgeliefert. Eben weil die Zukunft offen ist, kann der Mensch sie gestalten: Entscheidungen von heute bestimmen das Leben von morgen. Aufgrund von Erfahrungen und Intuition können wir Vor- und Nachteile möglicher Handlungen abwägen sowie Alternativen und mögliche Zukünfte mit Realitätssinn bewerten. Solche kognitiven Prozesse bilden die Grundlage der Delphi-Methode. Sie ist zwar nach der griechischen Stadt benannt, in deren Apollon-Heiligtum die Pythia mit vieldeutigen Orakelsprüchen Rat gab, hat aber nichts mit solch mythischem Sehen gemein und eignet sich besonders für langfristige Abschätzungen.

Dieses prognostische Instrument ist eine Form der Expertenbefragung, die in den fünfziger Jahren in den USA für die Rüstungsplanung entwickelt wurde. Ziel war es, die Qualität von Expertenaussagen zu verbessern. Wesentliche Merkmale der Methode sind die anonyme Erhebung mittels Fragebogen und die Konsensfindung in weiteren Befragungsrunden, in welche die Ergebnisse der jeweils vorigen eingehen.

In einem zweiten Durchlauf erhalten die Experten also die gleichen – überarbeiteten – Fragen erneut, kennen nun aber auch die Meinung ihrer Kollegen und dürfen ihre eigene ohne Begründung revidieren. Das ließe sich zwar fortführen; aber weil das Verfahren aufwendig ist und nach einschlägigen Untersuchungen die meisten Meinungsänderungen zwischen der ersten und der zweiten Runde auftreten, begnügt man sich häufig mit zwei Durchläufen.

Diese Methode dient in Japan seit 1971 der umfassenden Vorausschau in Wissenschaft und Technik. Damals beauftragte der Ministerpräsident das ihm unterstellte Amt für Wissenschaft und Technologie (Science and Technology Agency, STA) mit der ersten derartigen Untersuchung. Sie begann mit einer Befragung, welche Bereiche und welche Innovationsthemen für Japan in den nächsten dreißig Jahren – also von da an bis etwa zum Jahr 2000 – relevant seien. Fast 2000 Experten gaben ihre Einschätzungen ab, aus denen letztlich 644 Themen ausgewählt wurden. Mehr als 4000 Fachleuten legte man diese zur Beurteilung vor.

Die Ergebnisse wurden breit gestreut, vielfältig diskutiert und beeinflußten – ergänzt durch andere Untersuchungen – die japanische Forschungsplanung. Nach fünf Jahren entschloß man sich zur erneuten Untersuchung; die Innovationsthemen der ersten Befragung bildeten dabei die Grundlage. Kleinere Expertengruppen entschieden, daß einige Themen gestrichen, andere umformuliert und manche hinzugefügt werden sollten. So vermochte man Veränderungen und Fortschritte zu prüfen. Das Verfahren wurde fortan alle fünf Jahre durchgeführt. (Die vierte Studie führte 1986 das unabhängige Institute for Future Technologies durch, die fünfte das 1989 gegründete National Institute of Science and Technology, NISTEP, das dem STA unterstellt ist.) Der Vorgang blieb in der westlichen Welt fast unbemerkt, obwohl zumindest die vierte Untersuchung in englischer Sprache erhältlich ist.

In Deutschland war diese Form der Planung vor allem in den achtziger Jahren verpönt, stand sie doch scheinbar im Widerspruch zur im Grundgesetz garantierten Freiheit der Forschung. Wissenschaftlicher Fortschritt galt als nicht vorhersehbar, obgleich dies möglicherweise für die Grundlagenforschung, kaum aber für die anwendungsorientierte gelten mag. Erst Wiedervereinigung und wirtschaftliche Rezession sowie das Erfordernis, Prioritäten in der Forschungsförderung zu setzen, bewirkten zu Beginn dieses Jahrzehnts ein Umdenken.

Das damalige Bundesministerium für Forschung und Technologie beauftragte unser Institut mit zwei Studien. Eine Erhebung von Zehnjahresperspektiven zu etwa 80 sogenannten Schlüsseltechnologien wurde von uns koordiniert; den inhaltlichen Beitrag leisteten sechs Projektträger des Ministeriums sowie die Deutsche Gesellschaft für Chemisches Apparatewesen (DECHEMA) (Bild 1). Des weiteren stimmte das Ministerium dem Vorschlag unseres Instituts zu, die damals anlaufende fünfte japanische Delphi-Studie in Kooperation mit dem NISTEP zeitgleich auch in Deutschland durchzuführen und mit einem Zeithorizont von 30 Jahren weiterzuverfolgen. (Die Initiative dazu ist vor allem dem ehemaligen Leiter des ISI, Helmar Krupp, zu verdanken, der seine engen Kontakte zu Japan nach seiner Emeritierung noch ausbauen und so die Grundlagen für ein gemeinsames Projekt legen konnte.)

Um die Resultate vergleichen und von der langjährigen japanischen Erfahrung lernen zu können, wurden 1147 der ursprünglich 1150 Themen ins Deutsche übertragen (Bild 2); auch im Aufbau folgte der Fragebogen dem japanischen. Etwa tausend Fachleute beurteilten die Wichtigkeit einer Innovation und den voraussichtlichen Zeitraum ihrer Verwirklichung (wobei sie die Genauigkeit ihrer Angabe abschätzten). Sie bewerteten die Notwendigkeit weltweiter Zusammenarbeit für eine Realisierung, mögliche Hemmnisse sowie den aktuellen Stand von Forschung und Entwicklung zu einem Innovationsthema in verschiedenen Ländern; außerdem gaben sie eine Einschätzung ihrer eigenen themenbezogenen Fachkenntnisse.

Die Rücklaufquote demonstrierte eine generelle Offenheit der wissenschaftlichen und technischen Gemeinschaften: In Japan lag sie in der ersten Runde bei 84 und in der zweiten bei 86 Prozent; nach anfänglichen technischen Problemen betrug sie in der ersten Runde in Deutschland zwar nur 30, in der zweiten aber 82 Prozent.

In beiden Ländern führten Innovationen für die Umwelt, in der Medizin und in den Biowissenschaften die Liste der als besonders wichtig bezeichneten Fachgebiete an. Unterschiedliche Bewertungen bei den Einzelthemen sind vermutlich kulturell bedingt. Als hemmend wurden übereinstimmend in erster Linie technische Probleme genannt, gefolgt von hohen Kosten bei der Einführung neuer Techniken. Und während es in Deutschland wohl mit der Umsetzung von Forschungsergebnissen in marktreife Produkte hapert, fürchtet man in Japan einen Mangel an gut ausgebildetem Personal für die weitere Forschung.


Mögliche Verfahrensverbesserungen

Ein wesentlicher Punkt der Kritik an dieser Umfrage war der Ursprung der Themen – sie stammten von japanischen Experten und bezogen sich somit auf dortige Verhältnisse. Zwar vollzieht sich die Entwicklung in Wissenschaft und Technik international, doch prägen nationale Besonderheiten und kulturelle Eigenheiten das jeweilige Innovationsgeschehen. Manche Delphi-Themen betrafen konkrete japanische Probleme, die sich nicht auf Deutschland übertragen lassen; andererseits fehlten Fragen, die auf spezifisch deutsche Verhältnisse zugeschnitten sind.

Deshalb wurden die Fragen einer folgenden Mini-Delphi-Studie erstmals von japanischen und deutschen Experten gemeinsam erarbeitet. Auf der Grundlage der ersten Untersuchung hatte man vier für die Volkswirtschaft kritische Schlüsselbereiche identifiziert, die es eingehender zu untersuchen galt. Um den Aufwand gering zu halten, wurden aus jedem dieser Bereiche zwei Unterthemen herausgegriffen. Es resultierten also insgesamt acht Leitthemen, die zwar die Engpaßbereiche nicht repräsentativ abdeckten, aber detaillierter analysiert werden konnten: Werkstoffe und Verfahrenstechnik mit den Unterthemen Photovoltaik und Supraleitung, Mikroelektronik und Informationsgesellschaft mit den Aspekten kognitive Systeme / künstliche Intelligenz sowie Nanotechnologie / Mikrosystemtechnik, Biowissenschaften und Medizin mit den Bereichen Krebsforschung und -heilung sowie Hirnforschung, Auswege aus der Umweltzerstörung mit den Aspekten Abfallverarbeitung und Recycling sowie Klimaforschung und -technologie.

Auch die abzufragenden Kategorien wurden teilweise verändert. So hielt man nun die Kategorie Wichtigkeit der ersten Studie für zu allgemein und schlüsselte sie auf in Wichtigkeit für den Fortschritt von Wissenschaft und Technik, für die Wirtschaft, für die Umwelt, für die Dritte Welt und für die Gesellschaft allgemein.

Der Rücklauf lag in Deutschland bei 40 Prozent in der ersten und mehr als 70 Prozent in der zweiten Runde.

Diese Befragung bereitete die zweite umfassende Delphi-Studie vor, die im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie anläuft. Unterstützt durch einen Begleitausschuß und Expertenkommissionen sollen auf die Bundesrepublik bezogene Innovationsthemen formuliert und dann mit japanischen Expertengremien diskutiert werden. Durch das gemeinsame Entwickeln von Fragen soll ein kultureller Vergleich möglich werden, nicht zuletzt, um nationale Blindheit angesichts der zunehmend international ablaufenden technischen Entwicklung zu vermeiden. Der künftige deutsche Fragenkatalog, der ab Mitte 1996 den Experten zur Beurteilung vorgelegt werden soll, wird aber voraussichtlich in ausgewählten Punkten vom japanischen Pendant abweichen, um nationale Besonderheiten zu berücksichtigen.


Problem Bedarfsorientierung

Ein zweiter Kritikpunkt, die Delphi-Studie sei technikzentriert und vernachlässige künftige Bedürfnisse der Menschen, ist schwieriger zu beheben. Bei der Formulierung der Visionen lassen sich nur gegenwärtig bekannte Wünsche berücksichtigen.

Berechtigt ist der Einwand, daß lediglich Experten befragt werden, obwohl breite Bevölkerungsschichten vom technischen Wandel betroffen sind. Es fehlen jedoch Methoden, einen künftigen Bedarf in Reaktion auf das dann verfügbare Angebot zu erfassen. Wer wäre dafür als zu befragende Gruppe repräsentativ? Es gilt mithin, Vorgehensweisen zu entwickeln, die gesellschaftliche, rechtliche und soziale Fragen mit den bereits verfügbaren technikzentrierten zu einem eher gesamtheitlichen Instrumentarium integrieren.

Die vorliegende Delphi-Studie sollte deshalb als eine Quelle verstanden werden, die durch weitere Informationen zu ergänzen ist. Ein geeignetes Verfahren dazu ist die Szenario-Analyse. Ihr Ursprung ist eng mit dem der Delphi-Befragung verwandt. Sie ermöglicht die Beschreibung alternativer Zukunftsbilder für bestimmte, abgrenzbare Gebiete. Der Vorteil liegt in der Berücksichtigung verschiedener Einflüsse und im Erstellen alternativer Zukunftsbilder. Dazu grenzt man den Untersuchungsgegenstand zunächst ab und identifiziert relevante Faktoren. Für jeden davon erstellt man verschiedene Trendannahmen anhand quantitativer und qualitativer Informationen – unter anderem eben aus der Delphi-Studie. Die zunächst isoliert betrachteten Trendannahmen faßt man dann zu in sich konsistenten Zukunftsbildern zusammen und leitet daraus Maßnahmen ab, um bestimmte Zielvorgaben zu erfüllen.

Diese Informationen lassen sich demnach nutzen, um einen umfassenden Dialog über die Zukunft zu organisieren, an dem sich alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligen können. Denn keine Expertengruppe ist legitimiert, allein über Prioritäten, Änderungen der Rahmenbedingungen und die Zuweisung von Forschungsmitteln zu entscheiden – das ist Aufgabe der demokratischen Instanzen. Die Vorausschau kann unterstützende Informationen für diesen Dialog zur Verfügung stellen. Die aktive Gestaltung der Zukunft liegt letztlich in der Hand eines jeden einzelnen von uns.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1995, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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