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Technische Wachstumsprozesse - Analysen und Prognosen


Der Begriff Wachstum wird meist in naturwissenschaftlichen oder ökonomischen Zusammenhängen gebraucht: Ein Kind wächst, aber auch eine Population von Lebewesen; man kennt Kristall- und Wirtschaftswachstum. Oft gelingt eine mathematische Modellierung solch eines Vorgangs, sofern zwischen dem momentanen Zustand des sich erweiternden Systems und seiner Zukunft eindeutige Zusammenhänge bestehen. So vermehren sich biologische Zellen durch Teilung, und unter optimalen Bedingungen wächst eine Population etwa von Bakterien demnach um so schneller, je mehr von ihnen jeweils bereits vorhanden sind. Einen solchen Zusammenhang vermag die Exponentialfunktion zu beschreiben.

Im Jahre 1798 stellte der britsche Nationalökonom und Sozialphilosoph Thomas Robert Malthus (1766 bis 1834) die pessimistische These auf, die Bevölkerung wachse, wenn sie nicht gehemmt werde, in dieser progressiven Weise, die Erzeugung von Lebensmitteln dagegen lediglich mit konstanter Rate (im heutigen Sprachgebrauch linear). Damit suchte er den Grund für das menschliche Elend zu finden.

Auch technische Systeme – als Ausschnitte der materiellen Welt verstanden, in denen technische Prozesse ablaufen – vermögen in einem solchen Sinne zu wachsen oder zu schrumpfen; Beispiele wären etwa der öffentliche Nahverkehr in einer bestimmten Region, die Stahlproduktion eines Landes oder der weltweite Reisanbau. Wie man mit mathematischen Modellen versucht, physikalische, chemische, biologische oder ökonomische Prozesse zu modellieren, um deren künftige Entwicklung zu prognostizieren, unternimmt man auch im technischen Bereich derartige Anstrengungen, deren Bedingungen im folgenden kurz umrissen werden.


Grenzen des Wachstums

Der Lebensraum des Menschen ist begrenzt, und ebenso sind es alle Systeme, in denen sich technisches Wachstum abspielt. Wäre es exponentiell, überstiege es also in verhältnismäßig kurzer Zeit jedwede Grenze. Deshalb kann solches Wachstum nur zeitweise auftreten und muß dann in einen Zustand ohne weitere Zunahme (Sättigung oder im Sprachgebrauch der Ökonomen Null-Wachstum) oder sogar in Abnahme münden.

Um den Übergang zur Sättigung zu beschreiben, konzipierte der belgische Mathematiker Pierre François Verhulst (1804 bis 1849) im Jahre 1838 bei der Modellierung des Bevölkerungswachstums eine mathematische Funktion, die nach anfänglichem exponentiellem Anstieg auf einen konstanten Wert zuläuft: die logistische Kurve (alle im folgenden genannten Funktionen sind in Bild 1 zu finden). Die Exponentialfunktion beschreibt näherungsweise deren Anfangsteil, also für sehr kurze Zeiten, bestimmt durch zwei Parameter: wann der entsprechende Vorgang ablief und wie rasch der Anstieg war. Die logistische Kurve enthält als einen dritten Parameter den Sättigungswert.

Man hat sie auf viele Wachstumsprozesse angewandt: auf den der Bevölkerung ebenso wie auf technischen, materiellen oder wissenschaftlichen Fortschritt. Allerdings gab es zum Teil herbe Enttäuschungen. Betrachtet man die Ableitung der Kurve, zeigt sich der Grund: Der Momentanwert der Funktion und sein Abstand vom Sättigungswert sind über denselben Faktor verknüpft – der anfänglich wachstumsbeschleunigende Einfluß müßte also in derselben Weise wirken wie der letztlich verlangsamende.

Realistische Modellierung von Wachstum und Abnahme

Abhilfe bringt ein weiterer Parameter, der die Form der Kurve genauer bestimmt und dabei die problematische Symmetrie stört (in der logistischen Kurve ist er gleich 1, so daß diese ein Spezialfall ist). Die verallgemeinerte Funktion – in der Biologie schon 1973 zur Analyse von populationsdynamischen Vorgängen eingeführt – bewährte sich in vielen Fällen, und wir nannten sie Wachstumsfunktion.

Die Exponentialfunktion stellt auch für deren Anfangsteil eine gute Näherung dar, das Einmünden in die Sättigung läßt sich hingegen gut durch eine logistische Kurve annähern (nahe der Sättigung wirkt sich der Exponent nämlich kaum noch aus und kann gleich 1 gesetzt werden). Durch logarithmische Darstellung des Wachstums in einem technischen System gegen die abgelaufene Zeit läßt sich demnach leicht feststellen, ob der Vorgang einer solchen verallgemeinerten logistischen Funktion folgt: Aus dem exponentiellen Anstieg müßte dann eine Gerade werden, die mehr oder weniger sanft in eine Horizontale übergeht.

Manches, was gewachsen ist, kann in der weiteren Zukunft auch wieder abnehmen. Um dies zu beschreiben, eignet sich häufig die erste Ableitung der Wachstumsfunktion mit ebenfalls vier Parametern. In der beschriebenen logarithmischen Darstellung erscheint sie als Übergang von einer ansteigenden zu einer abfallenden Geraden, und letztere ist eine Exponentialfunktion mit negativem Vorzeichen des Exponenten.

Tatsächlich lassen sich Wachstumsprozesse aus den verschiedensten Zweigen der Technik zumeist mit einer von beiden Formeln beschreiben. Gelegentlich auftretende Ausnahmen zeigen aber, daß dem kein allgemeines Gesetz nach Art eines Naturgesetzes zugrunde liegt. Für das Auftreten exponentiellen Wachstums (positiv oder negativ) lassen sich demnach keine zwingenden Gründe angeben, sondern nur mehr oder weniger schlüssige Analogien. Kapital verzinst sich beispielsweise dann exponentiell, wenn die Zinsen ihm jeweils zugeschlagen werden.

Die Gültigkeit von Wachstums- und Abnahmefunktionen für die Beschreibung einer Systementwicklung wird geprüft, indem man solche Funktionen an Zeitreihen von Wachstumsindikatoren – also besonders charakteristischen Prozeßgrößen – anzupassen sucht (dazu variiert man die Kurvenparameter). Dabei sind extensive und intensive Indikatoren zu unterscheiden: Extensive wie etwa Produktionsdaten sind dem jeweiligen Umfang eines Systems proportional, müßten also bei dessen Vervielfachung in gleicher Weise zunehmen. Intensive Indikatoren wie Wirkungsgrade etwa in der Energietechnik oder Hektarerträge in der Landwirtschaft sind hingegen vom Umfang des Systems unabhängig; sie charakterisieren deshalb den technischen Fortschritt beziehungsweise den Stand der Technik auf einem Gebiet. (Dies ist allerdings eine rein technische Bewertung. Fortschritt muß unter Umständen unter gesellschaftlichen oder ethischen Gesichtspunkten negativ beurteilt werden, wie das Beispiel der Massenvernichtungsmittel zeigt.)


Modellierung und Praxis

Mitunter kommt es vor, daß keine der genannten Funktionen die Entwicklung zu beschreiben vermag oder daß während des Ablaufs der Funktionstyp wechselt. Deshalb ist nicht nur zu prüfen, ob ein Datensatz einer bestimmten Funktion entspricht, sondern auch, in welchem Zeitraum dies der Fall war. Außerdem finden sich häufig zufällige oder systematische Abweichungen.

Beispielsweise unterliegt die landwirtschaftliche Produktion in den gemäßigten Breiten – hauptsächlich witterungsbedingt – vielfach starken Schwankungen. So streuten die Hektarerträge des Weizenanbaus im Deutschen Reich wie auch in den alten Bundesländern stark um den Kurvenverlauf zweier Exponentialfunktionen mit unterschiedlichen Exponenten (Bild 2) – eine empirische Widerlegung von Malthus' These; Anzeichen von Sättigung sind nicht erkennbar. (Die stärkere Steigung der Geraden für die hochindustrialisierte Bundesrepublik belegt, daß sich die Weizenerzeugung mit technischen Mitteln rascher steigern ließ; ähnliche Kurven finden sich auch für verschiedene andere landwirtschaftliche Produkte wie Roggen, Gerste, Hafer und Kartoffeln.)

Die Zahl der Verkehrsopfer in Deutschland zwischen 1950 und 1993 ist ein gutes Beispiel für eine systematische Abweichung. Die graphische Darstellung weist für 1970 ein Maximum auf und fällt danach ab, wenn auch mit starker Streuung. In dieser Zeit stieg die Zahl der Automobile in beiden Teilen Deutschlands stark an, und der Verlauf spiegelt die einander entgegengesetzte Entwicklung zweier Größen wider: der Kraftfahrzeugzahl und der Verkehrssicherheit.

Eine Abnahmekurve gibt dies nur mäßig gut wieder. Führt man als intensive Indikatoren der Verkehrsgefährdung jedoch die Zahl der Toten beziehungsweise der Verletzten bezogen auf die Zahl der Kraftfahrzeuge ein, so lassen diese Größen den exponentiellen Abfall erkennen, der dem letzten Teil einer Abnahmekurve entspricht (Bild 3). Für die Jahre ab 1990 streben beide Kurven aber höhere Werte an: Mit der Vereinigung beider deutscher Staaten begannen hier systematische Veränderungen, die vielleicht nur vorübergehend, vielleicht aber auch von Dauer sind.

Ebenfalls durch außertechnische Einflüsse bedingt sind markante Abweichungen in der Wachstumskurve der Aluminium-Weltproduktion von 1910 bis 1989 (Bild 4); sie konzentrieren sich auf den Zeitraum zwischen 1914 und 1945. Maxima gab es demnach 1917 und 1943, Minima 1921, 1933 und 1946. In diesem Verlauf bilden sich die beiden Weltkriege sowie die Wirtschaftskrise ab, also politisch-ökonomische Vorgänge, auf welche die Aluminiumproduktion jeweils mit Verzögerung reagiert hat; nach Kriegen wurden meist Minima durchlaufen. Beispielsweise ergab sich das von 1933 als eine Spätfolge der Weltwirtschaftskrise, während das Maximum 1943 eine Auswirkung forcierter Herstellung von Kriegsmaterial für den Zweiten Weltkrieg war. Ein weiteres Maximum 1974 läßt sich möglicherweise auf den ein Jahr zuvor beendeten Vietnamkrieg zurückführen.


Entwicklung der Kohlendioxid-Emissionen

Technischer Fortschritt bedurfte bis in unsere Zeit auch einer Steigerung der Energieerzeugung. Weil dabei meist fossile Energieträger verbrannt wurden, ist die Kohlendioxid-Emission ein allgemeiner Indikator der Entwicklung des Industriesystems, die um das Jahr 1715 begann, als eine brauchbare Dampfmaschine und die Eisenverhüttung mit Steinkohlekoks eingeführt wurden. Seit 1860 stehen entsprechende Daten zur Verfügung; für die Zeit davor lassen sie sich aus Angaben zur britischen Kohleförderung bis etwa 1680 rekonstruieren, da bis ins 19. Jahrhundert hinein nahezu ausschließlich britische Kohle in dieser Weise genutzt wurde.

Die beiden Zahlenreihen fügen sich gut zusammen, und die Gesamtkurve (Bild 5) zeigt einen mehrfachen Wechsel der beschreibenden Funktion. Zwischen 1755 und 1820 nimmt ihre Steigung in logarithmischer Darstellung unablässig zu, was sich durch einen hyperexponentiellen Ansatz modellieren läßt (Bild 1). Danach folgt eine Exponentialkurve bis 1913. Von 1914 bis 1945 schwankt der Anstieg um einen Mittelwert. Erneutes exponentielles Wachstum folgt, und seit etwa 1970 zeichnet sich ein allmählicher Übergang zur Sättigung ab.

Dieser mehrfache Wechsel läßt sich gut mit den geschichtlichen Bedingungen erklären: Im Vorfeld der industriellen Revolution gab es zahlreiche Folgeerfindungen zur Dampfmaschine und zur Eisenverhüttung. In der Zeit von 1914 bis 1945 wirkten sich auch hier die Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise aus. Ähnliche Störungen zeigten in dieser Zeit auch andere industrielle Schlüsselprodukte (Roheisen, Kupfer, Zink, Blei, Nickel, Stickstoffdüngemittel, Zement), nicht aber wie erwähnt Aluminium und Schwefelsäure. In dieser Phase scheint das Industriesystem quasi von einer Krankheit befallen, die verschiedene Teilsysteme unterschiedlich schädigte.


Interpretation der Abweichungen

Technische Entwicklungen sind außerordentlich komplexe Vorgänge, auf die Einflüsse verschiedenster Art wirken: ideelle, gesellschaftliche, ökonomisch-politische und naturgesetzliche. Die Funktionen, mit denen sie häufig beschrieben werden können, wirken demgegenüber allerdings erstaunlich einheitlich und einfach. Der Grund dafür ist wohl, daß beim Zusammenwirken verschiedener Teilvorgänge der jeweils langsamste den Gesamtablauf bestimmt. Darum sind die Hemmungen und Widerstände, die einer Entwicklung entgegenstehen, ausschlaggebend für ihren Verlauf. Wo eine Erfindung nicht möglich ist (etwa in der Technik die eines Perpetuum mobile), unterbleibt die Entwicklung; in anderen Fällen setzt sie mit einer Erfindung, also dem Wegfall eines Hemmnisses, ein.

Auch Abweichungen lassen sich so verstehen: Beispielsweise ist der hohe Energieaufwand in der Aluminiumproduktion ihr nicht förderlich. In den Kriegen mit ihrer Waffenproduktion trat dieses Hemmnis zurück; nach Kriegsende verstärkte es sich wieder, wenn die im Übermaß neu produzierten Mengen anderweitig verbraucht werden konnten, sei es als Halbzeug, sei es im Rahmen der Schrottverwertung. Ein Wechsel der Funktion erscheint als Ablösung eines abgeschwächten oder weggefallenen Hemmnisses durch ein anderes.


Von der Analyse zur Prognose

Ob die geschilderten Methoden prognostisch genutzt werden können, hängt davon ab, was man von solchen Voraussagen erwartet. Versteht man unter Prognose die Verlängerung eines Trends in die Zukunft, so werden sich Aussagen darüber mit einiger Wahrscheinlichkeit bewähren. Sie betreffen aber nur Abläufe, die bereits einige Zeit lang regelmäßig stattgefunden haben. Wann ein neuer Vorgang einsetzt und wie er sich vollziehen wird ist ebensowenig vorhersagbar wie Abweichungen oder ein Funktionswechsel, wie das beschriebene Beispiel der Energiegewinnung belegt: Der exponentielle Verlauf zwischen 1860 und 1913 enthält keinen Hinweis auf seine bevorstehende Unterbrechung; auch gestattet er vor der Sättigung noch keinen Schluß darauf, ob eine Wachstums- oder eine Abnahmekurve vorliegt. (In den Bildern 4 und 5 sind jeweils Wachstumsfunktionen angenommen.)

Mit diesen Einschränkungen lassen die obigen Beispiele lediglich folgende Prognosen zu:

- Die Hektarerträge für Weizen werden in Deutschland auch weiterhin steigen, doch vermag man weder Wachstumsrate noch Sättigung zu bestimmen.

- Die Zahl der Verkehrsopfer, bezogen auf die der Kraftfahrzeuge, wird in Deutschland weiter sinken, und zwar die der Toten rascher als die der Verletzten.

- Die Weltproduktion von Aluminium wird unter heutigen Bedingungen nicht über 20 Millionen Jahrestonnen steigen.

- Das weltweite Industriesystem nähert sich – vermutlich aufgrund besserer Energienutzung infolge etwa der Verteuerung – einer Stagnation auf hohem Niveau. Die Emissionen von Kohlendioxid aus fossilen Quellen werden zehn Milliarden Jahrestonnen Kohlenstoff nicht wesentlich überschreiten (zur Zeit sind es etwa sechs Milliarden).

Die letzte Prognose mag unter Umweltgesichtspunkten beruhigen, besagt aber gleichzeitig für den Ökonomen, daß technischer Fortschritt langfristig nicht mehr von einer weiteren Steigerung des Energieumsatzes, sondern nur von besserer Energienutzung zu erwarten ist. Gänzlich unklar bleibt, wie ein Wirtschaftssystem, das auf exponentieller Verzinsung des Kapitals beruht, eine solche Situation bewältigen wird.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1995, Seite 103
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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