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Technologische Leistungsfähigkeit - Herausforderung an den Bildungsstandort



Jedes Jahr legen mehrere Wirtschaftsforschungsinstitute ihrem Auftraggeber, dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF), eine aktualisierte und erweiterte Fassung ihrer gemeinsam erstellten Studie "Zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands" vor (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, August 1997, Seite 116). Für den Berichtszeitraum 1997 findet sich in ihr erstmals auch ein Kapitel "Qualifikation und Bildung". Die wichtigste Forderung darin: Bildung sollte wieder Vorrang erhalten.

Angesichts des Umstandes, daß der Anteil des Bruttoinlandsprodukts, den die Bundesrepublik für Aus- und Weiterbildung aufwendet, bereits seit Jahren stetig kleiner wird und sie im Vergleich mit allen anderen Industrieländern mittlerweile nur noch in der unteren Hälfte der Rangliste liegt, wirkt diese Formulierung recht verhalten.

Weil tiefgreifende Änderungen in den Systemen von Schule, Hochschule und Weiterbildungseinrichtungen nur äußerst langsam voranschreiten, wird deren finanzielle Situation immer prekärer; und die strukturellen Mängel im deutschen Bildungswesen offenbarten sich erst kürzlich wieder in den Ergebnissen der TIMSS-Studie, in der die Leistungen der Schüler in Mathematik und Naturwissenschaften untersucht wurden, sowie in den mühsamen und oft vergeblichen Versuchen einer Hochschulreform (siehe Spektrum der Wissenschaft, April 1998, Seite 106, sowie Dezember 1997, Seite 34, und Januar 1998, Seite 124). Bisher nur sporadisch wahrgenommen sind die Probleme der Weiterbildung. Diese sei jedoch, so der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit, "bei immer kürzeren Halbwertszeiten des Wissens gerade in einer wissensintensiven Gesellschaft besonders wichtig".

Die dramatischen wirtschaftlichen Umstrukturierungen infolge der zunehmenden Globalisierung von Produktion und Märkten machen Wissen zum entscheidenden Faktor, sollen die gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen bewältigt werden. Dabei nimmt die Bedeutung herkömmlicher formaler Qualifikationen ab; während der beruflichen Tätigkeit ist weiteres Lernen unerläßlich. Die Kompetenz in neuen Qualifikationsfeldern und Schlüsselqualifikationen können die traditionellen Bildungseinrichtungen alleine nicht mehr vermitteln, denn die bisherigen Instrumente dieses eher unter dem Gesichtspunkt seiner Funktionen als unter dem seiner Institutionen zu betrachtenden Weiterbildungswesens sind unzulänglich; finanziell wird dieser Bereich ohnehin seit langem vernachlässigt.

Zwischen 1992 und 1996 gingen nach einer vom BMBF zusammengestellten Tabelle die Ausgaben von Staat und Wirtschaft für die Weiterbildung um fast zehn Prozent von 50,3 auf 45,8 Milliarden Mark zurück; ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt sank damit von 1,6 auf 1,3 Prozent (Bild 1). Zwar stagnierten auch die Aufwendungen für Bildung und Ausbildung (vor allem Schulen, Hochschulen und berufliche Erstausbildung) bei 5,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, doch war nominal wenigstens ein Anstieg von 156 auf 179 Milliarden Mark zu verzeichnen. Die geringe Zunahme der Ausgaben für Forschung und Entwicklung von 76 auf knapp 81 Milliarden Mark entspricht einer Abnahme des Anteils am Bruttoinlandsprodukt von 2,5 auf 2,3 Prozent.



Lippenbekenntnisse und unklare statistische Unterlagen




Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage der SPD-Fraktion im Bundestag festgestellt: "Gesellschaftliche Innovation, struktureller Wandel und Standortsicherung stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der ständigen Lernbereitschaft und dem kontinuierlichen Lernen der Menschen." Nähme man diese Aussage ernst, müßte die berufliche Weiterbildung stärker als bisher in das Bildungswesen integriert werden. Daß dies aber nicht nur eine struktur-, sondern auch eine finanzpolitische Herausforderung an den Staat ist, wird geflissentlich übersehen. Die Bundesregierung möchte nur die Rahmenbedingungen gestalten und lediglich ausgewählte Einzelaktionen finanziell unterstützen. Weiterbildung sei nämlich eine Sache der Eigenverantwortung, der Selbstorganisation, der dezentralen Steuerung durch den Weiterbildungsmarkt und erlaube nur subsidiäre Hilfen. Es braucht deshalb niemanden zu verwundern, daß die insgesamt 91 Punkte der Regierungsantwort zwar ein äußerst buntes Bild der beruflichen Weiterbildung zeichnen, aber ein in sich geschlossenes politisches Konzept vermissen lassen.

Der unter Federführung des Niedersächsischen Instituts für Wirtschaftsforschung erstellte Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit beklagt zudem, daß aussagekräftiges und zuverlässiges Datenmaterial über die Intensität der beruflichen Weiterbildung fehlt. Immerhin erarbeitet das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Berlin derzeit eine Studie über die Situation in den Betrieben, die als wichtiger Indikator für die gesamte berufliche Weiterbildung dienen kann. Das BIBB sieht jedoch erhebliche Probleme, die verschiedenen Formen der Weiterbildungsaktivitäten adäquat zu erfassen und zu quantifizieren. Nach einer Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln haben die privaten Unternehmen 1992 insgesamt sechs Milliarden Mark mehr für die betriebliche Weiterbildung ausgegeben als das Statistische Bundesamt und das BIBB im Rahmen einer europaweiten Erhebung namens FORCE in den Jahren 1993 bis 1995 errechneten. Die Diskrepanz erklärt sich zum Teil mit den angewandten unterschiedlichen methodischen Konzepten und Definitionen.

Die FORCE-Erhebung hat ferner die wichtige Erkenntnis vermittelt, daß Weiterbildung jenseits der klassischen internen und externen Lehrveranstaltungen zwar an Bedeutung und Vielfalt zunimmt, daß aber ihre enge Verknüpfung mit dem Arbeitsprozeß eine Quantifizierung und empirische Erfassung erschwert. Im Auftrag des BMBF bemüht sich deshalb das BIBB gemeinsam mit dem Institut der deutschen Wirtschaft sowie dem Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung an der Universität Hannover darum, die einzelnen Formen des arbeitsintegrierten oder arbeitsplatznahen Lernens näher zu beschreiben und der statistischen Auswertung zugänglich zu machen. Als besonders problematisch erweist sich dabei, Möglichkeiten und Grenzen der Erfaßbarkeit informeller Formen der betrieblichen Weiterbildung aufzuzeigen.



Ineffektiver Umgang mit der Ressource Wissen




Die Akademie für Technikfolgenabschätzung Baden-Württemberg in Stuttgart hat in einer umfassenden Studie unter anderem untersucht, warum die bisherigen Reformvorschläge für einzelne Sektoren des Bildungs- und Forschungssystems (zum Beispiel Hochschulen, duales System der Berufsausbildung und Technologieförderung) nicht greifen. Die wichtigste Erkenntnis: "Es gibt kein Gesamtkonzept, das auch die institutionellen und sozialen Voraussetzungen berücksichtigt, ohne die ‚Wissen' nicht erfolgsfördernd wirken kann: die Bedeutung intakter Sozialstrukturen, die verheerende Wirkung von Arbeitslosigkeit und die neuen Herausforderungen der Arbeitswelt an die betriebliche und integrierte Weiterbildung." Die Kluft zwischen erworbenen und auf dem Arbeitsmarkt nachgefragten Kompetenzen sei ein deutlicher Indikator für den ineffektiven Umgang mit der Ressource Wissen. Auch würden betriebliche Investitionen in die sogenannten Humanressourcen – etwa in die Aus- und Weiterbildung qualifizierter Mitarbeiter – seit Jahren drastisch reduziert. Ebenso gingen öffentliche Ausgaben für Forschung und Bildung auf breiter Front zurück.

Mit neuen Ansätzen für Baden-Württemberg will die Akademie Aufbau und Nutzung von Humanressourcen verbessern, sie effizient und sozialverträglich gestalten. In zunehmend globalisierten Märkten sollen attraktive regionale Bedingungen gefördert werden, etwa mit dem Abbau staatlicher Wachstumshemmnisse und mit Investitionen in die Infrastruktur. Dazu zählt auch die Entwicklung eines "Netzwerks für lebenslanges Lernen und Arbeiten". Dieses interaktive, allen Marktteilnehmern leicht zugängliche Informations- und Bewertungssystem soll Bildungs- und Berufsqualifikationen zertifizieren und Daten über alle im Land vorhandenen und nachgefragten Qualifikationen vermitteln. Damit würde für Baden-Württemberg erstmals ein umfassender Überblick über die tatsächlich verfügbaren Humanressourcen geschaffen.



Investitionen in Humankapital besser verstehen




Damit würde eine Forderung erfüllt, die in der "Bildungspolitischen Analyse 1997" der OECD enthalten ist. Ihr zufolge müßten die Länder besser verstehen lernen, wie wirksam Investitionen in den Aufbau von Humankapital sind. Diese dürften sich nicht auf die erste Phase der Schul- und Berufsbildung beschränken; vielmehr müsse jede Investitionsstrategie auch das lebenslange Lernen von Wissen und Fähigkeiten berücksichtigen, etwa die Weiterbildung am Arbeitsplatz.

Was die einzelnen Menschen von der beruflichen Weiterbildung erwarten, haben Wissenschaftler des BIBB in einer breit angelegten Untersuchung ermittelt ("Individuelle Kosten und individueller Nutzen beruflicher Weiterbildung" von Richard von Bardeleben, Ursula Beicht, Hermann Herget und Elisabeth M. Krekel, Bielefeld 1996). Demnach nehmen Privatpersonen den finanziellen und zeitlichen Aufwand generell nur dann auf sich, wenn er sich zum Beispiel karrierefördernd auswirkt; in den alten Bundesländern ist dabei die bessere berufliche Leistungsfähigkeit das wichtigste Motiv, in den neuen hingegen der Wunsch, überhaupt einen Arbeitsplatz zu finden (Bild 2).

Die Feststellung der OECD, daß an solchen Aktivitäten vor allem jene teilnehmen, die mit ihrer Erstausbildung bereits einen hohen Bildungsstandard erworben haben, entspricht den Erfahrungen in Deutschland: Knapp jeder dritte Absolvent einer Universität oder einer Fachhochschule, auch jeder vierte Meister oder Techniker, aber lediglich jeder Zwanzigste derer, die keinen Abschluß haben, nimmt an Weiterbildungsmaßnahmen teil.



Die Hochqualifizierten erhalten die beste Weiterbildung




Für Hochschulabsolventen kann die berufsbezogene wissenschaftliche Weiterbildung relativ komfortabel geregelt werden: Empfehlungen des Wissenschaftsrats vom November 1997 und die noch dieses Frühjahr zu verabschiedende Novelle zum Hochschulrahmengesetz schreiben sie als Kernaufgabe der Hochschulen fest. Die Weiterbildung hat hier also einen festen institutionellen Rückhalt, und sie ist mit der Ausbildung eng verzahnt. Für alle, die einen anderen Abschluß haben, ist – so die SPD in ihrer Anfrage – "die Verbindung von Aus- und Weiterbildung ... eher durch Brüche charakterisiert". Sie stehen einem vielgestaltigen Angebot gegenüber. Arbeitgeber und Betriebe haben mit 35 Prozent den größten Marktanteil, auf private Träger entfallen 19 und auf staatliche Institutionen 16 Prozent. Es folgen Verbände mit elf, Kammern mit neun, Kirchen mit zwei und Gewerkschaften mit einem Prozent; auf sonstige Träger entfallen sieben Prozent.

Angesichts der raschen Veränderungen in der Arbeitswelt spricht auch die Bundesregierung dem Aufbau eines "Systems kontinuierlicher Qualifikations- und Kompetenzentwicklung" zentrale Bedeutung zu. Die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung will sich jetzt dieses Themas annehmen. Um die Erstausbildung und die Weiterbildung wirksam miteinander verzahnen zu können – so die Absicht der Bundesregierung –, wären allerdings die einzelnen Ausbildungsphasen zu verkürzen. "Wir müssen unsere Ausbildungs- und Studiengänge in paßgerechte Module umwandeln, die aufeinander aufbauen und auch aufeinander aufgebaut werden können", sagte Bundespräsident Roman Herzog in seiner als Bildungsrede bekanntgewordenen Ansprache am 5. November 1997 in Berlin. Wegen der anhaltenden Tendenz, immer mehr Lerninhalte in den Schulunterricht, die Berufsausbildung und die Hochschulstudiengänge zu stopfen, ist dies allerdings eine sehr schwierige Aufgabe. Aber am noch immer anerkannten Ausbildungsstandort Deutschland sollte sie gelöst werden können. Dies kostet auch nichts – nur Phantasie und politische Energie.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1998, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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