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Terrestrische Ökosystemforschung



Die Landökosysteme Europas sind Teil des kontinentalen Kultur- und Naturerbes. Sie liefern Rohstoffe und Nahrungsmittel, sauberes Wasser und reine Luft, Energie und Erholungsmöglichkeiten. Ökosysteme bilden die natürliche Grundlage für das Überleben des Menschen. Doch intensive Landnutzung, Klimaveränderungen und Schadstoffe bedrohen diese existentielle Basis immer stärker. Es ist deshalb wichtigstes Ziel der Ökosystemforscher, die möglichen Folgen dieser Einflüsse zu bilanzieren. Sie schaffen so Anhaltspunkte für richtiges politisches Handeln. Die Diskussion über die Bedeutung der Biodiversität (biologische Vielfalt) hat in jüngster Zeit zusätzliche Impulse geliefert. Für die Wissenschaftler stellt sich immer dringlicher die Frage: Welches Ausmaß an biologischer Verarmung können Ökosysteme verkraften, ohne zusammenzubrechen? Die Europäische Union hat erkannt, welche Chance eine kombinierte Biodiversitäts- und Ökosystemforschung bietet und die Initiative zur Erforschung terrestrischer Ökosysteme, kurz TERI (Terrestrial Ecosystems Research Initiative) genannt, ins Leben gerufen. Hat sie Erfolg, können die Folgen menschlicher Einflüsse auf die Natur künftig besser vorhergesagt werden. Drei wichtige Forschungsbereiche wurden ausgewählt: So untersuchen die Wissenschaftler den Umsatz von Nährstoffen, Kohlenstoff und Wasser (einschließlich der Freisetzung von Spurengasen), die Bedeutung der Biodiversität für intakte Ökosysteme und die Einbindung der Ökosysteme in komplexe Kulturlandschaften. Die Fragen, welche die Wissenschaftler der 20 Forschergruppen beantworten wollen, sind vielfältig. Sie reichen vom Einfluß des Feuers auf mediterrane Ökosysteme bis hin zur Analyse alpiner und arktischer Lebensräume.

Die untersuchten Landflächen sind weit über Europa gestreut. Sie liegen auf Linien (Transekten), die alle wichtigen europäischen Klima- und Belastungszonen durchqueren. TERI durchbricht also nationale Grenzen, dadurch rückt eine weltweite Ökosystemforschung immer näher. Alle Vorhaben haben engen Kontakt zu weltweiten Programmen, in denen es um den Erhalt der natürlichen Ressourcen unseres Planeten geht.

Deutsche Wissenschaftler arbeiten in verschiedenen Forschergruppen von TERI. So beteiligt sich die Arbeitsgruppe Tierökologie der Justus-Liebig-Universität Gießen an drei Projekten: GLOBIS (Global Change and Biodiversity in Soils), DEGREE (Diversity Effects in Grassland Ecosystems of Europe) und CANIF (Carbon and Nitrogen Cycling in Forest Soils). Die Gießener Arbeitsgruppe konzentriert sich in allen genannten Projekten auf die Bodenökologie. Der Boden ist neben Wasser und Luft unsere wichtigste Ressource. Er steuert die Speicherung und die Reinhaltung des Grundwassers, regelt den Abbau der Streu und der Siedlungsabfälle und ist Lebensraum für unzählige Organismen. Sein Humuskörper ist ein gewaltiger Kohlenstoffspeicher und birgt ein noch völlig unerforschtes Potential an wirtschaftlich nutzbaren Naturstoffen.

Im Projekt GLOBIS untersuchen die Forscher, wie sich globale (Klima-)Veränderungen auf die Biodiversität im Boden und damit auf die Funktion von Ökosystemen auswirken. Moderne mikrobiologische und zoologische Methoden kommen hierbei zum Einsatz. Wie bisherige Untersuchungen zeigen, ist die Lebensgemeinschaft des Bodens überraschend artenreich. Einige der Organismen reagieren sehr empfindlich auf menschliche Einflüsse. Sie würden Klimaveränderungen, wie sie Experten für das nächste Jahrhundert vorhersagen, nicht überleben. Ob hierdurch auch wichtige Prozeßabläufe gestört werden, ist heute noch nicht absehbar. Die durchgeführten Feldexperimente lassen aber vermuten, daß sich der Verlust bestimmter Arten erheblich auf die Qualität und Menge der organischen Substanz im Boden und auf die Nährstoffversorgung der Pflanzen auswirken wird. Dies wiederum hätte enormen Einfluß auf die Land- und Forstwirtschaft.

Lassen sich Bodenorganismen für die Vorhersage von Umweltveränderungen nutzen? Dies ist die zentrale Frage von DEGREE. Fadenwürmer (Nematoden), Mikroflora und Stickstoffumsätze in wichtigen europäischen Grünlandökosystemen stehen im Mittelpunkt des Interesses. Der Ökologe Tom Bongers von der Landwirtschaftlichen Hochschule Wageningen (Niederlande) bezeichnet die eng an den Wasserfilm der Bodenpartikel gebundenen Nematoden als die Blutzellen des Ökosystems. Man könne an ihnen den Gesundheitszustand des Bodens erkennen – wie ein Arzt an einer Blutprobe die Diagnose für einen Patienten erstellt. DEGREE versucht, diese Aussage mit molekularbiologischen Methoden zu stützen. So wurde mittels der Polymerase-Kettenreaktion (PCR-Methode) erstmals die genetische Diversität der Nematodengemeinschaften ganzer Ökosysteme charakterisiert. Die Ergebnisse zeigen, daß Nematoden tatsächlich sehr sensitiv auf Umwelteinflüsse reagieren. Sollten sich die ersten Befunde bestätigen, erhalten Schädlingsforscher und Bodensanierer völlig neue Diagnosemöglichkeiten.

Die im Verborgenen lebenden Organismen des Bodens lassen sich jedoch nur beobachten, wenn man ihren Lebensraum völlig zerstört. Es ist ein großes Dilemma der Bodenbiologie, daß so der Beitrag der Bodenorganismen zu den Stoffumsätzen in Ökosystemen nicht direkt gemessen werden kann. Hier soll die Gießener Arbeitsgruppe des Projekts CANIF durch die computergestützte Analyse der Kohlenstoff- und Stickstoffflüsse im Boden von Waldökosystemen neue Lösungen finden. Die beiden Wissenschaftler Peter de Ruiter von der Universität Utrecht (Niederlande) und John Moore von der Universität Greeley, Colorado (USA), haben ein Computermodell entwickelt, das auf der Analyse des Nahrungsnetzes im Boden basiert. Kennt man die wichtigsten Organismengruppen des Bodens, ihre Produktions- und Fraßleistung sowie die wesentlichen Nahrungsbeziehungen, lassen sich die Stoffumsätze am Bildschirm modellieren. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, daß die Meßdaten aller an diesem Projekt beteiligten Arbeitsgruppen gut mit dem bodenökologischen Modell übereinstimmen. Schon bald soll die Analyse entlang eines europäischen Transektes den menschlichen Einfluß auf die verschiedenen Lebensgemeinschaften im Boden großflächig aufzeigen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1999, Seite 935
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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