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The Structure of Evolutionary Theory

Harvard University Press, Cambridge(Massachusetts) 2002. 1433 Seiten, $ 39,95


Mit seinem letzten, schwergewichtigen Werk hat uns der kürzlich verstorbene Harvard-Professor und streitbare Autor Stephen Jay Gould ein sehr eigenwilliges Vermächtnis hinterlassen. Denn er präsentiert hier nicht etwa "die" Evolutionstheorie, sondern seine eigene, postdarwinistisch erweiterte Fassung derselben. Erweitert, indem er erstens die Weitergabe von Information als eigentliche Basis der Evolution leugnet und zweitens Konkurrenz um Ressourcen als wesentliches Element der natürlichen Selektion beiseite lässt. Das geschieht beiläufig irgendwo im Text und ist eingebettet in unterhaltsames bis detailbesessenes Rekapitulieren fremder wie eigener Denkwege. Ich greife diese beiden mir wichtigen Punkte heraus.

Gould musste wissen, dass biologische Information in Genen kodiert ist und in Kopien der Gene weitergegeben wird. Entscheidend ist die Information, nicht das Material. Dennoch besteht Gould auf "material continuity throughout": Selbst wenn es gelänge, ein Lebewesen aus seinen Nukleotid-Sequenzen als Rohbausteinen zu synthetisieren und sich dieses in nichts von seinem natürlich erzeugten Vorbild unterschiede, dürfe man es nicht als Mitglied derselben Art ansehen. Er sagt weder, wie das bei Unkenntnis des Herstellungsweges zu vermeiden wäre, noch, welche andere Basis als die Information er denn für seine Evolutionstheorie in Anspruch nimmt.

Gould weiß, dass die genetische Information Programme für Bau und Reaktionsweisen der Organismen liefert, dass das Individuum als Inkarnation der genetischen Information mit der Umwelt interagiert und dass die positiven und negativen Folgen dieser Interaktion darüber entscheiden, ob und wie oft seine Gene vervielfältigt werden. Das anerkennt er ausdrücklich als Selektion. Aber Gould ist Paläontologe, sieht Fossilreihen in datierten Schichten und findet Arten, die Millionen von Jahren unverändert bleiben, bis in einem Faunenbruch plötzlich die meisten verschwinden und nur we-nige verbleibende zu einem Evolutionsschub beitragen. Die sprunghaften Änderungen will Gould mit Selektion auf höherer Ebene, von Populationen, Arten oder noch höheren taxonomischen Einheiten, erklären. Dabei bewertet er eine Einheit als umso erfolgreicher, je mehr Untereinheiten aus ihr hervorgehen. Der beste Beleg für Art-Selektion sei die Tatsache, dass verschiedene Arten sich mit unterschiedlichen Raten aufspalten. Heute gibt es vom Schimpansen zwei Arten, vom Menschen aber nur eine. Demnach wäre der Schimpanse evolutionär erfolgreicher als der Mensch?

Darüber, wie Selektion auf Art-Ebene wirken kann, ohne an Merkmalen der Individuen anzusetzen, hat Gould während seiner ganzen Karriere am meisten nachgedacht; zuletzt anhand von Eigenschaften, die als "Emergenz" erst auf überindividueller Ebene auftreten, wie die Merkmalsvarianz. In seinem konstruierten Beispiel lässt er in einem verfaulenden Tümpel eine Fischart aussterben, deren Vertreter allesamt sauerstoffreiches Wasser brauchen, während von einem anderen Fisch mit größerer Kiemenfunktion-Varianz einige Individuen (!) überleben, die auch in schlechtem Wasser noch atmen können; ihre Nachkommen füllen später den wieder wohl belüfteten Tümpel.

Nach Gould hat die Selektion die große interindividuelle Varianz der Kiemenfunktion belohnt. Aber: Viele Individuen sterben auch hier, und die Überlebenden verkörpern nur einen schmalen Ausschnitt der Varianz; vererben sie nur den an ihre Nachkommen, dann hat die Selektion genau das Merkmal zerstört, das sie angeblich belohnt hat.

Vor allem aber: Art-Selektion spielt sich stets, wie schon ihr Erfinder Hugo de Vries 1905 betonte, zwischen Arten ein und derselben systematischen Einheit ab. Deswegen hat auch Gould zwei nahe verwandte Fischarten und nicht etwa Fisch gegen Wurm oder Krebs konkurrieren lassen. Er verschleiert mit vielen Worten, dass es in diesem Fall eben doch nur die relativ wenigen unterschiedlichen Gene sind, an denen die Selektion ansetzt, und nicht grundsätzlich verschiedene Systeme.

Und schließlich: Oft entscheidet die unbelebte Umwelt über die weitere Evolution einer taxonomischen Einheit. Man mag auch das Selektion nennen und muss dann jede Einheit für sich betrachten. Nach Darwins Konzept beruht die natürliche Selektion jedoch auf einer Konkurrenz um gemeinsam genutzte Ressourcen, bei dem ein Konkurrent seinen relativen Vorteil auf Kosten eines anderen erreicht. Der gemeinsame Tümpel in Goulds Beispiel erweckt zwar den Anschein von Konkurrenz, doch jede Art kämpft allein um ihr Dasein. Sauerstoffgehalt hat eher die Eigenschaften einer Temperatur als einer Nahrung: Er kann zwar lebensgefährlich niedrig sein, aber man kann ihn den anderen Individuen nicht wegfressen. Die angeblich konkurrierenden Arten aus Goulds Beispiel könnten ebenso gut in Tümpeln auf verschiedenen Kontinenten leben.

Sein zweites Beispiel, in der die Populationsstruktur das emergente Merkmal ist, kann ebenfalls nicht überzeugen. Einigen brutpflegenden Meeresschnecken erlaubt angeblich die Abgrenzung örtlich isolierter Populationen eine höhere Artbildungsrate als den nicht-brutpflegenden Arten mit planktontischen Larven. Aber Brutpflege ist ein Merkmal des Individuums. Wieder ist von Konkurrenz keine Rede; es geht nur um die Anzahl registrierbarer Zweig-Arten wie in einer Reproduktions-Olympiade.

Eine beherzigenswerte Erweiterung der Evolutionstheorie habe ich in dem Buch nicht gefunden.

Immerhin: Ein unbezweifeltes Verdienst Goulds ist seine strikte Unterscheidung zwischen
- selektionsverursachter Anpassung (Adaptation),
- epiphänomenaler Passung (Zweckentfremdung, Exaptation), das heißt, dass ein bereits auf einen bestimmten Zweck adaptiertes Merkmal einem neuen Zweck dienstbar gemacht wird, und
- zufälliger, Bauplan-inhärenter Eignung. Typisches Beispiel sind die sekundären Pflanzenstoffe: Abfallprodukte des Stoffwechsels, mit denen die Pflanze zunächst nichts anfangen kann, die ihr aber nützen, weil sie für Fressfeinde giftig sind. Gould nennt sie "spandrel" ("Spandrille", Bogenzwickel) nach einer Gewölbefläche im Markus-Dom in Venedig, die angeblich bautechnisch notwendig, aber obendrein zum Ausmalen mit einem ganz bestimmten Bild-Typ geeignet ist. Allerdings heißt solche Gewölbefläche architektonisch Hänge- oder Strebebogen (pendentive); und es gibt dazu eine bautechnische Alternative, den Stützbogen (squinch). Der aber lässt sich nicht so schön ausmalen. Also ist das pendentive eine Anpassung, aber Gould nennt sie spandrel -und meint damit eine Nicht-Anpassung. Alles klar?

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2002, Seite 102
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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